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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Pflicht der Gesellschaft

hingebungsvoller einer dies thut, er um so schlechter von der Gesellschaft be¬
handelt wird. Nun unterliegt es aber doch gar keinem Zweifel, daß der
wissenschaftlich forschende und der künstlerisch gestaltende Trieb so gut in der
menschlichen Natur liegen wie die andern, die Ernährungs- und Fortpslanzungs-
zwecken dienen, und da die Gesellschaft den Menschen nehmen muß, wie er ist,
so dürfen diese beiden Triebe unbedingt verlangen, daß ihnen Raum zur Ent¬
faltung gegeben werde. Aber sie treten nur in einer kleinen Anzahl von
Menschen besonders mächtig hervor, und schon deswegen möchte die Gesell¬
schaft in ihrem Gleichmachungsstreben sie nicht gelten lassen; da es ihr nicht
gelingen kann, sie zu unterdrücken, so rächt sie sich insofern, als sie nun auch
alle Personen, in denen diese Triebe schwächer oder gar nur scheinbar vor¬
handen sind, für voll anzunehmen sich anstellt, ja die schlechten Künstler und
Charlatane der Wissenschaft den echten Vertretern beider gegenüber sogar be¬
vorzugt, dann aber doch wieder auf Grund der schwächer" und verwerflichen
Leistungen, wie vor allem vom Nützlichkeitsstandpunkt aus Kunst und Wissen¬
schaft, namentlich die Kunst, zu verachten heuchelt. Hier haben wir es mit
einem Verhältnis zu thun, das nicht wesentlich anders werden kann, schon aus
dem Grunde, weil der Gesellschaft als solcher alle Maßstäbe für die Bedeutung
eines wissenschaftlichen und künstlerischen Werks und der dahinter stehenden
Persönlichkeiten abgehen und ewig abgehen werden. Was zu erreichen ist und
wiederum zum Schutz der Persönlichkeit gehört, ist, daß die künstlerische und
wissenschaftliche Thätigkeit als Produktivität in einem höhern Sinne anerkannt,
und daß dem künstlerisch oder wissenschaftlich hochbeanlagten Menschen durch
die oben geforderte größere Freiheit der Entwicklung überhaupt auch die seinige
bis zu einem gewissen Grade gesichert werde. Man braucht nicht zu fürchten,
daß dann die Talente oder gar die Genies gleich zu Dutzenden aufschießen
würden, im Gegenteil ist zu erwarten, daß, wenn die Bedingungen für die
Jugend aller Stände einigermaßen gleichgemacht sind, auf diesem Gebiete von
selbst eine sorgfältigere natürliche Auslese zustande kommen wird als unter
den jetzigen Verhältnissen, da die Treibhauspflanzeuzucht dann selbstverständlich
aufhören wird. Gelingt es, dem Talent in der Jugend eine einigermaßen freie
Entwicklung zu schaffen, so braucht man um sein späteres "Fortkommen" nicht
allzu sehr in Sorge zu sein. Unterdrücken läßt sich ja überhaupt eine be¬
deutende Begabung auf keine Weise, und die Leute, die behaupten, "der Welt
nnr darum ihre Meisterwerke schuldig geblieben zu sein, weil diese ihnen ihre
Renten schuldig geblieben sei," sind entweder Schwindler oder betrügen sich
selbst. "Die Litteratur, sagt Hebbel, ist nicht dazu da, die Leute, die nirgends
unterzukommen wissen, zu versorgen, und es ist ein besserer Zustand, wenn sie
dem Begabtesten das Notwendige versagt, als wenn sie es dem Unbegabten
gewährt. Denn das Talent ist nicht, wie die erworbne Fertigkeit, ein Nebenbei,
das der Besitzer beiseite wirft und mit etwas ersprießlichern vertauscht, wenn


