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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Lage des türkischen Staates

In all diesem Niedergang, den der türkische Name gebracht und erlitten
hat, hat nur eine Macht ihre Stärke bewahrt: der Islam, Er bleibt un¬
geschwächt die größte geistige und moralische Kraft, die das türkische Reich
noch zusammenhält. Wie einst jahrhundertelang die Türken die grüne Fahne
des Propheten von Sieg zu Sieg trugen, so ist jetzt wieder der Islam der
starke Schutz und Schirm des türkischen Namens durch die gewaltige moralische
Kraft, die er noch immer auf die Gemüter seiner Anhänger ausübt, und durch
die Eroberung so vieler fremden Volkskraft, die er für das Turkmenen ge¬
wonnen hat. "Im Orient ist Glaube Nationalität," sagt A. zur Helle*) treffend.
Durch den bloßen Übertritt zum Islam wurde der Anatolier, der Grieche,
der Slawe auch zum Türken, nahm türkische Kleidung und Sprache an, dachte
und fühlte als Türke. Diese Umwandlung ist so stark und nachhaltig gewesen,
daß sie die Rassenunterschiede in der Türkei fast völlig zurückgedrängt und
verwischt hat; die wichtigste Einteilung ist nicht die in Nassen, sondern die in
Moslem und Rajah. Der augenfälligste Beweis dafür, wie tief diese Schei¬
dung geht, ist der, daß nur der Moslem im türkischen Reiche für würdig er¬
achtet wird, das Vaterland zu verteidigen und Heeresdienst zu leisten, aber
nicht der Rajah, der Christ (Armenier, Grieche) oder der Jude; diese werden
nicht zum Heeresdienst herangezogen, sondern haben nur eine Wehrsteuer zu
zahlen (jährlich 36 Piaster 6 Mark 50 Pfennige, von der Geburt bis zum
sechzigsten Lebensjahre).

Über das wahrhaft babylonische Völkergemisch des türkischen Reichs einen
Überblick zu gewinnen, ist nicht leicht. Auf diesem Völkermarkt hat sich eine
wahre ethnographische Musterkarte der verschiedensten Rassen, Typen und
Trachten zusammengefunden. In Anatolien allein kann man mehr als fünfzig
verschiedne Sprachen zählen. Dabei ist es eine "jedenfalls unerwartete That¬
sache, daß in dem Reiche des buntesten Völkergemisches die Abschließung der
verschiedenartigen Menschengemeinschaften gegen einander strenger ist als irgendwo
anders. Der Osmanly verachtet den Turkmenen und verabscheut den Kysylbash,
der Kurde haßt den Türken, der Armenier den Kurden, der Araber den Türken,
der Jude den Christen." Alle die verschiednen Nationen wohnen ganz unver¬
mittelt neben einander, in den Städten in besondern Stadtvierteln, auf dem
Lande stets in besondern Dörfern, niemals wohnen verschiedne Rassen und Re¬
ligionen in ein und demselben Dorfe zusammen.

Die Nachkommen der osmanischen Türken nennen sich, obwohl sie wenig
mehr mit ihren ruhmreichen Vorfahren gemein haben, noch immer stolz Osmanly,
um sich mit diesem Ehrennamen von ihren türkischen Stammesvettern zu unter¬
scheiden, die an der ruhmreichen Gründung des osmanischen Reiches keinen
Anteil haben: von den jetzt meist schon seßhaft gewordnen Turkmenen und den



*) Die Völker deS oSnmmschen Reichs. Wien, 1877.
Die Lage des türkischen Staates

In all diesem Niedergang, den der türkische Name gebracht und erlitten
hat, hat nur eine Macht ihre Stärke bewahrt: der Islam, Er bleibt un¬
geschwächt die größte geistige und moralische Kraft, die das türkische Reich
noch zusammenhält. Wie einst jahrhundertelang die Türken die grüne Fahne
des Propheten von Sieg zu Sieg trugen, so ist jetzt wieder der Islam der
starke Schutz und Schirm des türkischen Namens durch die gewaltige moralische
Kraft, die er noch immer auf die Gemüter seiner Anhänger ausübt, und durch
die Eroberung so vieler fremden Volkskraft, die er für das Turkmenen ge¬
wonnen hat. „Im Orient ist Glaube Nationalität," sagt A. zur Helle*) treffend.
Durch den bloßen Übertritt zum Islam wurde der Anatolier, der Grieche,
der Slawe auch zum Türken, nahm türkische Kleidung und Sprache an, dachte
und fühlte als Türke. Diese Umwandlung ist so stark und nachhaltig gewesen,
daß sie die Rassenunterschiede in der Türkei fast völlig zurückgedrängt und
verwischt hat; die wichtigste Einteilung ist nicht die in Nassen, sondern die in
Moslem und Rajah. Der augenfälligste Beweis dafür, wie tief diese Schei¬
dung geht, ist der, daß nur der Moslem im türkischen Reiche für würdig er¬
achtet wird, das Vaterland zu verteidigen und Heeresdienst zu leisten, aber
nicht der Rajah, der Christ (Armenier, Grieche) oder der Jude; diese werden
nicht zum Heeresdienst herangezogen, sondern haben nur eine Wehrsteuer zu
zahlen (jährlich 36 Piaster 6 Mark 50 Pfennige, von der Geburt bis zum
sechzigsten Lebensjahre).

