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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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August "Loute und der Positivismus

an Comte zu denken -- den Inhalt dieser modernen Philosophie, die eben auch
seine Philosophie war, ausgedrückt, wenn er sagt, der Mensch sei in die Welt
gesetzt, nicht um über sie zu grübeln, sondern um in ihr zu wirken.

Die dritte der Grundideen Comtes ist die, daß der Positivismus nicht
eine bloße Lehre, nicht bloß Ersatz der alten Religionen, sondern selbst Religion
sei, die Religion der Liebe, des Lebens in den andern und für die andern,
des Altruismus, wie er es nennt. Die Religion bringe das Denken mit dem
Fühlen und die Menschen unter einander in Übereinstimmung und werde hier¬
durch die Wurzel einträchtigen Handelns, schöpferischer Thätigkeit. Demnach
wirkten alle religiösen Zeitalter -- hier ist Comte wieder ganz Carlyle --
aufbauend und schöpferisch, während die glaubenslosen nichts konnten als zer¬
stören und niederreißen. Das Elend der Gegenwart bestehe darin, daß die
Glaubenssätze, die ehemals den Menschen die Kraft der Aufopferung verliehen
hätten, heute nicht mehr vor der Vernunft bestehen könnten, und daß hierdurch
die Selbstsucht entfesselt worden sei. Der Positivismus bringe nun Abhilfe;
indem er den Menschen als Glied des großen Menschheitsorganismus, als
Glied der Gesellschaft begreifen lehre, gebe er der Menschheit die Kraft der
Selbstaufopferung, der Hingebung ans große Ganze zurück. Das ist nun der
Punkt, von wo aus sich Comte in seinen spätern Jahren ins Märchenland
der Utopisten und Mystiker verirrt hat, wohin wir ihm nicht folgen. Es ist
unbestreitbar, daß er und Carlyle*) zusammen mit ihrer Predigt der ent¬
sagenden Liebe und strenger Pflichterfüllung, die sie der wilden Selbstsucht
des herrschenden Mammonismus entgegenhielten, tiefen Eindruck gemacht und
einen Umschwung zu Wege gebracht haben, der heute noch vorhält, wobei
jedoch nicht übersehen werden darf, daß sie tauben Ohren gepredigt haben
würden, wenn die herrschenden Klaffen nicht gleichzeitig durch die in den Ar¬
beitervierteln der Fabrikstüdte entstehenden Seuchen, durch eine Verkümmerung
der Bevölkerung, die anfing die Rekrutirung für die Marine zu erschweren,
und durch die Brandfackeln der empörten Arbeiter gewaltsam aufgerüttelt und
von der UnHaltbarkeit des bestehenden Zustandes überzeugt worden wären.
Also die praktische Heilsamkeit der Altruismuspredigt steht außer Frage, ihre
theoretische Richtigkeit aber können wir nicht zugeben. Weder ist der Inhalt



*) Carlyle dem deutschen Publikum zugänglicher zu machen -- er will freilich mit kritischer
Besonnenheit gelesen sein -- wird jetzt von verschiednen Seiten gearbeitet. So erscheinen bei
Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen die sozialpolitischen Schriften von Thomas
Carlyle, übersetzt von E. Pfnnnkuche, mit einer (sehr guten) Einleitung und Anmerkungen
herausgegeben von Dr. P, Hensel, Privatdozenten in Straßburg i. E. Der erste Band (18!>I>)
enthält die Schrift über den Chartismus, die Negerfrage und: den Niagara hinunter, der zweite
(>8N>) die Charakteristik unsrer Zeit und die I^teor of? ?ii.mxlüsts. Zu empfehlen ist auch
das in demselben Verlag 1M5 erschienene Büchlein Thomas Carlyle. Ein Gedenkblatt zur
hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages. Von Christian Rogge, Divisionspfarrer.
August «Loute und der Positivismus

an Comte zu denken — den Inhalt dieser modernen Philosophie, die eben auch
seine Philosophie war, ausgedrückt, wenn er sagt, der Mensch sei in die Welt
gesetzt, nicht um über sie zu grübeln, sondern um in ihr zu wirken.

Die dritte der Grundideen Comtes ist die, daß der Positivismus nicht
eine bloße Lehre, nicht bloß Ersatz der alten Religionen, sondern selbst Religion
sei, die Religion der Liebe, des Lebens in den andern und für die andern,
des Altruismus, wie er es nennt. Die Religion bringe das Denken mit dem
Fühlen und die Menschen unter einander in Übereinstimmung und werde hier¬
durch die Wurzel einträchtigen Handelns, schöpferischer Thätigkeit. Demnach
wirkten alle religiösen Zeitalter — hier ist Comte wieder ganz Carlyle —
aufbauend und schöpferisch, während die glaubenslosen nichts konnten als zer¬
stören und niederreißen. Das Elend der Gegenwart bestehe darin, daß die
Glaubenssätze, die ehemals den Menschen die Kraft der Aufopferung verliehen
hätten, heute nicht mehr vor der Vernunft bestehen könnten, und daß hierdurch
die Selbstsucht entfesselt worden sei. Der Positivismus bringe nun Abhilfe;
indem er den Menschen als Glied des großen Menschheitsorganismus, als
Glied der Gesellschaft begreifen lehre, gebe er der Menschheit die Kraft der
Selbstaufopferung, der Hingebung ans große Ganze zurück. Das ist nun der
Punkt, von wo aus sich Comte in seinen spätern Jahren ins Märchenland
der Utopisten und Mystiker verirrt hat, wohin wir ihm nicht folgen. Es ist
unbestreitbar, daß er und Carlyle*) zusammen mit ihrer Predigt der ent¬
sagenden Liebe und strenger Pflichterfüllung, die sie der wilden Selbstsucht
des herrschenden Mammonismus entgegenhielten, tiefen Eindruck gemacht und
einen Umschwung zu Wege gebracht haben, der heute noch vorhält, wobei
jedoch nicht übersehen werden darf, daß sie tauben Ohren gepredigt haben
würden, wenn die herrschenden Klaffen nicht gleichzeitig durch die in den Ar¬
beitervierteln der Fabrikstüdte entstehenden Seuchen, durch eine Verkümmerung
der Bevölkerung, die anfing die Rekrutirung für die Marine zu erschweren,
und durch die Brandfackeln der empörten Arbeiter gewaltsam aufgerüttelt und
von der UnHaltbarkeit des bestehenden Zustandes überzeugt worden wären.
Also die praktische Heilsamkeit der Altruismuspredigt steht außer Frage, ihre
theoretische Richtigkeit aber können wir nicht zugeben. Weder ist der Inhalt



