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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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August Loute und der Positivismus

überzeugt sein, daß der Tod der tüchtigsten Landwirte, Techniker, industriellen
Unternehmer und Arbeiter eine schwere Schädigung des Landes sein, der Tod
der hervorragendsten Militärs, Bureaukraten und Juristen entweder gar nicht
oder als Wohlthat gespürt werden würde, mag diesen herrschenden Mächten
auf der einen Seite eine Friedensbewegung, ans der andern eine weitverbreitete
Agitation für Laiengerichte zu Leibe gehen, all das vermag sie nicht ernstlich
zu erschüttern, ein so zähes Leben haben sie, und so tief wurzeln sie in den
Verhältnissen. Der Militarismus ist nie vordem so mächtig gewesen wie
heute, weil uoch niemals die Erde so eng und klein gewesen ist, und Volk
gegen Volk, Stand gegen Stand seinen Anteil daran nur mit Waffengewalt
behaupten zu können glaubt; und die Juristen sind mächtiger als je vordem,
weil die Verhältnisse immer verwickelter und die Gesetze immer zahlreicher
werden, sodaß Fachgelehrsamkeit zur Rechtsfindung unbedingt erforderlich zu
sein scheint. Den Posttivisten erscheint dieser Zustand als ein Rückschritt, der
eigentlich nicht sein sollte. Die Ansicht der englischen Posttivisten darüber
stellt Schultze-Güvernitz folgendermaßen dar. Den Gebildeten ist sowohl der
religiöse Glaube des Christentums wie der Glaube an die göttliche Einsetzung
der Obrigkeit geschwunden, aber weil sie von der Verbreitung ihres Unglaubens
den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung befürchten, so verteidigen sie
gegen ihre eigne Überzeugung die geistliche wie die bürgerliche Autorität. Auch
der Parlamentarismus ist (in England) nur Schein; er hat den Zweck, das
Volk mit der Einbildung einzuschläfern, daß es regiere, und daß England eine
Demokratie sei, während es in Wirklichkeit eine Plutokratie ist. Die Aus¬
dehnung des Wahlrechts habe daran seit der Zeit, wo Carlyle den Par¬
lamentarismus verspottete, gar nichts geändert, denn die untersten Schichten
des Arbeiterstandes seien weit leichter zu beeinflussen als die obern, die
denkenden und bessergestellten, wie ja auch z. B. die Lazzaroni die beste Stütze
des Bourbonenregimeuts gebildet hätten. Ms Deutschland, wo sich ein großer
Teil der Arbeiterschaft nicht mehr von den herrschenden Klassen einfangen läßt,
sondern als sozialdemokratische Arbeiterpartei zusammenhält, trifft das nicht
mehr ganz zu.j Was den heutigen Militarismus anlangt, so habe er mit dem
ältern nur das Aussehen gemeinsam. "Die Mittelklassen des westlichen Europas
glauben nicht mehr an die auf göttlicher Einsetzung beruhende Autorität des
Stammesoberhauptes oder Königs. Wenn sie die militärische Form annahmen,
wenn sie das ihnen schwerfallende Opfer brachten, auf Herstellung der Par¬
lamentsherrschaft zeitweilig zu verzichten zu Gunsten persönlichen Regiments,
so lag der Grund in ihrer Selbstsucht, ihrer Habgier und gegenseitigen Eifer¬
sucht. Aus diesem Grunde schlössen sie den innerlich unwahren Kompromiß
mit den Resten der alten königlichen Gewalt. Um sich gegenseitig zu be¬
berauben, ballten sie sich zu jenen kriegerischen Großstaaten zusammen, die, wie
Harrison sagt, nur in einer Atmosphäre von Krieg leben können, unvermeidlich


