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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Erinnerungen aus der Franzosenzeit

Anspruch zu haben glaubt, in seine Gewalt zu bringen. Indem so die meisten
darauf angewiesen sind, alles, was sie brauchen oder wünschen, irgend welchen
Nebenmenschen abzujagen, abzudrücken oder abzulisten, müssen im öffentlichen
und im Erwerbsleben notwendigerweise die häßlichen Seiten der Menschennatur
am stärksten hervorgekehrt werden. Die Sozialisten behaupten deshalb, und
namentlich der Italiener Unsitte Loria hat auf den Beweis dieser Behauptung
viel Fleiß und Scharfsinn verwendet, in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung
sei Sittlichkeit gar nicht möglich, erst eine zukünftige sozialistische Ordnung
werde sie wieder möglich machen. Jedenfalls haben wir hier einen der Fälle,
wo ganz offenbar das Gemütsleben und die Ideenwelt mehr von der äußern
Ordnung der Dinge als diese von jener abhängt, einen Fall also, auf den
sich die im ganzen gewiß falsche materialistische Geschichtskonstruktion mit Recht
berufen darf. Comte macht dieser Auffassung, die ja übrigens zu seiner Zeit
noch nicht zum System ausgearbeitet war, nicht das geringste Zugeständnis,
sondern besteht darauf, daß es der Geist sei, der sich den Leib schaffe, daß
daher jeder Fortschritt der menschlichen Gesellschaft auf einer Umbildung der
äußern Formen durch Veredelung des Geistes und durch Vertiefung des Pflicht¬
gefühls beruhe, und daß nicht umgekehrt die sittliche Besserung durch Gesetze
und politische Veränderungen bewirkt werden könne. Die Positivisten sind
daher entschiedne Feinde der Revolution und aller Gewaltthätigkeiten, da diese
gar nichts nützen könnten. Die Wahrheit liegt auch hier in der Mitte. Ein¬
richtungen nützen allerdings nichts, wo der Geist fehlt, der sie beleben muß,
aber es giebt auch äußere Zustände, die deu Geist nicht aufkommen lasten;
beim Fortschritt wie beim Rückschritt pflegt die Veränderung der Staats- und
Gescllschaftseinrichtungen mit der geistig-sittlichen Erhebung oder Verderbnis
Hand in Hand zu gehen.




Erinnerungen aus der jranzosenzeit

-X'^TRU.rS'?
".^KHDlA-?in ganzen Westen unsers Vaterlandes bis hoch nach dem Norden
hinauf weiß das Volk noch heute, was der Ausdruck "Fran¬
zosenzeit" bedeutet. Es sind jetzt über hundert Jahre her, seit
jene Zeit begann, und die Wiederkehr vieler einzelnen Erinnerungs¬
tage hat eine nicht geringe Anzahl von Schriften hervorgerufen,
von denen wir einige unsern Lesern vorführen wollen.

Wir beginnen am Mittelrhein mit den Mainzer Klubisteu von K. G.
Bockenheimer (Mainz. Kupferberg, 1896), einer Darstellung der Jahre 1792


Erinnerungen aus der Franzosenzeit

Anspruch zu haben glaubt, in seine Gewalt zu bringen. Indem so die meisten
darauf angewiesen sind, alles, was sie brauchen oder wünschen, irgend welchen
Nebenmenschen abzujagen, abzudrücken oder abzulisten, müssen im öffentlichen
und im Erwerbsleben notwendigerweise die häßlichen Seiten der Menschennatur
am stärksten hervorgekehrt werden. Die Sozialisten behaupten deshalb, und
namentlich der Italiener Unsitte Loria hat auf den Beweis dieser Behauptung
viel Fleiß und Scharfsinn verwendet, in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung
sei Sittlichkeit gar nicht möglich, erst eine zukünftige sozialistische Ordnung
werde sie wieder möglich machen. Jedenfalls haben wir hier einen der Fälle,
wo ganz offenbar das Gemütsleben und die Ideenwelt mehr von der äußern
Ordnung der Dinge als diese von jener abhängt, einen Fall also, auf den
sich die im ganzen gewiß falsche materialistische Geschichtskonstruktion mit Recht
berufen darf. Comte macht dieser Auffassung, die ja übrigens zu seiner Zeit
noch nicht zum System ausgearbeitet war, nicht das geringste Zugeständnis,
sondern besteht darauf, daß es der Geist sei, der sich den Leib schaffe, daß
daher jeder Fortschritt der menschlichen Gesellschaft auf einer Umbildung der
äußern Formen durch Veredelung des Geistes und durch Vertiefung des Pflicht¬
gefühls beruhe, und daß nicht umgekehrt die sittliche Besserung durch Gesetze
und politische Veränderungen bewirkt werden könne. Die Positivisten sind
daher entschiedne Feinde der Revolution und aller Gewaltthätigkeiten, da diese
gar nichts nützen könnten. Die Wahrheit liegt auch hier in der Mitte. Ein¬
richtungen nützen allerdings nichts, wo der Geist fehlt, der sie beleben muß,
aber es giebt auch äußere Zustände, die deu Geist nicht aufkommen lasten;
beim Fortschritt wie beim Rückschritt pflegt die Veränderung der Staats- und
Gescllschaftseinrichtungen mit der geistig-sittlichen Erhebung oder Verderbnis
Hand in Hand zu gehen.




