Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Adolf wilbrandt

gleichwohl erst, nachdem er im Jahre 1871 von München nach Wien über¬
gesiedelt war. Es würde eine der interessantesten Untersuchungen sein, die
unternommen werden könnte, vergleichend zu prüfen, welche historischen Stoffe,
namentlich welche Stoffe der römischen Geschichte in dem Odem und dem
Lichte verschiedner Zeitstimmungen in den verschiednen Litteraturen bevorzugt
worden sind. Kein Zweifel, daß allein die aus den Büchern des Tacitus
stammenden Tragödien höchst charakteristische Unterschiede und Wandlungen
verraten würden. Es ist möglich, daß nur subjektive Grüude Wilbrandt nach
1870 zur Gestaltung der schon fünf Jahre früher entworfnen Tragödien
"Gajus Gracchus" und "Arria und Messalina" drängten. Viel wahrschein¬
licher bleibt es doch, daß die schwüle Luft phantastisch schrankenloser und üppiger
Genußsucht, die Atmosphäre der Machtgier um der Ausbeutung und des Ge¬
nusses willen, die nach 1870 hereinbrach, diese Tragödien zeitigen half. Und
vollends außer Zweifel ist es, daß der Dichter ein gewisses Makartsches
Kolorit, das namentlich in dem letztgenannten Trauerspiel hervortrat, hier zum
erstenmal aufwies. Die vorzüglichere, wenn auch nicht die erfolgreichere dieser
Nömertragödien war "Gajus Gracchus." Niemand hätte den Stoss fernliegend
nennen dürfen. Im Spiegel römischer Geschichte ließen sich hier Zustände,
Leidenschaften, Stimmungen, Handlungen und Konflikte dramatisch verkörpern,
die in den letzten Jahrzehnten greifbare, hart andringende, wenn auch uoch so
unheimliche Wirklichkeit in der Gegenwart, in der deutschen Heimat geworden
waren. Die Volkstribunen wuchsen naturgemäß auch bei uns aus dem Voden
des Massenelends empor, die Verfechter ewiger, unveräußerlicher Rechte ver¬
wandelten sich auch bei uns in dem Kampfe mit der Übermacht entgegenstehender
Überlieferungen und Gewohnheiten zu Demagogen. Kein Wunder, daß die
Phantasie eiues Dichters sich von der größten, menschlich edelsten, gewinnendsten
und eben darum tragischsten Erscheinung dieser Art, von Gajus Gracchus,
dem Rächer seines Bruders und dem erbarmungslosen Gegner der Ovtimaten,
angezogen und gefesselt fühlte. Mächtiger und farbenreicher zugleich ließ sich
das Stück Leben, das eben drohend heraufzog, uicht spiegeln, und trotz all
seiner gelehrten Bildung war Wilbrandt frei genug, das unmittelbar Lebendige
und Ergreifende in dem antiken Stoff zu schauen, keine dramatisirte Geschichts¬
studie wie Freytags "Fabler," sondern ein Drama zu schaffen. In klar durch¬
sichtigem Bau, in fester Charakteristik und mächtig gesteigerter Leidenschaft, ja
selbst mit einem gewissen romanhaft-theatralischen Zusatz ein höchst wirksames
Stück, gehört "Gajus Gracchus" zu den zahlreichen neuern dramatischen
Dichtungen, deren Wirkung hinter ihrem Verdienst zurückbleibt. Möglich, daß
selbst diese Erfindung für das Urteil unter die stilgerechte" Nömertragödien
fiel, möglich auch, daß das tragische Pathos der Gracchentragödie zu früh kam,
noch hatten wenige den schweren, wuchtigen Ernst der sozialen Frage begriffen.