Über das wahrhaft babylonische Völkergemisch des türkischen Reichs einen
Überblick zu gewinnen, ist nicht leicht. Auf diesem Völkermarkt hat sich eine
wahre ethnographische Musterkarte der verschiedensten Rassen, Typen und
Trachten zusammengefunden. In Anatolien allein kann man mehr als fünfzig
verschiedne Sprachen zählen. Dabei ist es eine „jedenfalls unerwartete That¬
sache, daß in dem Reiche des buntesten Völkergemisches die Abschließung der
verschiedenartigen Menschengemeinschaften gegen einander strenger ist als irgendwo
anders. Der Osmanly verachtet den Turkmenen und verabscheut den Kysylbash,
der Kurde haßt den Türken, der Armenier den Kurden, der Araber den Türken,
der Jude den Christen." Alle die verschiednen Nationen wohnen ganz unver¬
mittelt neben einander, in den Städten in besondern Stadtvierteln, auf dem
Lande stets in besondern Dörfern, niemals wohnen verschiedne Rassen und Re¬
ligionen in ein und demselben Dorfe zusammen.

Die Nachkommen der osmanischen Türken nennen sich, obwohl sie wenig
mehr mit ihren ruhmreichen Vorfahren gemein haben, noch immer stolz Osmanly,
um sich mit diesem Ehrennamen von ihren türkischen Stammesvettern zu unter¬
scheiden, die an der ruhmreichen Gründung des osmanischen Reiches keinen
Anteil haben: von den jetzt meist schon seßhaft gewordnen Turkmenen und den



*) Die Völker deS oSnmmschen Reichs. Wien, 1877.
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[0272] Die Lage des türkischen Staates In all diesem Niedergang, den der türkische Name gebracht und erlitten hat, hat nur eine Macht ihre Stärke bewahrt: der Islam, Er bleibt un¬ geschwächt die größte geistige und moralische Kraft, die das türkische Reich noch zusammenhält. Wie einst jahrhundertelang die Türken die grüne Fahne des Propheten von Sieg zu Sieg trugen, so ist jetzt wieder der Islam der starke Schutz und Schirm des türkischen Namens durch die gewaltige moralische Kraft, die er noch immer auf die Gemüter seiner Anhänger ausübt, und durch die Eroberung so vieler fremden Volkskraft, die er für das Turkmenen ge¬ wonnen hat. „Im Orient ist Glaube Nationalität," sagt A. zur Helle*) treffend. Durch den bloßen Übertritt zum Islam wurde der Anatolier, der Grieche, der Slawe auch zum Türken, nahm türkische Kleidung und Sprache an, dachte und fühlte als Türke. Diese Umwandlung ist so stark und nachhaltig gewesen, daß sie die Rassenunterschiede in der Türkei fast völlig zurückgedrängt und verwischt hat; die wichtigste Einteilung ist nicht die in Nassen, sondern die in Moslem und Rajah. Der augenfälligste Beweis dafür, wie tief diese Schei¬ dung geht, ist der, daß nur der Moslem im türkischen Reiche für würdig er¬ achtet wird, das Vaterland zu verteidigen und Heeresdienst zu leisten, aber nicht der Rajah, der Christ (Armenier, Grieche) oder der Jude; diese werden nicht zum Heeresdienst herangezogen, sondern haben nur eine Wehrsteuer zu zahlen (jährlich 36 Piaster 6 Mark 50 Pfennige, von der Geburt bis zum sechzigsten Lebensjahre). Über das wahrhaft babylonische Völkergemisch des türkischen Reichs einen Überblick zu gewinnen, ist nicht leicht. Auf diesem Völkermarkt hat sich eine wahre ethnographische Musterkarte der verschiedensten Rassen, Typen und Trachten zusammengefunden. In Anatolien allein kann man mehr als fünfzig verschiedne Sprachen zählen. Dabei ist es eine „jedenfalls unerwartete That¬ sache, daß in dem Reiche des buntesten Völkergemisches die Abschließung der verschiedenartigen Menschengemeinschaften gegen einander strenger ist als irgendwo anders. Der Osmanly verachtet den Turkmenen und verabscheut den Kysylbash, der Kurde haßt den Türken, der Armenier den Kurden, der Araber den Türken, der Jude den Christen." Alle die verschiednen Nationen wohnen ganz unver¬ mittelt neben einander, in den Städten in besondern Stadtvierteln, auf dem Lande stets in besondern Dörfern, niemals wohnen verschiedne Rassen und Re¬ ligionen in ein und demselben Dorfe zusammen. Die Nachkommen der osmanischen Türken nennen sich, obwohl sie wenig mehr mit ihren ruhmreichen Vorfahren gemein haben, noch immer stolz Osmanly, um sich mit diesem Ehrennamen von ihren türkischen Stammesvettern zu unter¬ scheiden, die an der ruhmreichen Gründung des osmanischen Reiches keinen Anteil haben: von den jetzt meist schon seßhaft gewordnen Turkmenen und den *) Die Völker deS oSnmmschen Reichs. Wien, 1877.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/272>, abgerufen am 17.06.2024.