August Loute und der Positivismus

überzeugt sein, daß der Tod der tüchtigsten Landwirte, Techniker, industriellen
Unternehmer und Arbeiter eine schwere Schädigung des Landes sein, der Tod
der hervorragendsten Militärs, Bureaukraten und Juristen entweder gar nicht
oder als Wohlthat gespürt werden würde, mag diesen herrschenden Mächten
auf der einen Seite eine Friedensbewegung, ans der andern eine weitverbreitete
Agitation für Laiengerichte zu Leibe gehen, all das vermag sie nicht ernstlich
zu erschüttern, ein so zähes Leben haben sie, und so tief wurzeln sie in den
Verhältnissen. Der Militarismus ist nie vordem so mächtig gewesen wie
heute, weil uoch niemals die Erde so eng und klein gewesen ist, und Volk
gegen Volk, Stand gegen Stand seinen Anteil daran nur mit Waffengewalt
behaupten zu können glaubt; und die Juristen sind mächtiger als je vordem,
weil die Verhältnisse immer verwickelter und die Gesetze immer zahlreicher
werden, sodaß Fachgelehrsamkeit zur Rechtsfindung unbedingt erforderlich zu
sein scheint. Den Posttivisten erscheint dieser Zustand als ein Rückschritt, der
eigentlich nicht sein sollte. Die Ansicht der englischen Posttivisten darüber
stellt Schultze-Güvernitz folgendermaßen dar. Den Gebildeten ist sowohl der
religiöse Glaube des Christentums wie der Glaube an die göttliche Einsetzung
der Obrigkeit geschwunden, aber weil sie von der Verbreitung ihres Unglaubens
den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung befürchten, so verteidigen sie
gegen ihre eigne Überzeugung die geistliche wie die bürgerliche Autorität. Auch
der Parlamentarismus ist (in England) nur Schein; er hat den Zweck, das
Volk mit der Einbildung einzuschläfern, daß es regiere, und daß England eine
Demokratie sei, während es in Wirklichkeit eine Plutokratie ist. Die Aus¬
dehnung des Wahlrechts habe daran seit der Zeit, wo Carlyle den Par¬
lamentarismus verspottete, gar nichts geändert, denn die untersten Schichten
des Arbeiterstandes seien weit leichter zu beeinflussen als die obern, die
denkenden und bessergestellten, wie ja auch z. B. die Lazzaroni die beste Stütze
des Bourbonenregimeuts gebildet hätten. Ms Deutschland, wo sich ein großer
Teil der Arbeiterschaft nicht mehr von den herrschenden Klassen einfangen läßt,
sondern als sozialdemokratische Arbeiterpartei zusammenhält, trifft das nicht
mehr ganz zu.j Was den heutigen Militarismus anlangt, so habe er mit dem
ältern nur das Aussehen gemeinsam. „Die Mittelklassen des westlichen Europas
glauben nicht mehr an die auf göttlicher Einsetzung beruhende Autorität des
Stammesoberhauptes oder Königs. Wenn sie die militärische Form annahmen,
wenn sie das ihnen schwerfallende Opfer brachten, auf Herstellung der Par¬
lamentsherrschaft zeitweilig zu verzichten zu Gunsten persönlichen Regiments,
so lag der Grund in ihrer Selbstsucht, ihrer Habgier und gegenseitigen Eifer¬
sucht. Aus diesem Grunde schlössen sie den innerlich unwahren Kompromiß
mit den Resten der alten königlichen Gewalt. Um sich gegenseitig zu be¬
berauben, ballten sie sich zu jenen kriegerischen Großstaaten zusammen, die, wie
Harrison sagt, nur in einer Atmosphäre von Krieg leben können, unvermeidlich


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[0123] August Loute und der Positivismus überzeugt sein, daß der Tod der tüchtigsten Landwirte, Techniker, industriellen Unternehmer und Arbeiter eine schwere Schädigung des Landes sein, der Tod der hervorragendsten Militärs, Bureaukraten und Juristen entweder gar nicht oder als Wohlthat gespürt werden würde, mag diesen herrschenden Mächten auf der einen Seite eine Friedensbewegung, ans der andern eine weitverbreitete Agitation für Laiengerichte zu Leibe gehen, all das vermag sie nicht ernstlich zu erschüttern, ein so zähes Leben haben sie, und so tief wurzeln sie in den Verhältnissen. Der Militarismus ist nie vordem so mächtig gewesen wie heute, weil uoch niemals die Erde so eng und klein gewesen ist, und Volk gegen Volk, Stand gegen Stand seinen Anteil daran nur mit Waffengewalt behaupten zu können glaubt; und die Juristen sind mächtiger als je vordem, weil die Verhältnisse immer verwickelter und die Gesetze immer zahlreicher werden, sodaß Fachgelehrsamkeit zur Rechtsfindung unbedingt erforderlich zu sein scheint. Den Posttivisten erscheint dieser Zustand als ein Rückschritt, der eigentlich nicht sein sollte. Die Ansicht der englischen Posttivisten darüber stellt Schultze-Güvernitz folgendermaßen dar. Den Gebildeten ist sowohl der religiöse Glaube des Christentums wie der Glaube an die göttliche Einsetzung der Obrigkeit geschwunden, aber weil sie von der Verbreitung ihres Unglaubens den Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung befürchten, so verteidigen sie gegen ihre eigne Überzeugung die geistliche wie die bürgerliche Autorität. Auch der Parlamentarismus ist (in England) nur Schein; er hat den Zweck, das Volk mit der Einbildung einzuschläfern, daß es regiere, und daß England eine Demokratie sei, während es in Wirklichkeit eine Plutokratie ist. Die Aus¬ dehnung des Wahlrechts habe daran seit der Zeit, wo Carlyle den Par¬ lamentarismus verspottete, gar nichts geändert, denn die untersten Schichten des Arbeiterstandes seien weit leichter zu beeinflussen als die obern, die denkenden und bessergestellten, wie ja auch z. B. die Lazzaroni die beste Stütze des Bourbonenregimeuts gebildet hätten. Ms Deutschland, wo sich ein großer Teil der Arbeiterschaft nicht mehr von den herrschenden Klassen einfangen läßt, sondern als sozialdemokratische Arbeiterpartei zusammenhält, trifft das nicht mehr ganz zu.j Was den heutigen Militarismus anlangt, so habe er mit dem ältern nur das Aussehen gemeinsam. „Die Mittelklassen des westlichen Europas glauben nicht mehr an die auf göttlicher Einsetzung beruhende Autorität des Stammesoberhauptes oder Königs. Wenn sie die militärische Form annahmen, wenn sie das ihnen schwerfallende Opfer brachten, auf Herstellung der Par¬ lamentsherrschaft zeitweilig zu verzichten zu Gunsten persönlichen Regiments, so lag der Grund in ihrer Selbstsucht, ihrer Habgier und gegenseitigen Eifer¬ sucht. Aus diesem Grunde schlössen sie den innerlich unwahren Kompromiß mit den Resten der alten königlichen Gewalt. Um sich gegenseitig zu be¬ berauben, ballten sie sich zu jenen kriegerischen Großstaaten zusammen, die, wie Harrison sagt, nur in einer Atmosphäre von Krieg leben können, unvermeidlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/123>, abgerufen am 26.05.2024.