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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Lage des türkischen Staates

ständlichen Phrase abgethan. Ein geistvoller Aufsatz von G. de Lapouge, "Leben
und Sterben der Völker" (übersetzt von Otto Ammon, 1894),"1 zeigt, wie wir
uns derartige in der Geschichte so vieler Völker zu beobachtende Vorgänge zu
erklären haben. Die Türken traten als ein Eroberervolk in die Geschichte ein,
stolz, tapfer, zum Herrschen geboren; aber nur wenig zahlreich war ihr Stamm,
unter Ertograul nicht mehr als vierhundert oghusische Familien. Die Blüte der
Männerkraft blieb auf den Schlachtfeldern ihrer zahlreichen Eroberungszüge.
Die Überbleibenden bildeten ein verschwindendes Häuflein gegenüber der Zahl
der beherrschten Völker, sie vermischten sich mit diesen wie kaum ein andres
Eroberervolk und füllten ihre Harems mit Frauen der verschiedensten unter-
worsnen Völker an, Circassierinnen, Georgierinnen, Armenierinnen, Griechinnen,
Slawinnen. So verfielen sie unrettbar schnell dem Schicksal aller Eroberer¬
völker, ihre Nasse ging nach dem Gesetz der "rückschreitenden Auslese" unter.
In der That giebt es heute in der Türkei keine Türken mehr. Die heutigen
Bewohner haben -- was sie allerdings nur verschönern kann -- kaukasische,
armenische,**) griechische, slawische Züge, nur nicht türkische, und selbst im
osmanischen Stammland, in Kleinasien, trifft man jetzt wieder, wie vor Alters,
nur noch friedliche, ackerbauende Phrygier, Lydier, Syrer --

Haben aber die Türken ihre alte kriegerische Stärke eingebüßt, so sind sie
in Werken des Friedens der überlegnen europäischen Kultur erst recht nicht
gewachsen; sie werden niemals deren Wettbewerb aushalten können. Aber auch
dazu, daß sie von ihr lernen, ist wenig Aussicht vorhanden. Die modernen
Errungenschaften der abendländischen Kultur und so vieles, was uns unent¬
behrlich dünkt, erscheint ihnen verächtlich -- man weiß nicht, ob man sie wegen
ihrer Bedürfnislosigkeit bewundern oder wegen ihrer Gleichgiltigkeit und Träg-
keit verachten soll. Wie der fünfhundertjährige Aufenthalt in den Heimat¬
länder der hellenischen Kultur spurlos an ihnen vorübergegangen ist, so bleiben
sie auch allen tiefern Einwirkungen der europäischen Kultur völlig unzugänglich.
Wenn man die Summe ihres ganzen Wirkens zieht, so wird die Wagschale ihrer
Schuld niedergeschnellt durch die Thatsache, daß von ihrer ganzen Eroberung
nichts zurückgeblieben ist, als die Öde und die Verwüstung, Sie haben nieder¬
gerissen, aber nichts neues aufgebaut. Nicht allein die Knlturschöpfungen
ehemals hochzivilisirter Völker sind vernichtet worden, sondern auch diese Völker
selbst sind durch eine lange, barbarische Schule geistig so gesunken, daß sie heute
denken und fühlen wie Türken und Tataren.




") In der Täglichen Rundschau vom 18. November 1M4,
""°) Ausgesprochen armenische Züge hat z. B. merkwürdigerweise der jetzige Sultan,
Die Lage des türkischen Staates

ständlichen Phrase abgethan. Ein geistvoller Aufsatz von G. de Lapouge, „Leben
und Sterben der Völker" (übersetzt von Otto Ammon, 1894),"1 zeigt, wie wir
uns derartige in der Geschichte so vieler Völker zu beobachtende Vorgänge zu
erklären haben. Die Türken traten als ein Eroberervolk in die Geschichte ein,
stolz, tapfer, zum Herrschen geboren; aber nur wenig zahlreich war ihr Stamm,
unter Ertograul nicht mehr als vierhundert oghusische Familien. Die Blüte der
Männerkraft blieb auf den Schlachtfeldern ihrer zahlreichen Eroberungszüge.
Die Überbleibenden bildeten ein verschwindendes Häuflein gegenüber der Zahl
der beherrschten Völker, sie vermischten sich mit diesen wie kaum ein andres
Eroberervolk und füllten ihre Harems mit Frauen der verschiedensten unter-
worsnen Völker an, Circassierinnen, Georgierinnen, Armenierinnen, Griechinnen,
Slawinnen. So verfielen sie unrettbar schnell dem Schicksal aller Eroberer¬
völker, ihre Nasse ging nach dem Gesetz der „rückschreitenden Auslese" unter.
In der That giebt es heute in der Türkei keine Türken mehr. Die heutigen
Bewohner haben — was sie allerdings nur verschönern kann — kaukasische,
armenische,**) griechische, slawische Züge, nur nicht türkische, und selbst im
osmanischen Stammland, in Kleinasien, trifft man jetzt wieder, wie vor Alters,
nur noch friedliche, ackerbauende Phrygier, Lydier, Syrer —

