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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Adolf wilbrandt

brandts Nibelungen nicht ein einzelnen poetisch tiefen und ergreifenden Stellen
(sehr schön ist Siegfrieds Glückssättigung unmittelbar vor dem Ende em¬
pfunden, von wirklich dramatischer Gewalt die Szene, in der Kriemhild ihrem
jüngsten Bruder Gisclher das Geständnis nbdringt, daß Hagen von Tronjc der
Mörder Siegfrieds sei), aber ihre Knappheit ist künstlich und schädigt den
Stoff in seinen edelsten Teilen; in Handlung und Charakteristik, in Gewalt
und Gewicht ist sie mit der großen Hcbbclschcu Dichtung, der sie doch gleichsam
entgegengesetzt wurde, nicht entfernt zu vergleichen.

Die Schauspiele "Assunta Leoni," "Die Tochter des Herrn Fabricius" u. a.
zeigen, daß Wilbrandt an seinem Teile um die Schaffung eines aus dem
Leben der Gegenwart geschöpften Schauspiels mit gerungen hat, ohne daß man
sagen dürfte, er habe seine Stärke, seine eigenste Besonderheit auf diesem Ge¬
biete -- bis jetzt wenigstens -- mit Glück bewährt. Dennoch hatte, während
der Zeit, in der diese Dramen entstanden, und unter ihnen manche, die wir
nur als theatralische Experimente anschlagen dürfen, des Dichters tiefere Ent¬
wicklung nicht geruht, er wuchs, trotz einzelnen Mißlingens, zu immer reifern
und größern Schöpfungen heran. Seine Lyrik nahm den höchsten Aufschwung
lange ehe der Roman "Adams Söhne" und die dramatische Dichtung "Der
Meister von Palmhra" vollendet wurden:

Die Stimmungen, aus denen die schönsten Jugendgedichte Wilbrandts, das
holdselige "Sehnsucht" und "Das Märchen von der Zeit," hervvrgeblüht
waren, kehrten in den "Neuen Gedichten" (1889) reifer und mächtiger wieder.
"Neue Lebensfahrt," "Auf dem Traunsee." "nächtlicher Kampf," der Chklus
"Irene," das prächtige Bild "Kleine Leute," "Des Geigers Mondnacht,"
"Die Schule des Lebens," "Im alten Vurgtheater," "Der Turm von Nervi,"
alles sind Gedichte, die deutlich zeigen, wo die Einheit in der bunten Mannich-
faltigkeit der Bestrebungen und Anläufe dieses Dichters zu suchen ist, wie ein
starkes Lebensgefühl, indem es sich läutert, gleichsam immer glühender und
leuchtender, statt kühler und matter wird, wie die Zuversicht, die der Dichter
ans der Erfüllung seiner Jugendideale geschöpft hat, ihn gegen den Ansturm
des Alters und die drohende Ahnung des Todes stählt, wie er den Larven
des Tages gegenüber die großen, ewigen Züge der Natur erkennt. Wenn es
zu Zeiten scheint, als ob ihn die Fülle der Wirklichkeiten habe verwirren und


Adolf wilbrandt

brandts Nibelungen nicht ein einzelnen poetisch tiefen und ergreifenden Stellen
(sehr schön ist Siegfrieds Glückssättigung unmittelbar vor dem Ende em¬
pfunden, von wirklich dramatischer Gewalt die Szene, in der Kriemhild ihrem
jüngsten Bruder Gisclher das Geständnis nbdringt, daß Hagen von Tronjc der
Mörder Siegfrieds sei), aber ihre Knappheit ist künstlich und schädigt den
Stoff in seinen edelsten Teilen; in Handlung und Charakteristik, in Gewalt
und Gewicht ist sie mit der großen Hcbbclschcu Dichtung, der sie doch gleichsam
entgegengesetzt wurde, nicht entfernt zu vergleichen.

Die Schauspiele „Assunta Leoni," „Die Tochter des Herrn Fabricius" u. a.
zeigen, daß Wilbrandt an seinem Teile um die Schaffung eines aus dem
Leben der Gegenwart geschöpften Schauspiels mit gerungen hat, ohne daß man
sagen dürfte, er habe seine Stärke, seine eigenste Besonderheit auf diesem Ge¬
biete — bis jetzt wenigstens — mit Glück bewährt. Dennoch hatte, während
der Zeit, in der diese Dramen entstanden, und unter ihnen manche, die wir
nur als theatralische Experimente anschlagen dürfen, des Dichters tiefere Ent¬
wicklung nicht geruht, er wuchs, trotz einzelnen Mißlingens, zu immer reifern
und größern Schöpfungen heran. Seine Lyrik nahm den höchsten Aufschwung
lange ehe der Roman „Adams Söhne" und die dramatische Dichtung „Der
Meister von Palmhra" vollendet wurden:

