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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht der Gesellschaft

jeder Staat trägt auch das Gepräge des Teils der Gesellschaft, der innerhalb
seiner Grenzen wohnt, und drückt ihm, als die geschichtliche Macht, die er nun
einmal ist, wieder besondre Eigentümlichkeiten auf; aber er ist nicht die Gesell¬
schaft, sondern nur ein Gebiet und eine herrschende Idee, oder wenn man will,
ein System, oft nur ein Gewirr von Ideen, nach dem die Ordnung der
Gesellschaft durchgeführt ist. Der Staat kennt im Grunde keine Persönlich¬
keiten, sondern nur Staatsbürger, Nummern von eins bis in die Millionen;
auch wo die Staatsbürger wieder in Klassen oder Stunde zerfallen, die ver-
schiedne Rechte haben, tritt damit doch nie das Persönliche in den staatlichen
Gesichtskreis, ja nicht einmal seine eignen Diener kommen für den Staat als
Persönlichkeiten in Betracht, selbst der Monarch nicht; es ist von rein staat¬
lichem Gesichtspunkt aus vollständig gleichgiltig, ob Friedrich IV. oder Friedrich V.
regiert, wenn nur die von der betreffenden Staatsform geforderte Spitze da ist.
Der Staat gewährt Rechte und fordert die Erfüllung vou Pflichten, aber auf
die Persönlichkeit des Mannes, der die Rechte hat und die Pflichten erfüllt,
kommt es ihm nicht an; da folgt stillschweigend dem Vater der Sohn, der
Käufer eines Besitzes dem Verkäufer, mögen sie als Menschen auch grund¬
verschieden sein; er kennt keine Persönlichkeit, ihm ist jeder der x. p, Soundso,
der Name dient nur zur Verhütung von Verwirrung, eine Nummer thäte
ganz dieselben Dienste. So ist der Staat an und für sich eine sozialistische
Einrichtung, jeder Staat, auch der absoluteste, sobald er Gesetze hat, und die
Staatsidee in folgerechtester Entwicklung ist allerdings der Sozialismus. Besteht
aber die Persönlichkeit nicht für den Staat, so besteht sie doch für die Gesell¬
schaft, die kein Abstraktum ist wie der Staat, sondern ein Kvnkretum; sie setzt
sich ja aus lauter Persönlichkeiten zusammen. Rechte verleiht nun die Ge¬
sellschaft nicht, sie hat ihre Rechte mehr oder weniger vollständig, aber stets
ohne Vorbehalt an den Staat abgegeben, oder, was dasselbe sagt, sich auf
bestimmter, unerschütterlicher, wenn auch vielleicht zu erweiternder oder zu ver¬
tiefender Rechtsgrundlage eingerichtet, und so kann denn der Einzelne von der
Gesellschaft anch nicht mehr verlangen, als das Recht, das die Voraussetzung
der Gesellschaft selbst und damit natürlich auch des Staates ist, das Recht des
Lebens, der Koexistenz, wie ich es nennen möchte. Das hat man als Mensch,
nicht als besonders geartetes Einzelwesen, aus ihm aber lassen sich die beiden
sozialen Forderungen unsrer Zeit, die eines menschenwürdigen Daseins und
die des Schutzes der Persönlichkeit, ohne weiteres ableiten. Wir bilden eine
Gesellschaft vou Menschen, die äußern Bedingungen, uuter denen sich die Menschen
normal entwickeln und ausleben können, sind durch die Wissenschaft im all¬
gemeinen festgestellt, also müssen sie auch geschaffen werden, und weiter,
der Mensch ist nur als besondre Art da und muß auch in dieser Art an¬
erkannt und geschützt werden. Doch hört dieser Schutz natürlich auf, sobald
der Einzelne durch sein Handeln das Bestehen der Gesellschaft oder das Leben