Am wahrscheinlichsten doch, daß das Trauerspiel in Versen auf den Widerstand


Adolf wilbrandt

gleichwohl erst, nachdem er im Jahre 1871 von München nach Wien über¬
gesiedelt war. Es würde eine der interessantesten Untersuchungen sein, die
unternommen werden könnte, vergleichend zu prüfen, welche historischen Stoffe,
namentlich welche Stoffe der römischen Geschichte in dem Odem und dem
Lichte verschiedner Zeitstimmungen in den verschiednen Litteraturen bevorzugt
worden sind. Kein Zweifel, daß allein die aus den Büchern des Tacitus
stammenden Tragödien höchst charakteristische Unterschiede und Wandlungen
verraten würden. Es ist möglich, daß nur subjektive Grüude Wilbrandt nach
1870 zur Gestaltung der schon fünf Jahre früher entworfnen Tragödien
„Gajus Gracchus" und „Arria und Messalina" drängten. Viel wahrschein¬
licher bleibt es doch, daß die schwüle Luft phantastisch schrankenloser und üppiger
Genußsucht, die Atmosphäre der Machtgier um der Ausbeutung und des Ge¬
nusses willen, die nach 1870 hereinbrach, diese Tragödien zeitigen half. Und
vollends außer Zweifel ist es, daß der Dichter ein gewisses Makartsches
Kolorit, das namentlich in dem letztgenannten Trauerspiel hervortrat, hier zum
erstenmal aufwies. Die vorzüglichere, wenn auch nicht die erfolgreichere dieser
Nömertragödien war „Gajus Gracchus." Niemand hätte den Stoss fernliegend
nennen dürfen. Im Spiegel römischer Geschichte ließen sich hier Zustände,
Leidenschaften, Stimmungen, Handlungen und Konflikte dramatisch verkörpern,
die in den letzten Jahrzehnten greifbare, hart andringende, wenn auch uoch so
unheimliche Wirklichkeit in der Gegenwart, in der deutschen Heimat geworden
waren. Die Volkstribunen wuchsen naturgemäß auch bei uns aus dem Voden
des Massenelends empor, die Verfechter ewiger, unveräußerlicher Rechte ver¬
wandelten sich auch bei uns in dem Kampfe mit der Übermacht entgegenstehender
Überlieferungen und Gewohnheiten zu Demagogen. Kein Wunder, daß die
Phantasie eiues Dichters sich von der größten, menschlich edelsten, gewinnendsten
und eben darum tragischsten Erscheinung dieser Art, von Gajus Gracchus,
dem Rächer seines Bruders und dem erbarmungslosen Gegner der Ovtimaten,
angezogen und gefesselt fühlte. Mächtiger und farbenreicher zugleich ließ sich
das Stück Leben, das eben drohend heraufzog, uicht spiegeln, und trotz all
seiner gelehrten Bildung war Wilbrandt frei genug, das unmittelbar Lebendige
und Ergreifende in dem antiken Stoff zu schauen, keine dramatisirte Geschichts¬
studie wie Freytags „Fabler," sondern ein Drama zu schaffen. In klar durch¬
sichtigem Bau, in fester Charakteristik und mächtig gesteigerter Leidenschaft, ja
selbst mit einem gewissen romanhaft-theatralischen Zusatz ein höchst wirksames
Stück, gehört „Gajus Gracchus" zu den zahlreichen neuern dramatischen
Dichtungen, deren Wirkung hinter ihrem Verdienst zurückbleibt. Möglich, daß
selbst diese Erfindung für das Urteil unter die stilgerechte« Nömertragödien
fiel, möglich auch, daß das tragische Pathos der Gracchentragödie zu früh kam,
noch hatten wenige den schweren, wuchtigen Ernst der sozialen Frage begriffen.