Haben aber die Türken ihre alte kriegerische Stärke eingebüßt, so sind sie
in Werken des Friedens der überlegnen europäischen Kultur erst recht nicht
gewachsen; sie werden niemals deren Wettbewerb aushalten können. Aber auch
dazu, daß sie von ihr lernen, ist wenig Aussicht vorhanden. Die modernen
Errungenschaften der abendländischen Kultur und so vieles, was uns unent¬
behrlich dünkt, erscheint ihnen verächtlich — man weiß nicht, ob man sie wegen
ihrer Bedürfnislosigkeit bewundern oder wegen ihrer Gleichgiltigkeit und Träg-
keit verachten soll. Wie der fünfhundertjährige Aufenthalt in den Heimat¬
länder der hellenischen Kultur spurlos an ihnen vorübergegangen ist, so bleiben
sie auch allen tiefern Einwirkungen der europäischen Kultur völlig unzugänglich.
Wenn man die Summe ihres ganzen Wirkens zieht, so wird die Wagschale ihrer
Schuld niedergeschnellt durch die Thatsache, daß von ihrer ganzen Eroberung
nichts zurückgeblieben ist, als die Öde und die Verwüstung, Sie haben nieder¬
gerissen, aber nichts neues aufgebaut. Nicht allein die Knlturschöpfungen
ehemals hochzivilisirter Völker sind vernichtet worden, sondern auch diese Völker
selbst sind durch eine lange, barbarische Schule geistig so gesunken, daß sie heute
denken und fühlen wie Türken und Tataren.




«) In der Täglichen Rundschau vom 18. November 1M4,
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[0271] Die Lage des türkischen Staates ständlichen Phrase abgethan. Ein geistvoller Aufsatz von G. de Lapouge, „Leben und Sterben der Völker" (übersetzt von Otto Ammon, 1894),"1 zeigt, wie wir uns derartige in der Geschichte so vieler Völker zu beobachtende Vorgänge zu erklären haben. Die Türken traten als ein Eroberervolk in die Geschichte ein, stolz, tapfer, zum Herrschen geboren; aber nur wenig zahlreich war ihr Stamm, unter Ertograul nicht mehr als vierhundert oghusische Familien. Die Blüte der Männerkraft blieb auf den Schlachtfeldern ihrer zahlreichen Eroberungszüge. Die Überbleibenden bildeten ein verschwindendes Häuflein gegenüber der Zahl der beherrschten Völker, sie vermischten sich mit diesen wie kaum ein andres Eroberervolk und füllten ihre Harems mit Frauen der verschiedensten unter- worsnen Völker an, Circassierinnen, Georgierinnen, Armenierinnen, Griechinnen, Slawinnen. So verfielen sie unrettbar schnell dem Schicksal aller Eroberer¬ völker, ihre Nasse ging nach dem Gesetz der „rückschreitenden Auslese" unter. In der That giebt es heute in der Türkei keine Türken mehr. Die heutigen Bewohner haben — was sie allerdings nur verschönern kann — kaukasische, armenische,**) griechische, slawische Züge, nur nicht türkische, und selbst im osmanischen Stammland, in Kleinasien, trifft man jetzt wieder, wie vor Alters, nur noch friedliche, ackerbauende Phrygier, Lydier, Syrer — Haben aber die Türken ihre alte kriegerische Stärke eingebüßt, so sind sie in Werken des Friedens der überlegnen europäischen Kultur erst recht nicht gewachsen; sie werden niemals deren Wettbewerb aushalten können. Aber auch dazu, daß sie von ihr lernen, ist wenig Aussicht vorhanden. Die modernen Errungenschaften der abendländischen Kultur und so vieles, was uns unent¬ behrlich dünkt, erscheint ihnen verächtlich — man weiß nicht, ob man sie wegen ihrer Bedürfnislosigkeit bewundern oder wegen ihrer Gleichgiltigkeit und Träg- keit verachten soll. Wie der fünfhundertjährige Aufenthalt in den Heimat¬ länder der hellenischen Kultur spurlos an ihnen vorübergegangen ist, so bleiben sie auch allen tiefern Einwirkungen der europäischen Kultur völlig unzugänglich. Wenn man die Summe ihres ganzen Wirkens zieht, so wird die Wagschale ihrer Schuld niedergeschnellt durch die Thatsache, daß von ihrer ganzen Eroberung nichts zurückgeblieben ist, als die Öde und die Verwüstung, Sie haben nieder¬ gerissen, aber nichts neues aufgebaut. Nicht allein die Knlturschöpfungen ehemals hochzivilisirter Völker sind vernichtet worden, sondern auch diese Völker selbst sind durch eine lange, barbarische Schule geistig so gesunken, daß sie heute denken und fühlen wie Türken und Tataren. «) In der Täglichen Rundschau vom 18. November 1M4, ""°) Ausgesprochen armenische Züge hat z. B. merkwürdigerweise der jetzige Sultan,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/271>, abgerufen am 17.06.2024.