Grenzbotc,? II 1896 26
Die Pflicht der Gesellschaft

jeder Staat trägt auch das Gepräge des Teils der Gesellschaft, der innerhalb
seiner Grenzen wohnt, und drückt ihm, als die geschichtliche Macht, die er nun
einmal ist, wieder besondre Eigentümlichkeiten auf; aber er ist nicht die Gesell¬
schaft, sondern nur ein Gebiet und eine herrschende Idee, oder wenn man will,
ein System, oft nur ein Gewirr von Ideen, nach dem die Ordnung der
Gesellschaft durchgeführt ist. Der Staat kennt im Grunde keine Persönlich¬
keiten, sondern nur Staatsbürger, Nummern von eins bis in die Millionen;
auch wo die Staatsbürger wieder in Klassen oder Stunde zerfallen, die ver-
schiedne Rechte haben, tritt damit doch nie das Persönliche in den staatlichen
Gesichtskreis, ja nicht einmal seine eignen Diener kommen für den Staat als
Persönlichkeiten in Betracht, selbst der Monarch nicht; es ist von rein staat¬
lichem Gesichtspunkt aus vollständig gleichgiltig, ob Friedrich IV. oder Friedrich V.
regiert, wenn nur die von der betreffenden Staatsform geforderte Spitze da ist.
Der Staat gewährt Rechte und fordert die Erfüllung vou Pflichten, aber auf
die Persönlichkeit des Mannes, der die Rechte hat und die Pflichten erfüllt,
kommt es ihm nicht an; da folgt stillschweigend dem Vater der Sohn, der
Käufer eines Besitzes dem Verkäufer, mögen sie als Menschen auch grund¬
verschieden sein; er kennt keine Persönlichkeit, ihm ist jeder der x. p, Soundso,
der Name dient nur zur Verhütung von Verwirrung, eine Nummer thäte
ganz dieselben Dienste. So ist der Staat an und für sich eine sozialistische
Einrichtung, jeder Staat, auch der absoluteste, sobald er Gesetze hat, und die
Staatsidee in folgerechtester Entwicklung ist allerdings der Sozialismus. Besteht
aber die Persönlichkeit nicht für den Staat, so besteht sie doch für die Gesell¬
schaft, die kein Abstraktum ist wie der Staat, sondern ein Kvnkretum; sie setzt
sich ja aus lauter Persönlichkeiten zusammen. Rechte verleiht nun die Ge¬
sellschaft nicht, sie hat ihre Rechte mehr oder weniger vollständig, aber stets
ohne Vorbehalt an den Staat abgegeben, oder, was dasselbe sagt, sich auf
bestimmter, unerschütterlicher, wenn auch vielleicht zu erweiternder oder zu ver¬
tiefender Rechtsgrundlage eingerichtet, und so kann denn der Einzelne von der
Gesellschaft anch nicht mehr verlangen, als das Recht, das die Voraussetzung
der Gesellschaft selbst und damit natürlich auch des Staates ist, das Recht des
Lebens, der Koexistenz, wie ich es nennen möchte. Das hat man als Mensch,
nicht als besonders geartetes Einzelwesen, aus ihm aber lassen sich die beiden
sozialen Forderungen unsrer Zeit, die eines menschenwürdigen Daseins und
die des Schutzes der Persönlichkeit, ohne weiteres ableiten. Wir bilden eine
Gesellschaft vou Menschen, die äußern Bedingungen, uuter denen sich die Menschen
normal entwickeln und ausleben können, sind durch die Wissenschaft im all¬
gemeinen festgestellt, also müssen sie auch geschaffen werden, und weiter,
der Mensch ist nur als besondre Art da und muß auch in dieser Art an¬
erkannt und geschützt werden. Doch hört dieser Schutz natürlich auf, sobald
der Einzelne durch sein Handeln das Bestehen der Gesellschaft oder das Leben


Grenzbotc,? II 1896 26
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[0209] Die Pflicht der Gesellschaft jeder Staat trägt auch das Gepräge des Teils der Gesellschaft, der innerhalb seiner Grenzen wohnt, und drückt ihm, als die geschichtliche Macht, die er nun einmal ist, wieder besondre Eigentümlichkeiten auf; aber er ist nicht die Gesell¬ schaft, sondern nur ein Gebiet und eine herrschende Idee, oder wenn man will, ein System, oft nur ein Gewirr von Ideen, nach dem die Ordnung der Gesellschaft durchgeführt ist. Der Staat kennt im Grunde keine Persönlich¬ keiten, sondern nur Staatsbürger, Nummern von eins bis in die Millionen; auch wo die Staatsbürger wieder in Klassen oder Stunde zerfallen, die ver- schiedne Rechte haben, tritt damit doch nie das Persönliche in den staatlichen Gesichtskreis, ja nicht einmal seine eignen Diener kommen für den Staat als Persönlichkeiten in Betracht, selbst der Monarch nicht; es ist von rein staat¬ lichem Gesichtspunkt aus vollständig gleichgiltig, ob Friedrich IV. oder Friedrich V. regiert, wenn nur die von der betreffenden Staatsform geforderte Spitze da ist. Der Staat gewährt Rechte und fordert die Erfüllung vou Pflichten, aber auf die Persönlichkeit des Mannes, der die Rechte hat und die Pflichten erfüllt, kommt es ihm nicht an; da folgt stillschweigend dem Vater der Sohn, der Käufer eines Besitzes dem Verkäufer, mögen sie als Menschen auch grund¬ verschieden sein; er kennt keine Persönlichkeit, ihm ist jeder der x. p, Soundso, der Name dient nur zur Verhütung von Verwirrung, eine Nummer thäte ganz dieselben Dienste. So ist der Staat an und für sich eine sozialistische Einrichtung, jeder Staat, auch der absoluteste, sobald er Gesetze hat, und die Staatsidee in folgerechtester Entwicklung ist allerdings der Sozialismus. Besteht aber die Persönlichkeit nicht für den Staat, so besteht sie doch für die Gesell¬ schaft, die kein Abstraktum ist wie der Staat, sondern ein Kvnkretum; sie setzt sich ja aus lauter Persönlichkeiten zusammen. Rechte verleiht nun die Ge¬ sellschaft nicht, sie hat ihre Rechte mehr oder weniger vollständig, aber stets ohne Vorbehalt an den Staat abgegeben, oder, was dasselbe sagt, sich auf bestimmter, unerschütterlicher, wenn auch vielleicht zu erweiternder oder zu ver¬ tiefender Rechtsgrundlage eingerichtet, und so kann denn der Einzelne von der Gesellschaft anch nicht mehr verlangen, als das Recht, das die Voraussetzung der Gesellschaft selbst und damit natürlich auch des Staates ist, das Recht des Lebens, der Koexistenz, wie ich es nennen möchte. Das hat man als Mensch, nicht als besonders geartetes Einzelwesen, aus ihm aber lassen sich die beiden sozialen Forderungen unsrer Zeit, die eines menschenwürdigen Daseins und die des Schutzes der Persönlichkeit, ohne weiteres ableiten. Wir bilden eine Gesellschaft vou Menschen, die äußern Bedingungen, uuter denen sich die Menschen normal entwickeln und ausleben können, sind durch die Wissenschaft im all¬ gemeinen festgestellt, also müssen sie auch geschaffen werden, und weiter, der Mensch ist nur als besondre Art da und muß auch in dieser Art an¬ erkannt und geschützt werden. Doch hört dieser Schutz natürlich auf, sobald der Einzelne durch sein Handeln das Bestehen der Gesellschaft oder das Leben Grenzbotc,? II 1896 26

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/209>, abgerufen am 20.05.2024.