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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht der Gesellschaft

der Gesellschaft, die für viele Menschen als "die Gesellschaft" gelten, sind
ferner die sogenannten obern Zehntausend, die sogenannte gute Gesellschaft, die
beide internationalen Charakter tragen, freilich wieder in örtliche Gruppen aus¬
einanderfallen, die sich auch als Gesellschaft bezeichnen, und endlich das, was
man in großen Städten die Gesellschaft schlechthin, in Paris z. B. tout?M8
nennt, und was meist nicht gerade Anspruch auf den Namen gute Gesellschaft
hat. Unterabteilungen der Gesellschaft sind dann eben die Kreise, die Be¬
amten-, litterarischen, künstlerischen Kreise z. B., die sich mehr oder minder
ausschließend verhalten können, aber nie die Gesellschaft selbst sind. Bei Klein¬
bürgern und Arbeitern wendet man das Wort Gesellschaft selten an, da sagt
man lieber "Welt," Kleinbürger- und Arbeiterwelt, und ich glaube, die sprach¬
liche Unterscheidung ist da sehr fein. Obwohl nun jeder Mensch das Recht
hat, sich, dem von mir gebrauchten Bilde gemäß, als Mittelpunkt seiner Gesell¬
schaft nicht bloß, sondern der Gesellschaft überhaupt zu fühlen, wie er ja auch
den Ort, wo er gerade steht, als Mittelpunkt der Erdoberflüche einnehmen
kann, so verdankt er doch seine Geltung zunächst nicht sich selbst und seiner
Bedeutung, sondern nur der Zugehörigkeit zu einer jener Gesellschaftsgruppen,
die sich wieder als Gesellschaft bezeichnen oder als Welt bezeichnet werden,
seiner sozialen Stellung, wie man das ausdrückt. Auch für die Gesellschaft
ist der Einzelne zunächst nur der Nenner, die Null oder die Nullen, die des
Zählers Wert bestimmen, immerhin aber doch schon etwas mehr als für
den Staat, der nur Nummern kennt, keine Zahlen. Das Streben der Gesell¬
schaft geht nun darauf hinaus, daß alle Menschen Nullen bleiben, der Zähler,
das Charakteristische der einzelnen Persönlichkeit möglichst wenig zur Geltung
gelange. Ist der Staat a. xriori sozialistisch, so ist die Gesellschaft g. xriori
demokratisch, und zwar in dem Sinne, daß sie keine Erhebung über den Durch¬
schnitt, keine Vereinzelung und Absonderung dulden will. Früher beschränkte
sich dieser Demokratismus, mit dem sich ein zäher Konservativismus unge¬
zwungen verbindet, auf engere Gebiete, auf die einzelnen Schichten der Gesell¬
schaft; jetzt, nachdem die alten Stunde zerstört sind, ist er nahezu allgemein
geworden. Der Staat hebt die von der Natur mit den Einzelwesen gesetzten
Unterschiede geradezu auf. stellt den Begriff Unterthan oder Staatsbürger hin,
den man wohl durch einen Strich wiedergeben konnte; die Gesellschaft kann
das nicht, da sie aus verschieden beschaffner Einzelwesen besteht, aber sie ver¬
langt, daß der Mensch ihr zuliebe sein Eigentümliches unterdrücke, und der
vollkommne Gesellschaftsmensch ist denn auch wirklich -- eine vollkommne Null.

Es ist jedoch ein vergebliches Streben, die Persönlichkeit niederzuhalten;
gelänge das, so wäre es die Selbstvernichtung der Gesellschaft ebenso gut, wie
die vollständige Entfaltung und Entbindung aller Einzelkräfte eine solche wäre.
Die Gesellschaft sieht sich also genötigt, die Persönlichkeit bis zu einem ge¬
wissen Grade gelten zu lassen, hält sich da uun aber, wie es schon vom Stand-


Die Pflicht der Gesellschaft

der Gesellschaft, die für viele Menschen als „die Gesellschaft" gelten, sind
ferner die sogenannten obern Zehntausend, die sogenannte gute Gesellschaft, die
beide internationalen Charakter tragen, freilich wieder in örtliche Gruppen aus¬
einanderfallen, die sich auch als Gesellschaft bezeichnen, und endlich das, was
man in großen Städten die Gesellschaft schlechthin, in Paris z. B. tout?M8
nennt, und was meist nicht gerade Anspruch auf den Namen gute Gesellschaft
hat. Unterabteilungen der Gesellschaft sind dann eben die Kreise, die Be¬
amten-, litterarischen, künstlerischen Kreise z. B., die sich mehr oder minder
ausschließend verhalten können, aber nie die Gesellschaft selbst sind. Bei Klein¬
bürgern und Arbeitern wendet man das Wort Gesellschaft selten an, da sagt
man lieber „Welt," Kleinbürger- und Arbeiterwelt, und ich glaube, die sprach¬
liche Unterscheidung ist da sehr fein. Obwohl nun jeder Mensch das Recht
hat, sich, dem von mir gebrauchten Bilde gemäß, als Mittelpunkt seiner Gesell¬
schaft nicht bloß, sondern der Gesellschaft überhaupt zu fühlen, wie er ja auch
den Ort, wo er gerade steht, als Mittelpunkt der Erdoberflüche einnehmen
kann, so verdankt er doch seine Geltung zunächst nicht sich selbst und seiner
Bedeutung, sondern nur der Zugehörigkeit zu einer jener Gesellschaftsgruppen,
die sich wieder als Gesellschaft bezeichnen oder als Welt bezeichnet werden,
seiner sozialen Stellung, wie man das ausdrückt. Auch für die Gesellschaft
ist der Einzelne zunächst nur der Nenner, die Null oder die Nullen, die des
Zählers Wert bestimmen, immerhin aber doch schon etwas mehr als für
den Staat, der nur Nummern kennt, keine Zahlen. Das Streben der Gesell¬
schaft geht nun darauf hinaus, daß alle Menschen Nullen bleiben, der Zähler,
das Charakteristische der einzelnen Persönlichkeit möglichst wenig zur Geltung
gelange. Ist der Staat a. xriori sozialistisch, so ist die Gesellschaft g. xriori
demokratisch, und zwar in dem Sinne, daß sie keine Erhebung über den Durch¬
schnitt, keine Vereinzelung und Absonderung dulden will. Früher beschränkte
sich dieser Demokratismus, mit dem sich ein zäher Konservativismus unge¬
zwungen verbindet, auf engere Gebiete, auf die einzelnen Schichten der Gesell¬
schaft; jetzt, nachdem die alten Stunde zerstört sind, ist er nahezu allgemein
geworden. Der Staat hebt die von der Natur mit den Einzelwesen gesetzten
Unterschiede geradezu auf. stellt den Begriff Unterthan oder Staatsbürger hin,
den man wohl durch einen Strich wiedergeben konnte; die Gesellschaft kann
das nicht, da sie aus verschieden beschaffner Einzelwesen besteht, aber sie ver¬
langt, daß der Mensch ihr zuliebe sein Eigentümliches unterdrücke, und der
vollkommne Gesellschaftsmensch ist denn auch wirklich — eine vollkommne Null.

