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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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August "Loute und der Positivismus

unumschränkten Freiheit der Meinungsäußerung, die vorausgesetzt wird, und
bei ihrem hohen Bildungsstande die allergrößte Macht bilden. In Vereinen
organisirt, wird die Arbeiterschaft die getreue Bundesgenossin der großen
geistigen Macht sein, der internationalen Körperschaft der Gelehrten (den Ge¬
danken der Gelehrtenrepublik hat, wenn wir nicht irren, zuerst Fichte aus¬
gesprochen), was hinreichen wird, etwaigen Übergriffen der "industriellen
Hierarchie" vorzubeugen. Den sittlichen Zustand herbeizuführen, den diese neue
Ordnung als Grundlage voraussetzt, ist der Einfluß der Frau erforderlich.
Die Positivistea sind demnach sür Frauenemanzipation, aber in einem ganz
andern Sinne als die Sozialdemokraten; denn sie fordern die Beschränkung
des Verkehrs der Geschlechter auf die heilig zu haltende Ehe und wollen, daß
die Frau, von aller Nötigung zur Erwerbsarbeit befreit, uur in der Häuslichkeit
thätig sei.

Die schwächste der in Comtes Geschichtskvnstruktion vorkommenden Mächte
ist die Metaphysik. Die Philosophen haben niemals viel zu sagen gehabt,
und unsre respektlose Gegenwart steht im Begriff, ihnen auch noch vollends
den Respekt aufzukündigen, den ihnen frühere Geschlechter gewidmet haben in
der kindlich bescheidnen Meinung, was kein gewöhnlicher Mensch versteht, das
müsse etwas sehr erhabnes sein. Die Beschränkung der Geistesthätigkeit auf
den Erwerb positiven Wissens entspricht heutzutage jedermanns Meinung und
Neigung, und darin stimmen die einander hassenden Klassen und Parteien
überein. Man wird auch vielleicht ganz allgemein vom Positivismus zum
Agnostizismus fortschreiten und mit Herbert Spencer, auf allen Selbstbetrug
durch großartige Worte verzichtend, offen eingestehen, daß wir vom Anfang
und Ende der Dinge nichts wissen können, daß wir überhaupt nichts wissen
können, als was wir durch Erfahrung inne werden, daß wir uns an die Er¬
scheinung zu halten und nicht über das zu grübeln haben, was etwa dahinter
stecken mag, es sei denn zum Zweck einer wissenschaftlichen Hypothese, wie
wenn wir Atome annehmen, um mit Atomgewichten rechnen zu können, oder
eine Seelenmonas annehmen, weil wir die psychischen Erscheinungen doch
irgendwo unterbringen müssen. Auch Herbart hat im Grunde genommen unter
Metaphysik nichts andres mehr verstanden als die Methodik der wissenschaft¬
lichen Hypothesenkonstruktion, die notwendig sei, um zwischen den durch Er¬
fahrung gewonnenen Vorstellungen den logischen Zusammenhang herzustellen
und unsre Erfahrungserkemitnisse zu bereichern; ist es doch auch bekannt, welche
glänzenden Erfolge die Astronomie, die Physik und die Chemie mit Hilfe der
methodischen Verwendung von Hypothesen erzielt haben. Der Positivismus
ist also als Philosophie nichts andres als die wiederauflebeude Lehre Kants,
die ihrer Zeit über einen engen Kreis von Gelehrten nicht hinaufdringen
konnte, weil sie in einer unverstündlicheu Sprache und in überflüssiges schola¬
stisches Beiwerk gehüllt verkündigt wurde. Ganz kurz hat Goethe -- ohne


August «Loute und der Positivismus

unumschränkten Freiheit der Meinungsäußerung, die vorausgesetzt wird, und
bei ihrem hohen Bildungsstande die allergrößte Macht bilden. In Vereinen
organisirt, wird die Arbeiterschaft die getreue Bundesgenossin der großen
geistigen Macht sein, der internationalen Körperschaft der Gelehrten (den Ge¬
danken der Gelehrtenrepublik hat, wenn wir nicht irren, zuerst Fichte aus¬
gesprochen), was hinreichen wird, etwaigen Übergriffen der „industriellen
Hierarchie" vorzubeugen. Den sittlichen Zustand herbeizuführen, den diese neue
Ordnung als Grundlage voraussetzt, ist der Einfluß der Frau erforderlich.
Die Positivistea sind demnach sür Frauenemanzipation, aber in einem ganz
andern Sinne als die Sozialdemokraten; denn sie fordern die Beschränkung
des Verkehrs der Geschlechter auf die heilig zu haltende Ehe und wollen, daß
die Frau, von aller Nötigung zur Erwerbsarbeit befreit, uur in der Häuslichkeit
thätig sei.