Am wahrscheinlichsten doch, daß das Trauerspiel in Versen auf den Widerstand


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0032" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222336"/>
          <fw type="header" place="top"> Adolf wilbrandt</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_81" prev="#ID_80" next="#ID_82"> gleichwohl erst, nachdem er im Jahre 1871 von München nach Wien über¬<lb/>
gesiedelt war. Es würde eine der interessantesten Untersuchungen sein, die<lb/>
unternommen werden könnte, vergleichend zu prüfen, welche historischen Stoffe,<lb/>
namentlich welche Stoffe der römischen Geschichte in dem Odem und dem<lb/>
Lichte verschiedner Zeitstimmungen in den verschiednen Litteraturen bevorzugt<lb/>
worden sind. Kein Zweifel, daß allein die aus den Büchern des Tacitus<lb/>
stammenden Tragödien höchst charakteristische Unterschiede und Wandlungen<lb/>
verraten würden. Es ist möglich, daß nur subjektive Grüude Wilbrandt nach<lb/>
1870 zur Gestaltung der schon fünf Jahre früher entworfnen Tragödien<lb/>
&#x201E;Gajus Gracchus" und &#x201E;Arria und Messalina" drängten. Viel wahrschein¬<lb/>
licher bleibt es doch, daß die schwüle Luft phantastisch schrankenloser und üppiger<lb/>
Genußsucht, die Atmosphäre der Machtgier um der Ausbeutung und des Ge¬<lb/>
nusses willen, die nach 1870 hereinbrach, diese Tragödien zeitigen half. Und<lb/>
vollends außer Zweifel ist es, daß der Dichter ein gewisses Makartsches<lb/>
Kolorit, das namentlich in dem letztgenannten Trauerspiel hervortrat, hier zum<lb/>
erstenmal aufwies. Die vorzüglichere, wenn auch nicht die erfolgreichere dieser<lb/>
Nömertragödien war &#x201E;Gajus Gracchus." Niemand hätte den Stoss fernliegend<lb/>
nennen dürfen. Im Spiegel römischer Geschichte ließen sich hier Zustände,<lb/>
Leidenschaften, Stimmungen, Handlungen und Konflikte dramatisch verkörpern,<lb/>
die in den letzten Jahrzehnten greifbare, hart andringende, wenn auch uoch so<lb/>
unheimliche Wirklichkeit in der Gegenwart, in der deutschen Heimat geworden<lb/>
waren. Die Volkstribunen wuchsen naturgemäß auch bei uns aus dem Voden<lb/>
des Massenelends empor, die Verfechter ewiger, unveräußerlicher Rechte ver¬<lb/>
wandelten sich auch bei uns in dem Kampfe mit der Übermacht entgegenstehender<lb/>
Überlieferungen und Gewohnheiten zu Demagogen. Kein Wunder, daß die<lb/>
Phantasie eiues Dichters sich von der größten, menschlich edelsten, gewinnendsten<lb/>
und eben darum tragischsten Erscheinung dieser Art, von Gajus Gracchus,<lb/>
dem Rächer seines Bruders und dem erbarmungslosen Gegner der Ovtimaten,<lb/>
angezogen und gefesselt fühlte. Mächtiger und farbenreicher zugleich ließ sich<lb/>
das Stück Leben, das eben drohend heraufzog, uicht spiegeln, und trotz all<lb/>
seiner gelehrten Bildung war Wilbrandt frei genug, das unmittelbar Lebendige<lb/>
und Ergreifende in dem antiken Stoff zu schauen, keine dramatisirte Geschichts¬<lb/>
studie wie Freytags &#x201E;Fabler," sondern ein Drama zu schaffen. In klar durch¬<lb/>
sichtigem Bau, in fester Charakteristik und mächtig gesteigerter Leidenschaft, ja<lb/>
selbst mit einem gewissen romanhaft-theatralischen Zusatz ein höchst wirksames<lb/>
Stück, gehört &#x201E;Gajus Gracchus" zu den zahlreichen neuern dramatischen<lb/>
Dichtungen, deren Wirkung hinter ihrem Verdienst zurückbleibt. Möglich, daß<lb/>
selbst diese Erfindung für das Urteil unter die stilgerechte« Nömertragödien<lb/>
fiel, möglich auch, daß das tragische Pathos der Gracchentragödie zu früh kam,<lb/>
