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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Lage des türkischen Staates

verschiedne Gewehrsysteme vorhanden (Snider, Winchester, Remington, Peabody-
Martini und Mauser N. 87 und 90; die letztgenannten sind erst vor kurzem
durch einen Erlaß des Sultans endlich an die Armee ausgegeben worden);
die Feldartillerie ist mit Kruppschen Geschützen ausgerüstet, aber leider nur
sehr wenig kriegsmäßig ausgebildet, da Schießübungen nur sehr selten und ver¬
einzelt stattfinden.

Unser Kaiser soll bei seinem Besuch in Konstantinopel den Ausspruch
gethan haben, die Soldaten, die er beim SelamA") gesehen habe, seien die
schönsten Soldaten der Welt. In der That muß der Ersatz der türkischen
Armee immer noch als ganz vorzüglich bezeichnet werden. Zwei Eigenschaften
sind es vor allem, die den türkischen Soldaten auszeichnen, einerseits seine
Genügsamkeit und seine Zähigkeit, die ihn die größten Entbehrungen und
Strapazen zu ertragen befähigen, andrerseits sein religiöser Fanatismus, der
ihn vor keiner Gefahr zurückschrecken läßt, da nach den Lehren des Islam
jedem Menschen sein unabänderliches Schicksal schon im voraus bestimmt ist,
und da ihm der Tod auf dem Schlachtfelde die Thore öffnet zu den ewigen
und unvergleichlichen Freuden seines Himmels. Noch im letzten russisch-türkischen
Kriege hat die türkische Armee durch ihre Leistungen die Welt in Erstaunen
gesetzt, und eine achtunggebietende Macht, mit der gerechnet werden muß, wird
sie seit ihrer Reorganisation erst recht bleiben. Durch die regelmüßigen zahl¬
reichen Abkommandirungen nach Deutschland ist ein Stamm von türkischen
Offizieren geschaffen worden, die vollkommen auf der Höhe der modernen
Kriegskenntnis stehen, und in der Türkei selber arbeitet seit langem eine ganze
Reihe bedeutender preußischer Offiziere an der Vervollkommnung des türkischen
Heerwesens.

Ein künftiger russischer Angriff wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht
in dem Maße wie früher wieder auf europäischer Seite erfolgen, sich wenigstens
nicht auf sie beschränken -- denn hier ist ihm Osterreich in der Flanke, Ru¬
mänien und Bulgarien im Wege, der Donau- und Balkanübergang zu über¬
winden --, fondern wird voraussichtlich noch mehr, als das im letzten Feld¬
zuge versucht wurde, seinen Weg durch Kleinasien nehmen, da hier ein un¬
gehinderter Anmarsch möglich ist, Armenien ein zuverlässiger Verbündeter sein,
vor allein aber die türkische Mobilmachung in ihren wichtigsten Gebieten gestört,
das ganze türkische Reich in zwei Teile zerrissen und die syrischen Streitkräfte
ganz abgeschnitten werden würden. Es ist nicht anzunehmen, daß sich die russische
Heeresleitung die außerordentlichen Vorteile eines asiatischen Angriffs in einem
zukünftigen Kriege entgehen lassen wird, wenn auch das Hauptobjekt, Kon¬
stantinopel, von dieser Seite schwerlich erreichbar ist.



") Das SelnmM ist das allwöchentlich stattfindende Freitagsgebet des Sultans in der
HmnidiÄnoschee (Freitag ist der türkische Sonntag) mit Parade. Das Ganze, mit dein gro߬
artigsten Gepränge ausgeführt, ist eins der glänzendsten Schauspiele, die man sich denken kann.
Die Lage des türkischen Staates

verschiedne Gewehrsysteme vorhanden (Snider, Winchester, Remington, Peabody-
Martini und Mauser N. 87 und 90; die letztgenannten sind erst vor kurzem
durch einen Erlaß des Sultans endlich an die Armee ausgegeben worden);
die Feldartillerie ist mit Kruppschen Geschützen ausgerüstet, aber leider nur
sehr wenig kriegsmäßig ausgebildet, da Schießübungen nur sehr selten und ver¬
einzelt stattfinden.

Unser Kaiser soll bei seinem Besuch in Konstantinopel den Ausspruch
gethan haben, die Soldaten, die er beim SelamA") gesehen habe, seien die
schönsten Soldaten der Welt. In der That muß der Ersatz der türkischen
Armee immer noch als ganz vorzüglich bezeichnet werden. Zwei Eigenschaften
sind es vor allem, die den türkischen Soldaten auszeichnen, einerseits seine
Genügsamkeit und seine Zähigkeit, die ihn die größten Entbehrungen und
Strapazen zu ertragen befähigen, andrerseits sein religiöser Fanatismus, der
ihn vor keiner Gefahr zurückschrecken läßt, da nach den Lehren des Islam
jedem Menschen sein unabänderliches Schicksal schon im voraus bestimmt ist,
und da ihm der Tod auf dem Schlachtfelde die Thore öffnet zu den ewigen
und unvergleichlichen Freuden seines Himmels. Noch im letzten russisch-türkischen
Kriege hat die türkische Armee durch ihre Leistungen die Welt in Erstaunen
gesetzt, und eine achtunggebietende Macht, mit der gerechnet werden muß, wird
sie seit ihrer Reorganisation erst recht bleiben. Durch die regelmüßigen zahl¬
reichen Abkommandirungen nach Deutschland ist ein Stamm von türkischen
Offizieren geschaffen worden, die vollkommen auf der Höhe der modernen
Kriegskenntnis stehen, und in der Türkei selber arbeitet seit langem eine ganze
Reihe bedeutender preußischer Offiziere an der Vervollkommnung des türkischen
Heerwesens.

