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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Erinnerungen aus der Franzosenzeit

und 1793. Der Verfasser ist schon öfter mit Arbeiten über die Geschichte von
Mainz während der französischen Zeit hervorgetreten. Aus seinem neuen Buche
erfahren wir, daß an dem Treiben der Klnbisten das Volk nicht beteiligt war;
der Handwerkerstand und die Zünfte erklärten sich wiederholt dagegen. Cüstine
sowohl wie die französische Regierung in Paris war hinlänglich davon unter¬
richtet, daß es sich bei allen den Veranstaltungen, die schließlich zum Anschluß
an die Republik führten, um eine bloße Komödie handelte. Dieser Nachweis
ist dankenswert, und er hat in seinen Einzelheiten für die Ortsgeschichte von
Mainz und der umliegenden Landschaft sein ganz besondres Interesse. Das
Volk und auch die bessere bürgerliche Gesellschaft wäre also mit den Zuständen
unter dem letzten geistlichen Kurfürsten durchaus nicht so unzufrieden gewesen,
wie es z. B. nach den Briefen Georg Forsters scheint, wenigstens nicht so sehr,
daß man die Freiheit aus deu Händen der französischen Republik hätte em¬
pfangen wollen. Der Verfasser urteilt über Friedrich von Erthal und über
das geistliche Regiment überhaupt viel günstiger, als wir es nach den Zeug¬
nissen berühmter Zeitgenossen zu thun pflegen. Eingehend werden die Mit¬
glieder des Mainzer Klubs und die Persönlichkeiten der neuen Regierung ge¬
schildert. Fast alle sind geringe Menschen, unbedeutend und von zweifelhafter
Vergangenheit. Der einzige, für den wir Teilnahme empfinden, Förster, wird
richtig beurteilt, ohne daß neue Züge zu seinem Bilde gegeben würden. Cüstine
dagegen tritt deutlicher hervor als bisher. Er ist unfähig als Heerführer, und
als Mensch unbedeutend und wenig sympathisch. Damit haben wir den wesent¬
lichen Inhalt des Buches umschrieben. Sein Wert liegt in der aktenmüßigen
Darstellung des Treibens der Klnbisten.

Weiter nordwärts, namentlich nach Kassel und Hamburg, führt uns eine
ausführlich angelegte Biographie Karl Reinharts von Wilhelm Lang
(Stuttgart, Union, 1895). Die württemberger Klosterschulen und das Stift
in Tübingen haben ja viele tüchtige Männer hervorgebracht, aber keiner ist
auf der Staffel weltlicher Ehren so hoch gestiegen wie der Stiftler und Vikar
Reinhard, der als Graf und Pnir von Frankreich erst 1837 in Paris gestorben
ist. Das Leben dieses an sich keineswegs hervorragenden Mannes ist änßerst
merkwürdig, uicht um seiner selbst willen, wohl aber wegen der vielen bedeu¬
tenden Menschen und Ereignisse, zu denen er in Beziehung getreten ist. Daß
Reinhard kein bedeutender Mann war, sprach schon der junge Wilhelm von
Humboldt aus, als er 1796 den angesehenen und überall, wohin er in Deutsch¬
land kam, gefeierten Gesandten der französischen Republik in Hamburg im
Neimarnsschen Hause flüchtig kennen lernte. Auch Napoleon wußte das. Er
schützte ihn zwar als Konsul sowohl wie später als Kaiser wegen seiner Recht¬
lichkeit in der Geschäftsführung und stellte ihn manchmal als Wächter auf,
um seinen Generalen und Marschüllen das Stehlen zu erschweren. Aber das
war auch alles. Innerlich war ihm der etwas schwerfällige Schwabe mit


Grenzboten 11 1396 16
Erinnerungen aus der Franzosenzeit

und 1793. Der Verfasser ist schon öfter mit Arbeiten über die Geschichte von
Mainz während der französischen Zeit hervorgetreten. Aus seinem neuen Buche
erfahren wir, daß an dem Treiben der Klnbisten das Volk nicht beteiligt war;
der Handwerkerstand und die Zünfte erklärten sich wiederholt dagegen. Cüstine
sowohl wie die französische Regierung in Paris war hinlänglich davon unter¬
richtet, daß es sich bei allen den Veranstaltungen, die schließlich zum Anschluß
an die Republik führten, um eine bloße Komödie handelte. Dieser Nachweis
ist dankenswert, und er hat in seinen Einzelheiten für die Ortsgeschichte von
Mainz und der umliegenden Landschaft sein ganz besondres Interesse. Das
Volk und auch die bessere bürgerliche Gesellschaft wäre also mit den Zuständen
unter dem letzten geistlichen Kurfürsten durchaus nicht so unzufrieden gewesen,
wie es z. B. nach den Briefen Georg Forsters scheint, wenigstens nicht so sehr,
daß man die Freiheit aus deu Händen der französischen Republik hätte em¬
pfangen wollen. Der Verfasser urteilt über Friedrich von Erthal und über
das geistliche Regiment überhaupt viel günstiger, als wir es nach den Zeug¬
nissen berühmter Zeitgenossen zu thun pflegen. Eingehend werden die Mit¬
glieder des Mainzer Klubs und die Persönlichkeiten der neuen Regierung ge¬
schildert. Fast alle sind geringe Menschen, unbedeutend und von zweifelhafter
Vergangenheit. Der einzige, für den wir Teilnahme empfinden, Förster, wird
richtig beurteilt, ohne daß neue Züge zu seinem Bilde gegeben würden. Cüstine
dagegen tritt deutlicher hervor als bisher. Er ist unfähig als Heerführer, und
als Mensch unbedeutend und wenig sympathisch. Damit haben wir den wesent¬
lichen Inhalt des Buches umschrieben. Sein Wert liegt in der aktenmüßigen
Darstellung des Treibens der Klnbisten.

