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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Zeitungen, die das Vaterland lieben

auch das weltmännische Gefühl für das Richtige und Schickliche. Denn es
ist doch mindestens sehr unvorsichtig, wenn ein Laie die Vermutung ausspricht,
der Sachverständige habe die Punkte bei einer Streitfrage übersehen, die der
Laie sieht. In dieser Lage befinden sich jene Zeitungen; denn sie sind die
Laien, und die deutschen Staatsmänner sind die Sachverständigen. Und nun
srcigen wir eine unbeteiligte Zuhörerschaft dieser Auseinandersetzung: Ist es
nicht kurzsichtig und voreilig, den im Geschüft ergrauten deutschen Staats¬
männern zuzutrauen, sie wären so unbekannt mit der englischen Geschichte, so
unbekannt mit der Geschichte überhaupt, so ununterrichtet über die letzten von
jenen Staatsmännern selbst herbeigeführten Ereignisse in Südafrika, daß sie
nicht wüßten, England unternehme den Sudanfeldzug nur zum eignen Nutzen,
und zwar zur Befestigung seiner Stellung in Ägypten? Und England werde
selbst zufällige, für Italien vorteilhafte Nebenwirkungen zu vermeiden suchen,
wenn nicht die gute Meinung Italiens als Gegenwert genügend erscheine?

Keine vaterlandstreue Zeitung darf dem Auslande gegenüber die Be¬
hauptung aufstellen, daß die deutsche Staatskunst so offen daliegende Dinge
nicht zu erkennen vermöge. Das aber haben jene Zeitungen gethan. Es
wäre ihrem Ansehen förderlicher gewesen, wenn sie sich bemüht hätten, ihre
Urteilskraft etwa in folgender Weise arbeiten zu lassen.

Nehmen wir an, Deutschland und mit ihm die beiden andern Dreibunds-
müchte hätten ihre Zustimmung zu der Verwendung der ägyptischen Staots-
gelder versagt. Wäre dadurch die thatsächliche Verwendung der Gelder ver¬
hindert worden? Diese Frage ist keineswegs ohne weiteres mit Ja zu
beantworten. Die Einkünfte jener unter englischer Verwaltung stehenden
ägyptischen Kasse sind zur Deckung ägyptischer Schuldenzinsen bestimmt; bei der
Verwaltung der Kasse wirkt eine europäische Kommission mit. Unzweifelhaft
dürfen die Bestände der Kasse nicht zu anderen Zwecken angegriffen werden,
solange sie zur Deckung der Schuldenzinsen nicht ausreichen oder damit nur
eben im Gleichgewicht stehen. Wie aber, wenn sie diese Grenze überschreiten?
Ist dann überhaupt die Zustimmung der europäischen Kommission notwendig,
obwohl diese Kvmmissson zu dem Schutze der europäischen Gläubiger Ägyptens
eingesetzt war und zur Sicherung gegen die Gefahren aus der Gewährleistung,
die auch Deutschland für gewisse ägyptische Anleihen übernommen hatte? Es
ist hier ein Rechtsverhältnis gegeben, das, wie völkerrechtliche Abmachungen
überhaupt, nicht allzusehr nach dem Wortlaute entschieden werden darf. Man
wird einwenden, England habe das Entscheidungsrecht der Kommission selbst
zugestanden, indem es bei ihr den Antrag stellte. Ist man aber dieser Schlu߬
folgerung so sicher? Hat nicht England schon viel verwunderlichere Bocksprünge
vor dem gemeinen Menschenverstande gemacht, als den, erst die Zustimmung
der fremden Mächte nachzusuchen und dann diese Zustimmung für überflüssig
zu erklären, wenn sie versagt wird? Ist die Erklärung, der Mehrheitsbeschluß


Zeitungen, die das Vaterland lieben

auch das weltmännische Gefühl für das Richtige und Schickliche. Denn es
ist doch mindestens sehr unvorsichtig, wenn ein Laie die Vermutung ausspricht,
der Sachverständige habe die Punkte bei einer Streitfrage übersehen, die der
Laie sieht. In dieser Lage befinden sich jene Zeitungen; denn sie sind die
Laien, und die deutschen Staatsmänner sind die Sachverständigen. Und nun
srcigen wir eine unbeteiligte Zuhörerschaft dieser Auseinandersetzung: Ist es
nicht kurzsichtig und voreilig, den im Geschüft ergrauten deutschen Staats¬
männern zuzutrauen, sie wären so unbekannt mit der englischen Geschichte, so
unbekannt mit der Geschichte überhaupt, so ununterrichtet über die letzten von
jenen Staatsmännern selbst herbeigeführten Ereignisse in Südafrika, daß sie
nicht wüßten, England unternehme den Sudanfeldzug nur zum eignen Nutzen,
und zwar zur Befestigung seiner Stellung in Ägypten? Und England werde
selbst zufällige, für Italien vorteilhafte Nebenwirkungen zu vermeiden suchen,
wenn nicht die gute Meinung Italiens als Gegenwert genügend erscheine?

Keine vaterlandstreue Zeitung darf dem Auslande gegenüber die Be¬
hauptung aufstellen, daß die deutsche Staatskunst so offen daliegende Dinge
nicht zu erkennen vermöge. Das aber haben jene Zeitungen gethan. Es
wäre ihrem Ansehen förderlicher gewesen, wenn sie sich bemüht hätten, ihre
Urteilskraft etwa in folgender Weise arbeiten zu lassen.