Die Pflicht der Gesellschaft

hingebungsvoller einer dies thut, er um so schlechter von der Gesellschaft be¬
handelt wird. Nun unterliegt es aber doch gar keinem Zweifel, daß der
wissenschaftlich forschende und der künstlerisch gestaltende Trieb so gut in der
menschlichen Natur liegen wie die andern, die Ernährungs- und Fortpslanzungs-
zwecken dienen, und da die Gesellschaft den Menschen nehmen muß, wie er ist,
so dürfen diese beiden Triebe unbedingt verlangen, daß ihnen Raum zur Ent¬
faltung gegeben werde. Aber sie treten nur in einer kleinen Anzahl von
Menschen besonders mächtig hervor, und schon deswegen möchte die Gesell¬
schaft in ihrem Gleichmachungsstreben sie nicht gelten lassen; da es ihr nicht
gelingen kann, sie zu unterdrücken, so rächt sie sich insofern, als sie nun auch
alle Personen, in denen diese Triebe schwächer oder gar nur scheinbar vor¬
handen sind, für voll anzunehmen sich anstellt, ja die schlechten Künstler und
Charlatane der Wissenschaft den echten Vertretern beider gegenüber sogar be¬
vorzugt, dann aber doch wieder auf Grund der schwächer» und verwerflichen
Leistungen, wie vor allem vom Nützlichkeitsstandpunkt aus Kunst und Wissen¬
schaft, namentlich die Kunst, zu verachten heuchelt. Hier haben wir es mit
einem Verhältnis zu thun, das nicht wesentlich anders werden kann, schon aus
dem Grunde, weil der Gesellschaft als solcher alle Maßstäbe für die Bedeutung
eines wissenschaftlichen und künstlerischen Werks und der dahinter stehenden
Persönlichkeiten abgehen und ewig abgehen werden. Was zu erreichen ist und
wiederum zum Schutz der Persönlichkeit gehört, ist, daß die künstlerische und
wissenschaftliche Thätigkeit als Produktivität in einem höhern Sinne anerkannt,
und daß dem künstlerisch oder wissenschaftlich hochbeanlagten Menschen durch
die oben geforderte größere Freiheit der Entwicklung überhaupt auch die seinige
bis zu einem gewissen Grade gesichert werde. Man braucht nicht zu fürchten,
daß dann die Talente oder gar die Genies gleich zu Dutzenden aufschießen
würden, im Gegenteil ist zu erwarten, daß, wenn die Bedingungen für die
Jugend aller Stände einigermaßen gleichgemacht sind, auf diesem Gebiete von
selbst eine sorgfältigere natürliche Auslese zustande kommen wird als unter
den jetzigen Verhältnissen, da die Treibhauspflanzeuzucht dann selbstverständlich
aufhören wird. Gelingt es, dem Talent in der Jugend eine einigermaßen freie
Entwicklung zu schaffen, so braucht man um sein späteres „Fortkommen" nicht
allzu sehr in Sorge zu sein. Unterdrücken läßt sich ja überhaupt eine be¬
deutende Begabung auf keine Weise, und die Leute, die behaupten, „der Welt
nnr darum ihre Meisterwerke schuldig geblieben zu sein, weil diese ihnen ihre
Renten schuldig geblieben sei," sind entweder Schwindler oder betrügen sich
selbst. „Die Litteratur, sagt Hebbel, ist nicht dazu da, die Leute, die nirgends
unterzukommen wissen, zu versorgen, und es ist ein besserer Zustand, wenn sie
dem Begabtesten das Notwendige versagt, als wenn sie es dem Unbegabten
gewährt. Denn das Talent ist nicht, wie die erworbne Fertigkeit, ein Nebenbei,
das der Besitzer beiseite wirft und mit etwas ersprießlichern vertauscht, wenn


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[0218] Die Pflicht der Gesellschaft hingebungsvoller einer dies thut, er um so schlechter von der Gesellschaft be¬ handelt wird. Nun unterliegt es aber doch gar keinem Zweifel, daß der wissenschaftlich forschende und der künstlerisch gestaltende Trieb so gut in der menschlichen Natur liegen wie die andern, die Ernährungs- und Fortpslanzungs- zwecken dienen, und da die Gesellschaft den Menschen nehmen muß, wie er ist, so dürfen diese beiden Triebe unbedingt verlangen, daß ihnen Raum zur Ent¬ faltung gegeben werde. Aber sie treten nur in einer kleinen Anzahl von Menschen besonders mächtig hervor, und schon deswegen möchte die Gesell¬ schaft in ihrem Gleichmachungsstreben sie nicht gelten lassen; da es ihr nicht gelingen kann, sie zu unterdrücken, so rächt sie sich insofern, als sie nun auch alle Personen, in denen diese Triebe schwächer oder gar nur scheinbar vor¬ handen sind, für voll anzunehmen sich anstellt, ja die schlechten Künstler und Charlatane der Wissenschaft den echten Vertretern beider gegenüber sogar be¬ vorzugt, dann aber doch wieder auf Grund der schwächer» und verwerflichen Leistungen, wie vor allem vom Nützlichkeitsstandpunkt aus Kunst und Wissen¬ schaft, namentlich die Kunst, zu verachten heuchelt. Hier haben wir es mit einem Verhältnis zu thun, das nicht wesentlich anders werden kann, schon aus dem Grunde, weil der Gesellschaft als solcher alle Maßstäbe für die Bedeutung eines wissenschaftlichen und künstlerischen Werks und der dahinter stehenden Persönlichkeiten abgehen und ewig abgehen werden. Was zu erreichen ist und wiederum zum Schutz der Persönlichkeit gehört, ist, daß die künstlerische und wissenschaftliche Thätigkeit als Produktivität in einem höhern Sinne anerkannt, und daß dem künstlerisch oder wissenschaftlich hochbeanlagten Menschen durch die oben geforderte größere Freiheit der Entwicklung überhaupt auch die seinige bis zu einem gewissen Grade gesichert werde. Man braucht nicht zu fürchten, daß dann die Talente oder gar die Genies gleich zu Dutzenden aufschießen würden, im Gegenteil ist zu erwarten, daß, wenn die Bedingungen für die Jugend aller Stände einigermaßen gleichgemacht sind, auf diesem Gebiete von selbst eine sorgfältigere natürliche Auslese zustande kommen wird als unter den jetzigen Verhältnissen, da die Treibhauspflanzeuzucht dann selbstverständlich aufhören wird. Gelingt es, dem Talent in der Jugend eine einigermaßen freie Entwicklung zu schaffen, so braucht man um sein späteres „Fortkommen" nicht allzu sehr in Sorge zu sein. Unterdrücken läßt sich ja überhaupt eine be¬ deutende Begabung auf keine Weise, und die Leute, die behaupten, „der Welt nnr darum ihre Meisterwerke schuldig geblieben zu sein, weil diese ihnen ihre Renten schuldig geblieben sei," sind entweder Schwindler oder betrügen sich selbst. „Die Litteratur, sagt Hebbel, ist nicht dazu da, die Leute, die nirgends unterzukommen wissen, zu versorgen, und es ist ein besserer Zustand, wenn sie dem Begabtesten das Notwendige versagt, als wenn sie es dem Unbegabten gewährt. Denn das Talent ist nicht, wie die erworbne Fertigkeit, ein Nebenbei, das der Besitzer beiseite wirft und mit etwas ersprießlichern vertauscht, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/218>, abgerufen am 06.06.2024.