Es ist jedoch ein vergebliches Streben, die Persönlichkeit niederzuhalten;
gelänge das, so wäre es die Selbstvernichtung der Gesellschaft ebenso gut, wie
die vollständige Entfaltung und Entbindung aller Einzelkräfte eine solche wäre.
Die Gesellschaft sieht sich also genötigt, die Persönlichkeit bis zu einem ge¬
wissen Grade gelten zu lassen, hält sich da uun aber, wie es schon vom Stand-


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[0211] Die Pflicht der Gesellschaft der Gesellschaft, die für viele Menschen als „die Gesellschaft" gelten, sind ferner die sogenannten obern Zehntausend, die sogenannte gute Gesellschaft, die beide internationalen Charakter tragen, freilich wieder in örtliche Gruppen aus¬ einanderfallen, die sich auch als Gesellschaft bezeichnen, und endlich das, was man in großen Städten die Gesellschaft schlechthin, in Paris z. B. tout?M8 nennt, und was meist nicht gerade Anspruch auf den Namen gute Gesellschaft hat. Unterabteilungen der Gesellschaft sind dann eben die Kreise, die Be¬ amten-, litterarischen, künstlerischen Kreise z. B., die sich mehr oder minder ausschließend verhalten können, aber nie die Gesellschaft selbst sind. Bei Klein¬ bürgern und Arbeitern wendet man das Wort Gesellschaft selten an, da sagt man lieber „Welt," Kleinbürger- und Arbeiterwelt, und ich glaube, die sprach¬ liche Unterscheidung ist da sehr fein. Obwohl nun jeder Mensch das Recht hat, sich, dem von mir gebrauchten Bilde gemäß, als Mittelpunkt seiner Gesell¬ schaft nicht bloß, sondern der Gesellschaft überhaupt zu fühlen, wie er ja auch den Ort, wo er gerade steht, als Mittelpunkt der Erdoberflüche einnehmen kann, so verdankt er doch seine Geltung zunächst nicht sich selbst und seiner Bedeutung, sondern nur der Zugehörigkeit zu einer jener Gesellschaftsgruppen, die sich wieder als Gesellschaft bezeichnen oder als Welt bezeichnet werden, seiner sozialen Stellung, wie man das ausdrückt. Auch für die Gesellschaft ist der Einzelne zunächst nur der Nenner, die Null oder die Nullen, die des Zählers Wert bestimmen, immerhin aber doch schon etwas mehr als für den Staat, der nur Nummern kennt, keine Zahlen. Das Streben der Gesell¬ schaft geht nun darauf hinaus, daß alle Menschen Nullen bleiben, der Zähler, das Charakteristische der einzelnen Persönlichkeit möglichst wenig zur Geltung gelange. Ist der Staat a. xriori sozialistisch, so ist die Gesellschaft g. xriori demokratisch, und zwar in dem Sinne, daß sie keine Erhebung über den Durch¬ schnitt, keine Vereinzelung und Absonderung dulden will. Früher beschränkte sich dieser Demokratismus, mit dem sich ein zäher Konservativismus unge¬ zwungen verbindet, auf engere Gebiete, auf die einzelnen Schichten der Gesell¬ schaft; jetzt, nachdem die alten Stunde zerstört sind, ist er nahezu allgemein geworden. Der Staat hebt die von der Natur mit den Einzelwesen gesetzten Unterschiede geradezu auf. stellt den Begriff Unterthan oder Staatsbürger hin, den man wohl durch einen Strich wiedergeben konnte; die Gesellschaft kann das nicht, da sie aus verschieden beschaffner Einzelwesen besteht, aber sie ver¬ langt, daß der Mensch ihr zuliebe sein Eigentümliches unterdrücke, und der vollkommne Gesellschaftsmensch ist denn auch wirklich — eine vollkommne Null. Es ist jedoch ein vergebliches Streben, die Persönlichkeit niederzuhalten; gelänge das, so wäre es die Selbstvernichtung der Gesellschaft ebenso gut, wie die vollständige Entfaltung und Entbindung aller Einzelkräfte eine solche wäre. Die Gesellschaft sieht sich also genötigt, die Persönlichkeit bis zu einem ge¬ wissen Grade gelten zu lassen, hält sich da uun aber, wie es schon vom Stand-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/211>, abgerufen am 06.06.2024.