Erinnerungen aus der jranzosenzeit

-X'^TRU.rS'?
».^KHDlA-?in ganzen Westen unsers Vaterlandes bis hoch nach dem Norden
hinauf weiß das Volk noch heute, was der Ausdruck „Fran¬
zosenzeit" bedeutet. Es sind jetzt über hundert Jahre her, seit
jene Zeit begann, und die Wiederkehr vieler einzelnen Erinnerungs¬
tage hat eine nicht geringe Anzahl von Schriften hervorgerufen,
von denen wir einige unsern Lesern vorführen wollen.

Wir beginnen am Mittelrhein mit den Mainzer Klubisteu von K. G.
Bockenheimer (Mainz. Kupferberg, 1896), einer Darstellung der Jahre 1792


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[0128] Erinnerungen aus der Franzosenzeit Anspruch zu haben glaubt, in seine Gewalt zu bringen. Indem so die meisten darauf angewiesen sind, alles, was sie brauchen oder wünschen, irgend welchen Nebenmenschen abzujagen, abzudrücken oder abzulisten, müssen im öffentlichen und im Erwerbsleben notwendigerweise die häßlichen Seiten der Menschennatur am stärksten hervorgekehrt werden. Die Sozialisten behaupten deshalb, und namentlich der Italiener Unsitte Loria hat auf den Beweis dieser Behauptung viel Fleiß und Scharfsinn verwendet, in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung sei Sittlichkeit gar nicht möglich, erst eine zukünftige sozialistische Ordnung werde sie wieder möglich machen. Jedenfalls haben wir hier einen der Fälle, wo ganz offenbar das Gemütsleben und die Ideenwelt mehr von der äußern Ordnung der Dinge als diese von jener abhängt, einen Fall also, auf den sich die im ganzen gewiß falsche materialistische Geschichtskonstruktion mit Recht berufen darf. Comte macht dieser Auffassung, die ja übrigens zu seiner Zeit noch nicht zum System ausgearbeitet war, nicht das geringste Zugeständnis, sondern besteht darauf, daß es der Geist sei, der sich den Leib schaffe, daß daher jeder Fortschritt der menschlichen Gesellschaft auf einer Umbildung der äußern Formen durch Veredelung des Geistes und durch Vertiefung des Pflicht¬ gefühls beruhe, und daß nicht umgekehrt die sittliche Besserung durch Gesetze und politische Veränderungen bewirkt werden könne. Die Positivisten sind daher entschiedne Feinde der Revolution und aller Gewaltthätigkeiten, da diese gar nichts nützen könnten. Die Wahrheit liegt auch hier in der Mitte. Ein¬ richtungen nützen allerdings nichts, wo der Geist fehlt, der sie beleben muß, aber es giebt auch äußere Zustände, die deu Geist nicht aufkommen lasten; beim Fortschritt wie beim Rückschritt pflegt die Veränderung der Staats- und Gescllschaftseinrichtungen mit der geistig-sittlichen Erhebung oder Verderbnis Hand in Hand zu gehen. Erinnerungen aus der jranzosenzeit -X'^TRU.rS'? ».^KHDlA-?in ganzen Westen unsers Vaterlandes bis hoch nach dem Norden hinauf weiß das Volk noch heute, was der Ausdruck „Fran¬ zosenzeit" bedeutet. Es sind jetzt über hundert Jahre her, seit jene Zeit begann, und die Wiederkehr vieler einzelnen Erinnerungs¬ tage hat eine nicht geringe Anzahl von Schriften hervorgerufen, von denen wir einige unsern Lesern vorführen wollen. Wir beginnen am Mittelrhein mit den Mainzer Klubisteu von K. G. Bockenheimer (Mainz. Kupferberg, 1896), einer Darstellung der Jahre 1792

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/128>, abgerufen am 26.05.2024.