Die Stimmungen, aus denen die schönsten Jugendgedichte Wilbrandts, das
holdselige „Sehnsucht" und „Das Märchen von der Zeit," hervvrgeblüht
waren, kehrten in den „Neuen Gedichten" (1889) reifer und mächtiger wieder.
„Neue Lebensfahrt," „Auf dem Traunsee." „nächtlicher Kampf," der Chklus
»Irene," das prächtige Bild „Kleine Leute," „Des Geigers Mondnacht,"
«Die Schule des Lebens," „Im alten Vurgtheater," „Der Turm von Nervi,"
alles sind Gedichte, die deutlich zeigen, wo die Einheit in der bunten Mannich-
faltigkeit der Bestrebungen und Anläufe dieses Dichters zu suchen ist, wie ein
starkes Lebensgefühl, indem es sich läutert, gleichsam immer glühender und
leuchtender, statt kühler und matter wird, wie die Zuversicht, die der Dichter
ans der Erfüllung seiner Jugendideale geschöpft hat, ihn gegen den Ansturm
des Alters und die drohende Ahnung des Todes stählt, wie er den Larven
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zu Zeiten scheint, als ob ihn die Fülle der Wirklichkeiten habe verwirren und


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[0141] Adolf wilbrandt brandts Nibelungen nicht ein einzelnen poetisch tiefen und ergreifenden Stellen (sehr schön ist Siegfrieds Glückssättigung unmittelbar vor dem Ende em¬ pfunden, von wirklich dramatischer Gewalt die Szene, in der Kriemhild ihrem jüngsten Bruder Gisclher das Geständnis nbdringt, daß Hagen von Tronjc der Mörder Siegfrieds sei), aber ihre Knappheit ist künstlich und schädigt den Stoff in seinen edelsten Teilen; in Handlung und Charakteristik, in Gewalt und Gewicht ist sie mit der großen Hcbbclschcu Dichtung, der sie doch gleichsam entgegengesetzt wurde, nicht entfernt zu vergleichen. Die Schauspiele „Assunta Leoni," „Die Tochter des Herrn Fabricius" u. a. zeigen, daß Wilbrandt an seinem Teile um die Schaffung eines aus dem Leben der Gegenwart geschöpften Schauspiels mit gerungen hat, ohne daß man sagen dürfte, er habe seine Stärke, seine eigenste Besonderheit auf diesem Ge¬ biete — bis jetzt wenigstens — mit Glück bewährt. Dennoch hatte, während der Zeit, in der diese Dramen entstanden, und unter ihnen manche, die wir nur als theatralische Experimente anschlagen dürfen, des Dichters tiefere Ent¬ wicklung nicht geruht, er wuchs, trotz einzelnen Mißlingens, zu immer reifern und größern Schöpfungen heran. Seine Lyrik nahm den höchsten Aufschwung lange ehe der Roman „Adams Söhne" und die dramatische Dichtung „Der Meister von Palmhra" vollendet wurden: Die Stimmungen, aus denen die schönsten Jugendgedichte Wilbrandts, das holdselige „Sehnsucht" und „Das Märchen von der Zeit," hervvrgeblüht waren, kehrten in den „Neuen Gedichten" (1889) reifer und mächtiger wieder. „Neue Lebensfahrt," „Auf dem Traunsee." „nächtlicher Kampf," der Chklus »Irene," das prächtige Bild „Kleine Leute," „Des Geigers Mondnacht," «Die Schule des Lebens," „Im alten Vurgtheater," „Der Turm von Nervi," alles sind Gedichte, die deutlich zeigen, wo die Einheit in der bunten Mannich- faltigkeit der Bestrebungen und Anläufe dieses Dichters zu suchen ist, wie ein starkes Lebensgefühl, indem es sich läutert, gleichsam immer glühender und leuchtender, statt kühler und matter wird, wie die Zuversicht, die der Dichter ans der Erfüllung seiner Jugendideale geschöpft hat, ihn gegen den Ansturm des Alters und die drohende Ahnung des Todes stählt, wie er den Larven des Tages gegenüber die großen, ewigen Züge der Natur erkennt. Wenn es zu Zeiten scheint, als ob ihn die Fülle der Wirklichkeiten habe verwirren und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/141>, abgerufen am 26.05.2024.