Nehmen wir an, Deutschland und mit ihm die beiden andern Dreibunds-
müchte hätten ihre Zustimmung zu der Verwendung der ägyptischen Staots-
gelder versagt. Wäre dadurch die thatsächliche Verwendung der Gelder ver¬
hindert worden? Diese Frage ist keineswegs ohne weiteres mit Ja zu
beantworten. Die Einkünfte jener unter englischer Verwaltung stehenden
ägyptischen Kasse sind zur Deckung ägyptischer Schuldenzinsen bestimmt; bei der
Verwaltung der Kasse wirkt eine europäische Kommission mit. Unzweifelhaft
dürfen die Bestände der Kasse nicht zu anderen Zwecken angegriffen werden,
solange sie zur Deckung der Schuldenzinsen nicht ausreichen oder damit nur
eben im Gleichgewicht stehen. Wie aber, wenn sie diese Grenze überschreiten?
Ist dann überhaupt die Zustimmung der europäischen Kommission notwendig,
obwohl diese Kvmmissson zu dem Schutze der europäischen Gläubiger Ägyptens
eingesetzt war und zur Sicherung gegen die Gefahren aus der Gewährleistung,
die auch Deutschland für gewisse ägyptische Anleihen übernommen hatte? Es
ist hier ein Rechtsverhältnis gegeben, das, wie völkerrechtliche Abmachungen
überhaupt, nicht allzusehr nach dem Wortlaute entschieden werden darf. Man
wird einwenden, England habe das Entscheidungsrecht der Kommission selbst
zugestanden, indem es bei ihr den Antrag stellte. Ist man aber dieser Schlu߬
folgerung so sicher? Hat nicht England schon viel verwunderlichere Bocksprünge
vor dem gemeinen Menschenverstande gemacht, als den, erst die Zustimmung
der fremden Mächte nachzusuchen und dann diese Zustimmung für überflüssig
zu erklären, wenn sie versagt wird? Ist die Erklärung, der Mehrheitsbeschluß


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[0250] Zeitungen, die das Vaterland lieben auch das weltmännische Gefühl für das Richtige und Schickliche. Denn es ist doch mindestens sehr unvorsichtig, wenn ein Laie die Vermutung ausspricht, der Sachverständige habe die Punkte bei einer Streitfrage übersehen, die der Laie sieht. In dieser Lage befinden sich jene Zeitungen; denn sie sind die Laien, und die deutschen Staatsmänner sind die Sachverständigen. Und nun srcigen wir eine unbeteiligte Zuhörerschaft dieser Auseinandersetzung: Ist es nicht kurzsichtig und voreilig, den im Geschüft ergrauten deutschen Staats¬ männern zuzutrauen, sie wären so unbekannt mit der englischen Geschichte, so unbekannt mit der Geschichte überhaupt, so ununterrichtet über die letzten von jenen Staatsmännern selbst herbeigeführten Ereignisse in Südafrika, daß sie nicht wüßten, England unternehme den Sudanfeldzug nur zum eignen Nutzen, und zwar zur Befestigung seiner Stellung in Ägypten? Und England werde selbst zufällige, für Italien vorteilhafte Nebenwirkungen zu vermeiden suchen, wenn nicht die gute Meinung Italiens als Gegenwert genügend erscheine? Keine vaterlandstreue Zeitung darf dem Auslande gegenüber die Be¬ hauptung aufstellen, daß die deutsche Staatskunst so offen daliegende Dinge nicht zu erkennen vermöge. Das aber haben jene Zeitungen gethan. Es wäre ihrem Ansehen förderlicher gewesen, wenn sie sich bemüht hätten, ihre Urteilskraft etwa in folgender Weise arbeiten zu lassen. Nehmen wir an, Deutschland und mit ihm die beiden andern Dreibunds- müchte hätten ihre Zustimmung zu der Verwendung der ägyptischen Staots- gelder versagt. Wäre dadurch die thatsächliche Verwendung der Gelder ver¬ hindert worden? Diese Frage ist keineswegs ohne weiteres mit Ja zu beantworten. Die Einkünfte jener unter englischer Verwaltung stehenden ägyptischen Kasse sind zur Deckung ägyptischer Schuldenzinsen bestimmt; bei der Verwaltung der Kasse wirkt eine europäische Kommission mit. Unzweifelhaft dürfen die Bestände der Kasse nicht zu anderen Zwecken angegriffen werden, solange sie zur Deckung der Schuldenzinsen nicht ausreichen oder damit nur eben im Gleichgewicht stehen. Wie aber, wenn sie diese Grenze überschreiten? Ist dann überhaupt die Zustimmung der europäischen Kommission notwendig, obwohl diese Kvmmissson zu dem Schutze der europäischen Gläubiger Ägyptens eingesetzt war und zur Sicherung gegen die Gefahren aus der Gewährleistung, die auch Deutschland für gewisse ägyptische Anleihen übernommen hatte? Es ist hier ein Rechtsverhältnis gegeben, das, wie völkerrechtliche Abmachungen überhaupt, nicht allzusehr nach dem Wortlaute entschieden werden darf. Man wird einwenden, England habe das Entscheidungsrecht der Kommission selbst zugestanden, indem es bei ihr den Antrag stellte. Ist man aber dieser Schlu߬ folgerung so sicher? Hat nicht England schon viel verwunderlichere Bocksprünge vor dem gemeinen Menschenverstande gemacht, als den, erst die Zustimmung der fremden Mächte nachzusuchen und dann diese Zustimmung für überflüssig zu erklären, wenn sie versagt wird? Ist die Erklärung, der Mehrheitsbeschluß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/250>, abgerufen am 12.05.2024.