Ein künftiger russischer Angriff wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht
in dem Maße wie früher wieder auf europäischer Seite erfolgen, sich wenigstens
nicht auf sie beschränken — denn hier ist ihm Osterreich in der Flanke, Ru¬
mänien und Bulgarien im Wege, der Donau- und Balkanübergang zu über¬
winden —, fondern wird voraussichtlich noch mehr, als das im letzten Feld¬
zuge versucht wurde, seinen Weg durch Kleinasien nehmen, da hier ein un¬
gehinderter Anmarsch möglich ist, Armenien ein zuverlässiger Verbündeter sein,
vor allein aber die türkische Mobilmachung in ihren wichtigsten Gebieten gestört,
das ganze türkische Reich in zwei Teile zerrissen und die syrischen Streitkräfte
ganz abgeschnitten werden würden. Es ist nicht anzunehmen, daß sich die russische
Heeresleitung die außerordentlichen Vorteile eines asiatischen Angriffs in einem
zukünftigen Kriege entgehen lassen wird, wenn auch das Hauptobjekt, Kon¬
stantinopel, von dieser Seite schwerlich erreichbar ist.



") Das SelnmM ist das allwöchentlich stattfindende Freitagsgebet des Sultans in der
HmnidiÄnoschee (Freitag ist der türkische Sonntag) mit Parade. Das Ganze, mit dein gro߬
artigsten Gepränge ausgeführt, ist eins der glänzendsten Schauspiele, die man sich denken kann.
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[0279] Die Lage des türkischen Staates verschiedne Gewehrsysteme vorhanden (Snider, Winchester, Remington, Peabody- Martini und Mauser N. 87 und 90; die letztgenannten sind erst vor kurzem durch einen Erlaß des Sultans endlich an die Armee ausgegeben worden); die Feldartillerie ist mit Kruppschen Geschützen ausgerüstet, aber leider nur sehr wenig kriegsmäßig ausgebildet, da Schießübungen nur sehr selten und ver¬ einzelt stattfinden. Unser Kaiser soll bei seinem Besuch in Konstantinopel den Ausspruch gethan haben, die Soldaten, die er beim SelamA") gesehen habe, seien die schönsten Soldaten der Welt. In der That muß der Ersatz der türkischen Armee immer noch als ganz vorzüglich bezeichnet werden. Zwei Eigenschaften sind es vor allem, die den türkischen Soldaten auszeichnen, einerseits seine Genügsamkeit und seine Zähigkeit, die ihn die größten Entbehrungen und Strapazen zu ertragen befähigen, andrerseits sein religiöser Fanatismus, der ihn vor keiner Gefahr zurückschrecken läßt, da nach den Lehren des Islam jedem Menschen sein unabänderliches Schicksal schon im voraus bestimmt ist, und da ihm der Tod auf dem Schlachtfelde die Thore öffnet zu den ewigen und unvergleichlichen Freuden seines Himmels. Noch im letzten russisch-türkischen Kriege hat die türkische Armee durch ihre Leistungen die Welt in Erstaunen gesetzt, und eine achtunggebietende Macht, mit der gerechnet werden muß, wird sie seit ihrer Reorganisation erst recht bleiben. Durch die regelmüßigen zahl¬ reichen Abkommandirungen nach Deutschland ist ein Stamm von türkischen Offizieren geschaffen worden, die vollkommen auf der Höhe der modernen Kriegskenntnis stehen, und in der Türkei selber arbeitet seit langem eine ganze Reihe bedeutender preußischer Offiziere an der Vervollkommnung des türkischen Heerwesens. Ein künftiger russischer Angriff wird aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in dem Maße wie früher wieder auf europäischer Seite erfolgen, sich wenigstens nicht auf sie beschränken — denn hier ist ihm Osterreich in der Flanke, Ru¬ mänien und Bulgarien im Wege, der Donau- und Balkanübergang zu über¬ winden —, fondern wird voraussichtlich noch mehr, als das im letzten Feld¬ zuge versucht wurde, seinen Weg durch Kleinasien nehmen, da hier ein un¬ gehinderter Anmarsch möglich ist, Armenien ein zuverlässiger Verbündeter sein, vor allein aber die türkische Mobilmachung in ihren wichtigsten Gebieten gestört, das ganze türkische Reich in zwei Teile zerrissen und die syrischen Streitkräfte ganz abgeschnitten werden würden. Es ist nicht anzunehmen, daß sich die russische Heeresleitung die außerordentlichen Vorteile eines asiatischen Angriffs in einem zukünftigen Kriege entgehen lassen wird, wenn auch das Hauptobjekt, Kon¬ stantinopel, von dieser Seite schwerlich erreichbar ist. ") Das SelnmM ist das allwöchentlich stattfindende Freitagsgebet des Sultans in der HmnidiÄnoschee (Freitag ist der türkische Sonntag) mit Parade. Das Ganze, mit dein gro߬ artigsten Gepränge ausgeführt, ist eins der glänzendsten Schauspiele, die man sich denken kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/279>, abgerufen am 17.06.2024.