Weiter nordwärts, namentlich nach Kassel und Hamburg, führt uns eine
ausführlich angelegte Biographie Karl Reinharts von Wilhelm Lang
(Stuttgart, Union, 1895). Die württemberger Klosterschulen und das Stift
in Tübingen haben ja viele tüchtige Männer hervorgebracht, aber keiner ist
auf der Staffel weltlicher Ehren so hoch gestiegen wie der Stiftler und Vikar
Reinhard, der als Graf und Pnir von Frankreich erst 1837 in Paris gestorben
ist. Das Leben dieses an sich keineswegs hervorragenden Mannes ist änßerst
merkwürdig, uicht um seiner selbst willen, wohl aber wegen der vielen bedeu¬
tenden Menschen und Ereignisse, zu denen er in Beziehung getreten ist. Daß
Reinhard kein bedeutender Mann war, sprach schon der junge Wilhelm von
Humboldt aus, als er 1796 den angesehenen und überall, wohin er in Deutsch¬
land kam, gefeierten Gesandten der französischen Republik in Hamburg im
Neimarnsschen Hause flüchtig kennen lernte. Auch Napoleon wußte das. Er
schützte ihn zwar als Konsul sowohl wie später als Kaiser wegen seiner Recht¬
lichkeit in der Geschäftsführung und stellte ihn manchmal als Wächter auf,
um seinen Generalen und Marschüllen das Stehlen zu erschweren. Aber das
war auch alles. Innerlich war ihm der etwas schwerfällige Schwabe mit


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[0129] Erinnerungen aus der Franzosenzeit und 1793. Der Verfasser ist schon öfter mit Arbeiten über die Geschichte von Mainz während der französischen Zeit hervorgetreten. Aus seinem neuen Buche erfahren wir, daß an dem Treiben der Klnbisten das Volk nicht beteiligt war; der Handwerkerstand und die Zünfte erklärten sich wiederholt dagegen. Cüstine sowohl wie die französische Regierung in Paris war hinlänglich davon unter¬ richtet, daß es sich bei allen den Veranstaltungen, die schließlich zum Anschluß an die Republik führten, um eine bloße Komödie handelte. Dieser Nachweis ist dankenswert, und er hat in seinen Einzelheiten für die Ortsgeschichte von Mainz und der umliegenden Landschaft sein ganz besondres Interesse. Das Volk und auch die bessere bürgerliche Gesellschaft wäre also mit den Zuständen unter dem letzten geistlichen Kurfürsten durchaus nicht so unzufrieden gewesen, wie es z. B. nach den Briefen Georg Forsters scheint, wenigstens nicht so sehr, daß man die Freiheit aus deu Händen der französischen Republik hätte em¬ pfangen wollen. Der Verfasser urteilt über Friedrich von Erthal und über das geistliche Regiment überhaupt viel günstiger, als wir es nach den Zeug¬ nissen berühmter Zeitgenossen zu thun pflegen. Eingehend werden die Mit¬ glieder des Mainzer Klubs und die Persönlichkeiten der neuen Regierung ge¬ schildert. Fast alle sind geringe Menschen, unbedeutend und von zweifelhafter Vergangenheit. Der einzige, für den wir Teilnahme empfinden, Förster, wird richtig beurteilt, ohne daß neue Züge zu seinem Bilde gegeben würden. Cüstine dagegen tritt deutlicher hervor als bisher. Er ist unfähig als Heerführer, und als Mensch unbedeutend und wenig sympathisch. Damit haben wir den wesent¬ lichen Inhalt des Buches umschrieben. Sein Wert liegt in der aktenmüßigen Darstellung des Treibens der Klnbisten. Weiter nordwärts, namentlich nach Kassel und Hamburg, führt uns eine ausführlich angelegte Biographie Karl Reinharts von Wilhelm Lang (Stuttgart, Union, 1895). Die württemberger Klosterschulen und das Stift in Tübingen haben ja viele tüchtige Männer hervorgebracht, aber keiner ist auf der Staffel weltlicher Ehren so hoch gestiegen wie der Stiftler und Vikar Reinhard, der als Graf und Pnir von Frankreich erst 1837 in Paris gestorben ist. Das Leben dieses an sich keineswegs hervorragenden Mannes ist änßerst merkwürdig, uicht um seiner selbst willen, wohl aber wegen der vielen bedeu¬ tenden Menschen und Ereignisse, zu denen er in Beziehung getreten ist. Daß Reinhard kein bedeutender Mann war, sprach schon der junge Wilhelm von Humboldt aus, als er 1796 den angesehenen und überall, wohin er in Deutsch¬ land kam, gefeierten Gesandten der französischen Republik in Hamburg im Neimarnsschen Hause flüchtig kennen lernte. Auch Napoleon wußte das. Er schützte ihn zwar als Konsul sowohl wie später als Kaiser wegen seiner Recht¬ lichkeit in der Geschäftsführung und stellte ihn manchmal als Wächter auf, um seinen Generalen und Marschüllen das Stehlen zu erschweren. Aber das war auch alles. Innerlich war ihm der etwas schwerfällige Schwabe mit Grenzboten 11 1396 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/129>, abgerufen am 26.05.2024.