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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Lage des türkischen Staates

Humcmn gehören Abortivmittel zur Hausapotheke jedes türkischen Hanfes!
Sind das nicht Anzeichen eines absterbenden Volkes, das sich selber aufgegeben
hat? Besonders seit dem letzten russisch-türkischen Kriege scheint ein Druck auf
den Gemütern zu lasten, der sich selbst bei den an Selbstbeherrschung ge¬
wöhnten und sonst alles so gleichmütig als Kisinet tragenden Türken bemerkbar
macht, und es ist wohl mit die Verzweiflung über das Unglück von außen
und das Elend im Innern ihres Landes, über die Mißwirtschaft und den
Steuerdruck, die dem Laster der Trunkenheit jetzt eine so erschreckende Verbrei¬
tung in der Türkei verschafft. Unser sonst so ehrlicher und braver Saptieh
Hussein, der meinen Kameraden und mir auf unsrer ganzen Reise die treuesten
Dienste leistete, scheute, wenn er in unsern Packtaschen eine Flasche mit Raty-
oder Mastixschnaps vermutete, selbst vor einem Diebstahl nicht zurück (etwas
sonst unerhörtes bei der ehrlichen anatolischen Bevölkerung), und als wir ihm
bei unsrer Rückkehr nach Angora seinen wohlverdienten, reichlichen Lohn aus¬
zahlten, ergab er sich sofort einem ganz unmäßigen Alkoholgenuß, sodaß er
für die nächste Zeit überhaupt unbrauchbar war.

Daß im türkischen Beamtentum und in der hauptstädtischen Bevölkerung
viel Fäulnis steckt, ist zur Genüge bekannt, aber daß auch die Bevölkerung
in hohem Maße und in vieler Hinsicht davon ergriffen ist, wird den meisten
unbekannt sein. Leider ist es nicht anders, und es würde schlimm um die
Zukunft des morschen türkischen Staatswesens stehen, wenn ihn: nicht durch
deutsche Thatkraft eine neue Stütze geschaffen worden wäre, die vielleicht noch
einmal berufen ist, seine Rettung aus höchster Not zu werden: die Heeres¬
reorganisation und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht.

Im Jahre 1836 entwarf Freiherr von der Goltz Pascha den Neformplan,
der die Grundlage der modernen türkischen Heeresverfassung bildet. Darnach
ist jeder wehrfähige Mohammedaner -- die Rajah sind ausgeschlossen -- vom
zwanzigsten bis zum vierzigsten Lebensjahre wehrpflichtig, und zwar im stehenden
Heere drei Jahre aktiv und drei Jahre in der Reserve, in der Landwehr acht
Jahre und im Landsturm sechs Jahre. Die Armee wird durch eine Territorial¬
einteilung, die mit der politischen Landeseinteilung zusammenfällt und dadurch
die Mobilmachung ungemein vereinfacht, in sieben Armeebezirke eingeteilt:
1. Gardekorps, Konstantinopel, 2. Korps, Rumelien, 3. Albanien, 4. Anatolien,
5. Syrien, 6. Mesopotamien, 7. Arabien. Jeder Bezirk stellt im Kriege vier
Armeekorps auf, die gleiche Einteilung haben und sich nur durch das Alter
der Mannschaften unterscheiden: ein aktives, dessen Stämme schon im Frieden
bestehen, zwei Landwehrtorps und ein Landsturmkorps. Die erstern bilden die
Nummern 1 bis 7, die zweiten die Nummern 8 bis 19, die letzten die Nummern
20 bis 25, sodaß die ganze mobile Armee 25 Armeekorps zu je 26000 bis
27000 Mann zählt, in Summa 700000 Mann.

Zur Bewaffnung der Infanterie sind -- ein schwerer Übelstand -- sechs


Die Lage des türkischen Staates

Humcmn gehören Abortivmittel zur Hausapotheke jedes türkischen Hanfes!
Sind das nicht Anzeichen eines absterbenden Volkes, das sich selber aufgegeben
hat? Besonders seit dem letzten russisch-türkischen Kriege scheint ein Druck auf
den Gemütern zu lasten, der sich selbst bei den an Selbstbeherrschung ge¬
wöhnten und sonst alles so gleichmütig als Kisinet tragenden Türken bemerkbar
macht, und es ist wohl mit die Verzweiflung über das Unglück von außen
und das Elend im Innern ihres Landes, über die Mißwirtschaft und den
Steuerdruck, die dem Laster der Trunkenheit jetzt eine so erschreckende Verbrei¬
tung in der Türkei verschafft. Unser sonst so ehrlicher und braver Saptieh
Hussein, der meinen Kameraden und mir auf unsrer ganzen Reise die treuesten
Dienste leistete, scheute, wenn er in unsern Packtaschen eine Flasche mit Raty-
oder Mastixschnaps vermutete, selbst vor einem Diebstahl nicht zurück (etwas
sonst unerhörtes bei der ehrlichen anatolischen Bevölkerung), und als wir ihm
bei unsrer Rückkehr nach Angora seinen wohlverdienten, reichlichen Lohn aus¬
zahlten, ergab er sich sofort einem ganz unmäßigen Alkoholgenuß, sodaß er
für die nächste Zeit überhaupt unbrauchbar war.

Daß im türkischen Beamtentum und in der hauptstädtischen Bevölkerung
viel Fäulnis steckt, ist zur Genüge bekannt, aber daß auch die Bevölkerung
in hohem Maße und in vieler Hinsicht davon ergriffen ist, wird den meisten
unbekannt sein. Leider ist es nicht anders, und es würde schlimm um die
Zukunft des morschen türkischen Staatswesens stehen, wenn ihn: nicht durch
deutsche Thatkraft eine neue Stütze geschaffen worden wäre, die vielleicht noch
einmal berufen ist, seine Rettung aus höchster Not zu werden: die Heeres¬
reorganisation und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht.