Die schwächste der in Comtes Geschichtskvnstruktion vorkommenden Mächte
ist die Metaphysik. Die Philosophen haben niemals viel zu sagen gehabt,
und unsre respektlose Gegenwart steht im Begriff, ihnen auch noch vollends
den Respekt aufzukündigen, den ihnen frühere Geschlechter gewidmet haben in
der kindlich bescheidnen Meinung, was kein gewöhnlicher Mensch versteht, das
müsse etwas sehr erhabnes sein. Die Beschränkung der Geistesthätigkeit auf
den Erwerb positiven Wissens entspricht heutzutage jedermanns Meinung und
Neigung, und darin stimmen die einander hassenden Klassen und Parteien
überein. Man wird auch vielleicht ganz allgemein vom Positivismus zum
Agnostizismus fortschreiten und mit Herbert Spencer, auf allen Selbstbetrug
durch großartige Worte verzichtend, offen eingestehen, daß wir vom Anfang
und Ende der Dinge nichts wissen können, daß wir überhaupt nichts wissen
können, als was wir durch Erfahrung inne werden, daß wir uns an die Er¬
scheinung zu halten und nicht über das zu grübeln haben, was etwa dahinter
stecken mag, es sei denn zum Zweck einer wissenschaftlichen Hypothese, wie
wenn wir Atome annehmen, um mit Atomgewichten rechnen zu können, oder
eine Seelenmonas annehmen, weil wir die psychischen Erscheinungen doch
irgendwo unterbringen müssen. Auch Herbart hat im Grunde genommen unter
Metaphysik nichts andres mehr verstanden als die Methodik der wissenschaft¬
lichen Hypothesenkonstruktion, die notwendig sei, um zwischen den durch Er¬
fahrung gewonnenen Vorstellungen den logischen Zusammenhang herzustellen
und unsre Erfahrungserkemitnisse zu bereichern; ist es doch auch bekannt, welche
glänzenden Erfolge die Astronomie, die Physik und die Chemie mit Hilfe der
methodischen Verwendung von Hypothesen erzielt haben. Der Positivismus
ist also als Philosophie nichts andres als die wiederauflebeude Lehre Kants,
die ihrer Zeit über einen engen Kreis von Gelehrten nicht hinaufdringen
konnte, weil sie in einer unverstündlicheu Sprache und in überflüssiges schola¬
stisches Beiwerk gehüllt verkündigt wurde. Ganz kurz hat Goethe — ohne


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[0125] August «Loute und der Positivismus unumschränkten Freiheit der Meinungsäußerung, die vorausgesetzt wird, und bei ihrem hohen Bildungsstande die allergrößte Macht bilden. In Vereinen organisirt, wird die Arbeiterschaft die getreue Bundesgenossin der großen geistigen Macht sein, der internationalen Körperschaft der Gelehrten (den Ge¬ danken der Gelehrtenrepublik hat, wenn wir nicht irren, zuerst Fichte aus¬ gesprochen), was hinreichen wird, etwaigen Übergriffen der „industriellen Hierarchie" vorzubeugen. Den sittlichen Zustand herbeizuführen, den diese neue Ordnung als Grundlage voraussetzt, ist der Einfluß der Frau erforderlich. Die Positivistea sind demnach sür Frauenemanzipation, aber in einem ganz andern Sinne als die Sozialdemokraten; denn sie fordern die Beschränkung des Verkehrs der Geschlechter auf die heilig zu haltende Ehe und wollen, daß die Frau, von aller Nötigung zur Erwerbsarbeit befreit, uur in der Häuslichkeit thätig sei. Die schwächste der in Comtes Geschichtskvnstruktion vorkommenden Mächte ist die Metaphysik. Die Philosophen haben niemals viel zu sagen gehabt, und unsre respektlose Gegenwart steht im Begriff, ihnen auch noch vollends den Respekt aufzukündigen, den ihnen frühere Geschlechter gewidmet haben in der kindlich bescheidnen Meinung, was kein gewöhnlicher Mensch versteht, das müsse etwas sehr erhabnes sein. Die Beschränkung der Geistesthätigkeit auf den Erwerb positiven Wissens entspricht heutzutage jedermanns Meinung und Neigung, und darin stimmen die einander hassenden Klassen und Parteien überein. Man wird auch vielleicht ganz allgemein vom Positivismus zum Agnostizismus fortschreiten und mit Herbert Spencer, auf allen Selbstbetrug durch großartige Worte verzichtend, offen eingestehen, daß wir vom Anfang und Ende der Dinge nichts wissen können, daß wir überhaupt nichts wissen können, als was wir durch Erfahrung inne werden, daß wir uns an die Er¬ scheinung zu halten und nicht über das zu grübeln haben, was etwa dahinter stecken mag, es sei denn zum Zweck einer wissenschaftlichen Hypothese, wie wenn wir Atome annehmen, um mit Atomgewichten rechnen zu können, oder eine Seelenmonas annehmen, weil wir die psychischen Erscheinungen doch irgendwo unterbringen müssen. Auch Herbart hat im Grunde genommen unter Metaphysik nichts andres mehr verstanden als die Methodik der wissenschaft¬ lichen Hypothesenkonstruktion, die notwendig sei, um zwischen den durch Er¬ fahrung gewonnenen Vorstellungen den logischen Zusammenhang herzustellen und unsre Erfahrungserkemitnisse zu bereichern; ist es doch auch bekannt, welche glänzenden Erfolge die Astronomie, die Physik und die Chemie mit Hilfe der methodischen Verwendung von Hypothesen erzielt haben. Der Positivismus ist also als Philosophie nichts andres als die wiederauflebeude Lehre Kants, die ihrer Zeit über einen engen Kreis von Gelehrten nicht hinaufdringen konnte, weil sie in einer unverstündlicheu Sprache und in überflüssiges schola¬ stisches Beiwerk gehüllt verkündigt wurde. Ganz kurz hat Goethe — ohne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/125>, abgerufen am 26.05.2024.