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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Adolf willnandt

gezügelten lechzender Lebensverlangens, des heißen Blutes und der Genu߬
gier, die das Dasein bis auf die Schale auspressen will, in der Gestalt der
Messalina.

Von gleichem Geiste, von gleichem Widerspruch zwischen der dichterischen
Absicht und der farbenlodernden Schilderung unersättlicher Lebensgier und
größenwahnsinniger Ichsucht zeigt sich auch die dritte der Wilbrandtschen Römer-
trngödieu "Nero" (1875) erfüllt. Hier ließ sich nicht verkennen, daß die dra¬
matische Verkörperung des Cäsarenwahns, der phantastischen Tyrannei, trotz
der hundert vertrauten Züge der unmittelbarsten Gegenwart, die aus dem
Bilde herausschauen, für uns etwas fremdartiges behielt. Die ungeheuern
Dimensionen des auf Tacitus beruhenden Geschichtsdramas muteten die Menschen
unsrer Tage rätselvoll an; man glaubte zu wissen, daß neronischer Trotz,
neronische Eitelkeit auf neuern Thronen lveder die blinde Unterstützung von
Prätorianergarden, noch die riesigen materiellen Mittel zur Verfügung finden
würde, die einem Nero zu Gebote standen. Ob der Dichter hier nicht dennoch
ein Prophet künftiger Dinge und seinen nüchtern rechnenden Kritikern über¬
legen war, müssen wir beiseite lassen; es wäre eben auch eine Untersuchung
für sich, wie stark "eben dem Leben des Tages die Ahnung künftiger Dinge
das dichterische Bild vergangner Zeiten und Menschen beleben kann. Auf alle
Fälle war der "Nero" ein vergeblicher Versuch, die Wirkung von "Arria
und Messalina" zu wiederholen oder gar zu überbieten.

Keinem schärfer blickenden Prüfer litterarischer Wandlungen und geistiger
Strömungen ist es entgangen, daß gegen den Ausgang der sechziger, den An¬
fang der siebziger Jahre die Münchner im allgemeinen einen gelegentlichen Zug
zu Erfindungen, Gestalten und Künsten verrieten, die der Decadence angehörten
oder zuneigten und zum Teil aus französischen Vorbildern und Anregungen
stammten. In "Arria und Messalina" wie in "Nerv" zahlte auch Wilbrandt
dieser Neigung seinen Tribut, aber der tiefe Ernst seines Wesens sorgte dafür,
daß es ein vorübergehender blieb. Die ganze Reihe seiner nächsten Dich¬
tungen widerlegte die Folgerungen, die man aus den Römertrauerspielen zu
ziehen versuchte. Immerhin blieb es bemerkenswert, daß der Dichter um diese
Zeit zu dem Bewußtsein kam, daß er auf dem Wege bloßer anmutiger Neu¬
gestaltung längst vorhandner poetischer Motive und feinern Formgefühls zur
Entfaltung seines innersten Wesens nicht gelangen könne und einigermaßen
unruhig vorwärtsstrebte, um ganz frei, ganz er selbst zu werden, dem Worte
treu: "Wie Tau und Sonnenschein fallen stille Schicksale, zarte Neigungen,
tiefe Leidenschaften in unsre wachsende Seele, nähren, formen, entfalten sie,
führen sie hierhin und dorthin."

(Schlusz folgt)




Adolf willnandt

gezügelten lechzender Lebensverlangens, des heißen Blutes und der Genu߬
gier, die das Dasein bis auf die Schale auspressen will, in der Gestalt der
Messalina.

Von gleichem Geiste, von gleichem Widerspruch zwischen der dichterischen
Absicht und der farbenlodernden Schilderung unersättlicher Lebensgier und
größenwahnsinniger Ichsucht zeigt sich auch die dritte der Wilbrandtschen Römer-
trngödieu „Nero" (1875) erfüllt. Hier ließ sich nicht verkennen, daß die dra¬
matische Verkörperung des Cäsarenwahns, der phantastischen Tyrannei, trotz
der hundert vertrauten Züge der unmittelbarsten Gegenwart, die aus dem
Bilde herausschauen, für uns etwas fremdartiges behielt. Die ungeheuern
Dimensionen des auf Tacitus beruhenden Geschichtsdramas muteten die Menschen
unsrer Tage rätselvoll an; man glaubte zu wissen, daß neronischer Trotz,
neronische Eitelkeit auf neuern Thronen lveder die blinde Unterstützung von
Prätorianergarden, noch die riesigen materiellen Mittel zur Verfügung finden
würde, die einem Nero zu Gebote standen. Ob der Dichter hier nicht dennoch
ein Prophet künftiger Dinge und seinen nüchtern rechnenden Kritikern über¬
legen war, müssen wir beiseite lassen; es wäre eben auch eine Untersuchung
für sich, wie stark «eben dem Leben des Tages die Ahnung künftiger Dinge
das dichterische Bild vergangner Zeiten und Menschen beleben kann. Auf alle
Fälle war der „Nero" ein vergeblicher Versuch, die Wirkung von „Arria
und Messalina" zu wiederholen oder gar zu überbieten.

Keinem schärfer blickenden Prüfer litterarischer Wandlungen und geistiger
Strömungen ist es entgangen, daß gegen den Ausgang der sechziger, den An¬
fang der siebziger Jahre die Münchner im allgemeinen einen gelegentlichen Zug
zu Erfindungen, Gestalten und Künsten verrieten, die der Decadence angehörten
oder zuneigten und zum Teil aus französischen Vorbildern und Anregungen
stammten. In „Arria und Messalina" wie in „Nerv" zahlte auch Wilbrandt
dieser Neigung seinen Tribut, aber der tiefe Ernst seines Wesens sorgte dafür,
daß es ein vorübergehender blieb. Die ganze Reihe seiner nächsten Dich¬
tungen widerlegte die Folgerungen, die man aus den Römertrauerspielen zu
ziehen versuchte. Immerhin blieb es bemerkenswert, daß der Dichter um diese
Zeit zu dem Bewußtsein kam, daß er auf dem Wege bloßer anmutiger Neu¬
gestaltung längst vorhandner poetischer Motive und feinern Formgefühls zur
Entfaltung seines innersten Wesens nicht gelangen könne und einigermaßen
unruhig vorwärtsstrebte, um ganz frei, ganz er selbst zu werden, dem Worte
treu: „Wie Tau und Sonnenschein fallen stille Schicksale, zarte Neigungen,
tiefe Leidenschaften in unsre wachsende Seele, nähren, formen, entfalten sie,
führen sie hierhin und dorthin."

(Schlusz folgt)




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/34>, abgerufen am 13.05.2024.