Im Jahre 1836 entwarf Freiherr von der Goltz Pascha den Neformplan,
der die Grundlage der modernen türkischen Heeresverfassung bildet. Darnach
ist jeder wehrfähige Mohammedaner — die Rajah sind ausgeschlossen — vom
zwanzigsten bis zum vierzigsten Lebensjahre wehrpflichtig, und zwar im stehenden
Heere drei Jahre aktiv und drei Jahre in der Reserve, in der Landwehr acht
Jahre und im Landsturm sechs Jahre. Die Armee wird durch eine Territorial¬
einteilung, die mit der politischen Landeseinteilung zusammenfällt und dadurch
die Mobilmachung ungemein vereinfacht, in sieben Armeebezirke eingeteilt:
1. Gardekorps, Konstantinopel, 2. Korps, Rumelien, 3. Albanien, 4. Anatolien,
5. Syrien, 6. Mesopotamien, 7. Arabien. Jeder Bezirk stellt im Kriege vier
Armeekorps auf, die gleiche Einteilung haben und sich nur durch das Alter
der Mannschaften unterscheiden: ein aktives, dessen Stämme schon im Frieden
bestehen, zwei Landwehrtorps und ein Landsturmkorps. Die erstern bilden die
Nummern 1 bis 7, die zweiten die Nummern 8 bis 19, die letzten die Nummern
20 bis 25, sodaß die ganze mobile Armee 25 Armeekorps zu je 26000 bis
27000 Mann zählt, in Summa 700000 Mann.

Zur Bewaffnung der Infanterie sind — ein schwerer Übelstand — sechs


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[0278] Die Lage des türkischen Staates Humcmn gehören Abortivmittel zur Hausapotheke jedes türkischen Hanfes! Sind das nicht Anzeichen eines absterbenden Volkes, das sich selber aufgegeben hat? Besonders seit dem letzten russisch-türkischen Kriege scheint ein Druck auf den Gemütern zu lasten, der sich selbst bei den an Selbstbeherrschung ge¬ wöhnten und sonst alles so gleichmütig als Kisinet tragenden Türken bemerkbar macht, und es ist wohl mit die Verzweiflung über das Unglück von außen und das Elend im Innern ihres Landes, über die Mißwirtschaft und den Steuerdruck, die dem Laster der Trunkenheit jetzt eine so erschreckende Verbrei¬ tung in der Türkei verschafft. Unser sonst so ehrlicher und braver Saptieh Hussein, der meinen Kameraden und mir auf unsrer ganzen Reise die treuesten Dienste leistete, scheute, wenn er in unsern Packtaschen eine Flasche mit Raty- oder Mastixschnaps vermutete, selbst vor einem Diebstahl nicht zurück (etwas sonst unerhörtes bei der ehrlichen anatolischen Bevölkerung), und als wir ihm bei unsrer Rückkehr nach Angora seinen wohlverdienten, reichlichen Lohn aus¬ zahlten, ergab er sich sofort einem ganz unmäßigen Alkoholgenuß, sodaß er für die nächste Zeit überhaupt unbrauchbar war. Daß im türkischen Beamtentum und in der hauptstädtischen Bevölkerung viel Fäulnis steckt, ist zur Genüge bekannt, aber daß auch die Bevölkerung in hohem Maße und in vieler Hinsicht davon ergriffen ist, wird den meisten unbekannt sein. Leider ist es nicht anders, und es würde schlimm um die Zukunft des morschen türkischen Staatswesens stehen, wenn ihn: nicht durch deutsche Thatkraft eine neue Stütze geschaffen worden wäre, die vielleicht noch einmal berufen ist, seine Rettung aus höchster Not zu werden: die Heeres¬ reorganisation und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Im Jahre 1836 entwarf Freiherr von der Goltz Pascha den Neformplan, der die Grundlage der modernen türkischen Heeresverfassung bildet. Darnach ist jeder wehrfähige Mohammedaner — die Rajah sind ausgeschlossen — vom zwanzigsten bis zum vierzigsten Lebensjahre wehrpflichtig, und zwar im stehenden Heere drei Jahre aktiv und drei Jahre in der Reserve, in der Landwehr acht Jahre und im Landsturm sechs Jahre. Die Armee wird durch eine Territorial¬ einteilung, die mit der politischen Landeseinteilung zusammenfällt und dadurch die Mobilmachung ungemein vereinfacht, in sieben Armeebezirke eingeteilt: 1. Gardekorps, Konstantinopel, 2. Korps, Rumelien, 3. Albanien, 4. Anatolien, 5. Syrien, 6. Mesopotamien, 7. Arabien. Jeder Bezirk stellt im Kriege vier Armeekorps auf, die gleiche Einteilung haben und sich nur durch das Alter der Mannschaften unterscheiden: ein aktives, dessen Stämme schon im Frieden bestehen, zwei Landwehrtorps und ein Landsturmkorps. Die erstern bilden die Nummern 1 bis 7, die zweiten die Nummern 8 bis 19, die letzten die Nummern 20 bis 25, sodaß die ganze mobile Armee 25 Armeekorps zu je 26000 bis 27000 Mann zählt, in Summa 700000 Mann. Zur Bewaffnung der Infanterie sind — ein schwerer Übelstand — sechs

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/278>, abgerufen am 17.06.2024.