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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht der Gesellschaft

nicht gestattet seien, daß der innere Mensch nie und nirgends vergewaltigt
werden dürfe, und habe damit zwar kein Recht der Persönlichkeit -- denn ein
Recht ist etwas Positives --, aber eine Pflicht der Gesellschaft als vorhanden
hingestellt. Diese Pflicht der Gesellschaft soll uns diesmal näher beschäftigen.
Zweierlei ist es, was man in unsern Tagen der sozialen Bestrebungen von
der Gesellschaft verlangt, zunächst die Schaffung einer menschenwürdigen Existenz
sür alle, sodann eben diesen Schutz der Persönlichkeit, der also die ideelle Seite
der durchzusetzenden Svzialreforin ist, darum aber auch von ihren in rein ma¬
teriellen Anschauungen befangnen Vertretern vielfach außer Acht gelassen wird;
will doch die Sozialdemokratie, wenigstens die landläufige, die erste Forde¬
rung, die der menschenwürdigen Existenz, gewissermaßen auf Kosten der zweiten
durchsetzen, indem sie nämlich, um die vollständige äußere Gleichheit zu er¬
reichen, auch eine ursprüngliche innere annimmt, die nur durch die bisherige
Gesellschaftsordnung aufgehoben worden sei. Klar ist auf alle Fülle, daß die
heutige Gesellschaft zwar auf dem Individualismus beruht, daß sie die mensch¬
liche Verschiedenheit grundsätzlich als vorhanden anerkennt, aber daß sie das
gleichsam nur unwillig thut, ohne etwaige daraus hervorgehende Verpflich¬
tungen zu übernehmen; sie läßt nur das Gewordne, das kg.it aoomnM, den
Erfolg gelten und stellt sich jeder bedeutendern Persönlichkeit, jeder freiern Ent¬
wicklung von vornherein so lange feindlich gegenüber, bis sie von ihr besiegt
ist. Man leitet diesen Widerstand gegen das Große und Bedeutende, der oft
zu einer Vergewaltigung der Persönlichkeit, immer zu einer Reihe von Unge¬
rechtigkeiten führt, die durch das bestehende Staatsrecht nicht nur nicht zu
sühnen sind, sondern oft noch mit gesetzlichem Schein umkleidet werden, in der
Regel aus der Beschaffenheit der menschlichen Natur her. Stammt er daher,
so wird er nicht zu beseitigen sein; es fragt sich aber, ob er nicht immer we¬
nigstens zum Teil aus den besondern sozialen Verhältnissen stammt.

Ehe wir der Beantwortung dieser Frage näher treten, ist zunächst noch
der Begriff der "Gesellschaft," schwankend wie nur einer, sür unsre Zwecke
näher zu bestimmen. Im weitesten Sinne bedeutet Gesellschaft soviel wie Kultur-
menschheit, und so faßt z. B. auch die heutige Sozialdemokratie den Begriff,
wenn sie vom Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung redet. Für
die einzelne Persönlichkeit ist aber die Gesellschaft meist nur ein Bruchteil der
Kulturmenschheit, eine Volks- oder eine Staatsgemeinschaft. Wo Volk und
Staat nicht zusammenfallen, da kann der Fall eintreten, daß für den einen
die Volksgemeinschaft, für einen andern die Staatsgemeinschaft die Gesellschaft
ist; so ist es für den deutschen Dichter unzweifelhaft die ganze Nation, alles,
was deutsch redet, während der deutsche Bürger im allgemeinen die Grenze
des deutsche" Reichs als die Grenze seiner Gesellschaft anerkennen wird. Staat
und Gesellschaft gleichzusetzen, geht, wie man sieht, schon aus diesem Grunde
nicht an; die ganze Gesellschaft, die Kulturmenschheit besteht zwar aus Staaten,


Die Pflicht der Gesellschaft

nicht gestattet seien, daß der innere Mensch nie und nirgends vergewaltigt
werden dürfe, und habe damit zwar kein Recht der Persönlichkeit — denn ein
Recht ist etwas Positives —, aber eine Pflicht der Gesellschaft als vorhanden
hingestellt. Diese Pflicht der Gesellschaft soll uns diesmal näher beschäftigen.
Zweierlei ist es, was man in unsern Tagen der sozialen Bestrebungen von
der Gesellschaft verlangt, zunächst die Schaffung einer menschenwürdigen Existenz
sür alle, sodann eben diesen Schutz der Persönlichkeit, der also die ideelle Seite
der durchzusetzenden Svzialreforin ist, darum aber auch von ihren in rein ma¬
teriellen Anschauungen befangnen Vertretern vielfach außer Acht gelassen wird;
will doch die Sozialdemokratie, wenigstens die landläufige, die erste Forde¬
rung, die der menschenwürdigen Existenz, gewissermaßen auf Kosten der zweiten
durchsetzen, indem sie nämlich, um die vollständige äußere Gleichheit zu er¬
reichen, auch eine ursprüngliche innere annimmt, die nur durch die bisherige
Gesellschaftsordnung aufgehoben worden sei. Klar ist auf alle Fülle, daß die
heutige Gesellschaft zwar auf dem Individualismus beruht, daß sie die mensch¬
liche Verschiedenheit grundsätzlich als vorhanden anerkennt, aber daß sie das
gleichsam nur unwillig thut, ohne etwaige daraus hervorgehende Verpflich¬
tungen zu übernehmen; sie läßt nur das Gewordne, das kg.it aoomnM, den
Erfolg gelten und stellt sich jeder bedeutendern Persönlichkeit, jeder freiern Ent¬
wicklung von vornherein so lange feindlich gegenüber, bis sie von ihr besiegt
ist. Man leitet diesen Widerstand gegen das Große und Bedeutende, der oft
zu einer Vergewaltigung der Persönlichkeit, immer zu einer Reihe von Unge¬
rechtigkeiten führt, die durch das bestehende Staatsrecht nicht nur nicht zu
sühnen sind, sondern oft noch mit gesetzlichem Schein umkleidet werden, in der
Regel aus der Beschaffenheit der menschlichen Natur her. Stammt er daher,
so wird er nicht zu beseitigen sein; es fragt sich aber, ob er nicht immer we¬
nigstens zum Teil aus den besondern sozialen Verhältnissen stammt.

Ehe wir der Beantwortung dieser Frage näher treten, ist zunächst noch
der Begriff der „Gesellschaft," schwankend wie nur einer, sür unsre Zwecke
näher zu bestimmen. Im weitesten Sinne bedeutet Gesellschaft soviel wie Kultur-
menschheit, und so faßt z. B. auch die heutige Sozialdemokratie den Begriff,
wenn sie vom Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung redet. Für
die einzelne Persönlichkeit ist aber die Gesellschaft meist nur ein Bruchteil der
Kulturmenschheit, eine Volks- oder eine Staatsgemeinschaft. Wo Volk und
Staat nicht zusammenfallen, da kann der Fall eintreten, daß für den einen
die Volksgemeinschaft, für einen andern die Staatsgemeinschaft die Gesellschaft
ist; so ist es für den deutschen Dichter unzweifelhaft die ganze Nation, alles,
was deutsch redet, während der deutsche Bürger im allgemeinen die Grenze
des deutsche» Reichs als die Grenze seiner Gesellschaft anerkennen wird. Staat
und Gesellschaft gleichzusetzen, geht, wie man sieht, schon aus diesem Grunde
nicht an; die ganze Gesellschaft, die Kulturmenschheit besteht zwar aus Staaten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/208>, abgerufen am 09.05.2024.