noch hatten wenige den schweren, wuchtigen Ernst der sozialen Frage begriffen.<lb/>
Am wahrscheinlichsten doch, daß das Trauerspiel in Versen auf den Widerstand</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0032] Adolf wilbrandt gleichwohl erst, nachdem er im Jahre 1871 von München nach Wien über¬ gesiedelt war. Es würde eine der interessantesten Untersuchungen sein, die unternommen werden könnte, vergleichend zu prüfen, welche historischen Stoffe, namentlich welche Stoffe der römischen Geschichte in dem Odem und dem Lichte verschiedner Zeitstimmungen in den verschiednen Litteraturen bevorzugt worden sind. Kein Zweifel, daß allein die aus den Büchern des Tacitus stammenden Tragödien höchst charakteristische Unterschiede und Wandlungen verraten würden. Es ist möglich, daß nur subjektive Grüude Wilbrandt nach 1870 zur Gestaltung der schon fünf Jahre früher entworfnen Tragödien „Gajus Gracchus" und „Arria und Messalina" drängten. Viel wahrschein¬ licher bleibt es doch, daß die schwüle Luft phantastisch schrankenloser und üppiger Genußsucht, die Atmosphäre der Machtgier um der Ausbeutung und des Ge¬ nusses willen, die nach 1870 hereinbrach, diese Tragödien zeitigen half. Und vollends außer Zweifel ist es, daß der Dichter ein gewisses Makartsches Kolorit, das namentlich in dem letztgenannten Trauerspiel hervortrat, hier zum erstenmal aufwies. Die vorzüglichere, wenn auch nicht die erfolgreichere dieser Nömertragödien war „Gajus Gracchus." Niemand hätte den Stoss fernliegend nennen dürfen. Im Spiegel römischer Geschichte ließen sich hier Zustände, Leidenschaften, Stimmungen, Handlungen und Konflikte dramatisch verkörpern, die in den letzten Jahrzehnten greifbare, hart andringende, wenn auch uoch so unheimliche Wirklichkeit in der Gegenwart, in der deutschen Heimat geworden waren. Die Volkstribunen wuchsen naturgemäß auch bei uns aus dem Voden des Massenelends empor, die Verfechter ewiger, unveräußerlicher Rechte ver¬ wandelten sich auch bei uns in dem Kampfe mit der Übermacht entgegenstehender Überlieferungen und Gewohnheiten zu Demagogen. Kein Wunder, daß die Phantasie eiues Dichters sich von der größten, menschlich edelsten, gewinnendsten und eben darum tragischsten Erscheinung dieser Art, von Gajus Gracchus, dem Rächer seines Bruders und dem erbarmungslosen Gegner der Ovtimaten, angezogen und gefesselt fühlte. Mächtiger und farbenreicher zugleich ließ sich das Stück Leben, das eben drohend heraufzog, uicht spiegeln, und trotz all seiner gelehrten Bildung war Wilbrandt frei genug, das unmittelbar Lebendige und Ergreifende in dem antiken Stoff zu schauen, keine dramatisirte Geschichts¬ studie wie Freytags „Fabler," sondern ein Drama zu schaffen. In klar durch¬ sichtigem Bau, in fester Charakteristik und mächtig gesteigerter Leidenschaft, ja selbst mit einem gewissen romanhaft-theatralischen Zusatz ein höchst wirksames Stück, gehört „Gajus Gracchus" zu den zahlreichen neuern dramatischen Dichtungen, deren Wirkung hinter ihrem Verdienst zurückbleibt. Möglich, daß selbst diese Erfindung für das Urteil unter die stilgerechte« Nömertragödien fiel, möglich auch, daß das tragische Pathos der Gracchentragödie zu früh kam, noch hatten wenige den schweren, wuchtigen Ernst der sozialen Frage begriffen. Am wahrscheinlichsten doch, daß das Trauerspiel in Versen auf den Widerstand

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/32
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/32>, abgerufen am 13.05.2024.