*) Carlyle dem deutschen Publikum zugänglicher zu machen — er will freilich mit kritischer
Besonnenheit gelesen sein — wird jetzt von verschiednen Seiten gearbeitet. So erscheinen bei
Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen die sozialpolitischen Schriften von Thomas
Carlyle, übersetzt von E. Pfnnnkuche, mit einer (sehr guten) Einleitung und Anmerkungen
herausgegeben von Dr. P, Hensel, Privatdozenten in Straßburg i. E. Der erste Band (18!>I>)
enthält die Schrift über den Chartismus, die Negerfrage und: den Niagara hinunter, der zweite
(>8N>) die Charakteristik unsrer Zeit und die I^teor of? ?ii.mxlüsts. Zu empfehlen ist auch
das in demselben Verlag 1M5 erschienene Büchlein Thomas Carlyle. Ein Gedenkblatt zur
hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages. Von Christian Rogge, Divisionspfarrer.
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[0126] August «Loute und der Positivismus an Comte zu denken — den Inhalt dieser modernen Philosophie, die eben auch seine Philosophie war, ausgedrückt, wenn er sagt, der Mensch sei in die Welt gesetzt, nicht um über sie zu grübeln, sondern um in ihr zu wirken. Die dritte der Grundideen Comtes ist die, daß der Positivismus nicht eine bloße Lehre, nicht bloß Ersatz der alten Religionen, sondern selbst Religion sei, die Religion der Liebe, des Lebens in den andern und für die andern, des Altruismus, wie er es nennt. Die Religion bringe das Denken mit dem Fühlen und die Menschen unter einander in Übereinstimmung und werde hier¬ durch die Wurzel einträchtigen Handelns, schöpferischer Thätigkeit. Demnach wirkten alle religiösen Zeitalter — hier ist Comte wieder ganz Carlyle — aufbauend und schöpferisch, während die glaubenslosen nichts konnten als zer¬ stören und niederreißen. Das Elend der Gegenwart bestehe darin, daß die Glaubenssätze, die ehemals den Menschen die Kraft der Aufopferung verliehen hätten, heute nicht mehr vor der Vernunft bestehen könnten, und daß hierdurch die Selbstsucht entfesselt worden sei. Der Positivismus bringe nun Abhilfe; indem er den Menschen als Glied des großen Menschheitsorganismus, als Glied der Gesellschaft begreifen lehre, gebe er der Menschheit die Kraft der Selbstaufopferung, der Hingebung ans große Ganze zurück. Das ist nun der Punkt, von wo aus sich Comte in seinen spätern Jahren ins Märchenland der Utopisten und Mystiker verirrt hat, wohin wir ihm nicht folgen. Es ist unbestreitbar, daß er und Carlyle*) zusammen mit ihrer Predigt der ent¬ sagenden Liebe und strenger Pflichterfüllung, die sie der wilden Selbstsucht des herrschenden Mammonismus entgegenhielten, tiefen Eindruck gemacht und einen Umschwung zu Wege gebracht haben, der heute noch vorhält, wobei jedoch nicht übersehen werden darf, daß sie tauben Ohren gepredigt haben würden, wenn die herrschenden Klaffen nicht gleichzeitig durch die in den Ar¬ beitervierteln der Fabrikstüdte entstehenden Seuchen, durch eine Verkümmerung der Bevölkerung, die anfing die Rekrutirung für die Marine zu erschweren, und durch die Brandfackeln der empörten Arbeiter gewaltsam aufgerüttelt und von der UnHaltbarkeit des bestehenden Zustandes überzeugt worden wären. Also die praktische Heilsamkeit der Altruismuspredigt steht außer Frage, ihre theoretische Richtigkeit aber können wir nicht zugeben. Weder ist der Inhalt *) Carlyle dem deutschen Publikum zugänglicher zu machen — er will freilich mit kritischer Besonnenheit gelesen sein — wird jetzt von verschiednen Seiten gearbeitet. So erscheinen bei Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen die sozialpolitischen Schriften von Thomas Carlyle, übersetzt von E. Pfnnnkuche, mit einer (sehr guten) Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Dr. P, Hensel, Privatdozenten in Straßburg i. E. Der erste Band (18!>I>) enthält die Schrift über den Chartismus, die Negerfrage und: den Niagara hinunter, der zweite (>8N>) die Charakteristik unsrer Zeit und die I^teor of? ?ii.mxlüsts. Zu empfehlen ist auch das in demselben Verlag 1M5 erschienene Büchlein Thomas Carlyle. Ein Gedenkblatt zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages. Von Christian Rogge, Divisionspfarrer.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/126>, abgerufen am 26.05.2024.