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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht der Gesellschaft

Punkt der Vorsicht ganz verständlich ist, an das Gewordne und schiebt ster das
Sein den Schein unter. Sie erkennt, wie gesagt, im Grunde nur das lÄit
accompli an, erhält die vollendeten Thatsachen früherer Zeiten aufrecht, indem
sie Geburt und ererbten Besitz zu Schätzungswerten für den Menschen erhebt,
verhält sich dagegen dem Aufstrebenden gegenüber so spröde wie möglich und
läßt, wenn es denn einmal nicht anders sein kann, lieber die Anhängsel der
Persönlichkeit, Rang, Titel, Besitz, äußern Erfolg, als die Persönlichkeit selber
gelten, worin sie allerdings von dem richtigen Gefühl ausgeht, daß ihr eine
volle Erkenntnis der Persönlichkeit an und für sich nicht möglich ist. Gerade
diese Schätzung nach ihren Anhängseln läßt sich aber die bedeutende Persön¬
lichkeit nur ungern gefallen, sie will für das gelten, was sie ist und wirkt;
vielen bedeutenden Persönlichkeiten bleiben zudem Rang, Titel, Besitz, äußerer
Erfolg ihr Leben lang versagt; daher denn der ewige Kampf zwischen dem be¬
deutenden Menschen und der Gesellschaft, der unvermeidlich ist, auch wenn der
Einzelne für sich allein nichts erstrebt, sondern uneigennützig für die Mensch¬
heit wirkt -- die Gesellschaft, die stets Erschütterung und Umsturz fürchtet,
wird Uneigennützigkeit nun und nimmer zugestehen. So ist denn in der
That das Verhältnis von Einzelwesen und Gesellschaft ein ciroulus viriosus,
aus dem nicht herauszukommen ist, und das wird es wohl auch immer bleiben.
Dennoch verändert sich das Verhältnis der Gesellschaft zum Einzelnen hin
und wieder etwas, die Gesellschaft sieht sich nämlich bisweilen, wenn es
gar nicht mehr anders gehen will, zum Zweck der Selbsterhaltung genötigt,
andre Maßstäbe zur Beurteilung des Menschen anzunehmen. Die Perioden
der Weltgeschichte lassen sich ohne Zwang als die Geltungsperioden dieser
Maßstäbe auffassen; wir sehen Zeiten, wo die rohe Körperkraft Maßstab
der Schätzung ist, andre, wo Gewandtheit und Weltklugheit dazu erhoben
werden; auch der Gegensatz der Kraft, die Schwäche, wenn sie in der Gestalt
religiöser Demut und Frömmigkeit auftrat, ist ein solcher Maßstab gewesen,
doch hat man im allgemeinen weltliche Güter, Geburt und Besitz, in dieser
Beziehung besonders geschätzt. Während die Schätzung nach der Geburt in
dem Zeitalter der Revolutionen abgekommen ist, gilt die nach dem Besitz noch
heutzutage, und zwar schätzt man jetzt weniger den unbeweglichen, ererbten als
den beweglichen Besitz, das Geld., Dagegen kämpfen nun unsre sozialen Be¬
strebungen an, die man im wesentlichen auch als den Kampf um eine neue
Wertschätzung des Menschen betrachten kann. Man verlangt zunächst die "Ach¬
tung vor dem Menschenbilde," wie es der Dichter nennt, an und für sich;
weil ich Mensch bin, kann ich eine bestimmte Achtung ohne weiteres bean¬
spruchen, was ich besitze, ist dabei völlig gleichgültig. Aber weiter wird auch
die richtige Wertschätzung der menschlichen Thätigkeit und ihrer verschiednen
Zweige verlangt. In diesen beiden Forderungen liegt das, was ich Schutz
der Persönlichkeit genannt habe, eingeschlossen.


Die Pflicht der Gesellschaft

Punkt der Vorsicht ganz verständlich ist, an das Gewordne und schiebt ster das
Sein den Schein unter. Sie erkennt, wie gesagt, im Grunde nur das lÄit
accompli an, erhält die vollendeten Thatsachen früherer Zeiten aufrecht, indem
sie Geburt und ererbten Besitz zu Schätzungswerten für den Menschen erhebt,
verhält sich dagegen dem Aufstrebenden gegenüber so spröde wie möglich und
läßt, wenn es denn einmal nicht anders sein kann, lieber die Anhängsel der
Persönlichkeit, Rang, Titel, Besitz, äußern Erfolg, als die Persönlichkeit selber
gelten, worin sie allerdings von dem richtigen Gefühl ausgeht, daß ihr eine
volle Erkenntnis der Persönlichkeit an und für sich nicht möglich ist. Gerade
diese Schätzung nach ihren Anhängseln läßt sich aber die bedeutende Persön¬
lichkeit nur ungern gefallen, sie will für das gelten, was sie ist und wirkt;
vielen bedeutenden Persönlichkeiten bleiben zudem Rang, Titel, Besitz, äußerer
Erfolg ihr Leben lang versagt; daher denn der ewige Kampf zwischen dem be¬
deutenden Menschen und der Gesellschaft, der unvermeidlich ist, auch wenn der
Einzelne für sich allein nichts erstrebt, sondern uneigennützig für die Mensch¬
heit wirkt — die Gesellschaft, die stets Erschütterung und Umsturz fürchtet,
wird Uneigennützigkeit nun und nimmer zugestehen. So ist denn in der
That das Verhältnis von Einzelwesen und Gesellschaft ein ciroulus viriosus,
aus dem nicht herauszukommen ist, und das wird es wohl auch immer bleiben.
Dennoch verändert sich das Verhältnis der Gesellschaft zum Einzelnen hin
und wieder etwas, die Gesellschaft sieht sich nämlich bisweilen, wenn es
gar nicht mehr anders gehen will, zum Zweck der Selbsterhaltung genötigt,
andre Maßstäbe zur Beurteilung des Menschen anzunehmen. Die Perioden
der Weltgeschichte lassen sich ohne Zwang als die Geltungsperioden dieser
Maßstäbe auffassen; wir sehen Zeiten, wo die rohe Körperkraft Maßstab
der Schätzung ist, andre, wo Gewandtheit und Weltklugheit dazu erhoben
werden; auch der Gegensatz der Kraft, die Schwäche, wenn sie in der Gestalt
religiöser Demut und Frömmigkeit auftrat, ist ein solcher Maßstab gewesen,
doch hat man im allgemeinen weltliche Güter, Geburt und Besitz, in dieser
Beziehung besonders geschätzt. Während die Schätzung nach der Geburt in
dem Zeitalter der Revolutionen abgekommen ist, gilt die nach dem Besitz noch
heutzutage, und zwar schätzt man jetzt weniger den unbeweglichen, ererbten als
den beweglichen Besitz, das Geld., Dagegen kämpfen nun unsre sozialen Be¬
strebungen an, die man im wesentlichen auch als den Kampf um eine neue
Wertschätzung des Menschen betrachten kann. Man verlangt zunächst die „Ach¬
tung vor dem Menschenbilde," wie es der Dichter nennt, an und für sich;
weil ich Mensch bin, kann ich eine bestimmte Achtung ohne weiteres bean¬
spruchen, was ich besitze, ist dabei völlig gleichgültig. Aber weiter wird auch
die richtige Wertschätzung der menschlichen Thätigkeit und ihrer verschiednen
Zweige verlangt. In diesen beiden Forderungen liegt das, was ich Schutz
der Persönlichkeit genannt habe, eingeschlossen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/212>, abgerufen am 26.05.2024.