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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Das deutsche Reich und die Aurie

strebenden Nation. In Amerika beherrscht auch heute noch das Mißtrauen
gegen die delegirte Gewalt das ganze öffentliche Leben, aber selbst unter den
schwierigsten Umständen hat es niemand gewagt, Vorschläge zu machen, die
die Grundsätze der Freiheit und der Selbstbestimmung hätten in Frage stellen
können. In Deutschland wendet sich der Unmut heute schon weit mehr gegen
die Herrschsucht und gegen die unfruchtbaren Zänkereien der Parteien, als
gegen die Neichsleitung. Man befürchtet eine Gefährdung unsrer ganzen na¬
tionalen Zukunft.

Eine Umgestaltung unser verrotteten Parteiverhältnisse läßt sich nur er¬
warten von einer völligen Verschiebung der Lage der Dinge, und eine solche
kann auf friedlichem Wege uur erreicht werden dnrch eine Änderung unsrer
Wahlgesetzgebung. Von allen Seiten sind Vorschläge zur Besserung unsrer
Wahlgesetze gemacht worden, in Deutschland, in Frankreich, in der Schweiz,
in Belgien, in Dünemark, Spanien, England und Italien, in Nordamerika
und in den englischen Kolonien; zum Teil haben solche Vorschläge gesetzliche
Gestalt gewonnen. Aber nicht alle diese Gesetze haben die Probe bestanden.
Der Grundgedanke jedoch, die Fesseln zu sprengen, die den Wühlern durch die
Einteilung des Landes in Wahlkreise angelegt werden, hat überall Zustimmung
gefunden. Ebenso allgemein wird die Listenwahl als unausführbar betrachtet.
Eine weit schlimmere Erbsünde aller dieser Entwürfe und Gesetze ist und
bleibt aber die Unkenntnis der Wahlziffer"); daher die unnötigen Über¬
anstrengungen der Parteien, die sinnlose Verschwendung der Stimmen. Würde
dieser Mangel beseitigt, so würde neben andern Vorteilen, wie der Ver-
hültnismüßigkeit der Ergebnisse und neben der Verwertung der Stimmen
der Minderheiten auch noch der Gewinn einer größern Freiheit der Bewegung
und der Vereinigung der Wähler zur Vertretung dieser oder jener Interessen
erreicht werden. Dann wäre nebenbei das Verlangen nach einer reinen
Interessenvertretung erledigt.

Ans den alten Geleisen des Parteilebens in Deutschland müssen wir uns
herausretten, wenn nicht die großen nationalen Aufgaben des Reichs gefährdet
werden sollen. Versuche, aus der unnatürlichen Verschränkung der Partei¬
bestrebungen für die Neichsleitung Nutzen zu ziehen, mögen über eine augen¬
blicklich vorhandne Schwierigkeit weghelfen, für die große nationale Zukunft
wird dabei nichts gewonnen. Ein wahres Unglück aber wäre ein polizeilicher
Vuud mit der Kurie, deren Geneigtheit bei jedem Wahlgänge von neuem erkauft
werden müßte, deren Absichten nicht lauter sind, deren Sold so hoch bemessen



d, h, der Anzahl Stimmen, die für die Wahl eines Kandidaten erforderlich ist. Em
Borschlag, wie die Minderheiten durch Einzelwahlen geschützt werden können, wobei die Wahl¬
ziffern schon vor der Wahl bestimmt wird, ist in den Hamburger Nachrichten (Februar 1894, Ur. 3l,
und AI) gemacht worden.
Das deutsche Reich und die Aurie

strebenden Nation. In Amerika beherrscht auch heute noch das Mißtrauen
gegen die delegirte Gewalt das ganze öffentliche Leben, aber selbst unter den
schwierigsten Umständen hat es niemand gewagt, Vorschläge zu machen, die
die Grundsätze der Freiheit und der Selbstbestimmung hätten in Frage stellen
können. In Deutschland wendet sich der Unmut heute schon weit mehr gegen
die Herrschsucht und gegen die unfruchtbaren Zänkereien der Parteien, als
gegen die Neichsleitung. Man befürchtet eine Gefährdung unsrer ganzen na¬
tionalen Zukunft.

Eine Umgestaltung unser verrotteten Parteiverhältnisse läßt sich nur er¬
warten von einer völligen Verschiebung der Lage der Dinge, und eine solche
kann auf friedlichem Wege uur erreicht werden dnrch eine Änderung unsrer
Wahlgesetzgebung. Von allen Seiten sind Vorschläge zur Besserung unsrer
Wahlgesetze gemacht worden, in Deutschland, in Frankreich, in der Schweiz,
in Belgien, in Dünemark, Spanien, England und Italien, in Nordamerika
und in den englischen Kolonien; zum Teil haben solche Vorschläge gesetzliche
Gestalt gewonnen. Aber nicht alle diese Gesetze haben die Probe bestanden.
Der Grundgedanke jedoch, die Fesseln zu sprengen, die den Wühlern durch die
Einteilung des Landes in Wahlkreise angelegt werden, hat überall Zustimmung
gefunden. Ebenso allgemein wird die Listenwahl als unausführbar betrachtet.
Eine weit schlimmere Erbsünde aller dieser Entwürfe und Gesetze ist und
bleibt aber die Unkenntnis der Wahlziffer"); daher die unnötigen Über¬
anstrengungen der Parteien, die sinnlose Verschwendung der Stimmen. Würde
dieser Mangel beseitigt, so würde neben andern Vorteilen, wie der Ver-
hültnismüßigkeit der Ergebnisse und neben der Verwertung der Stimmen
der Minderheiten auch noch der Gewinn einer größern Freiheit der Bewegung
und der Vereinigung der Wähler zur Vertretung dieser oder jener Interessen
erreicht werden. Dann wäre nebenbei das Verlangen nach einer reinen
Interessenvertretung erledigt.

Ans den alten Geleisen des Parteilebens in Deutschland müssen wir uns
herausretten, wenn nicht die großen nationalen Aufgaben des Reichs gefährdet
werden sollen. Versuche, aus der unnatürlichen Verschränkung der Partei¬
bestrebungen für die Neichsleitung Nutzen zu ziehen, mögen über eine augen¬
blicklich vorhandne Schwierigkeit weghelfen, für die große nationale Zukunft
wird dabei nichts gewonnen. Ein wahres Unglück aber wäre ein polizeilicher
Vuud mit der Kurie, deren Geneigtheit bei jedem Wahlgänge von neuem erkauft
werden müßte, deren Absichten nicht lauter sind, deren Sold so hoch bemessen



d, h, der Anzahl Stimmen, die für die Wahl eines Kandidaten erforderlich ist. Em
Borschlag, wie die Minderheiten durch Einzelwahlen geschützt werden können, wobei die Wahl¬
ziffern schon vor der Wahl bestimmt wird, ist in den Hamburger Nachrichten (Februar 1894, Ur. 3l,
und AI) gemacht worden.
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[0360] Das deutsche Reich und die Aurie strebenden Nation. In Amerika beherrscht auch heute noch das Mißtrauen gegen die delegirte Gewalt das ganze öffentliche Leben, aber selbst unter den schwierigsten Umständen hat es niemand gewagt, Vorschläge zu machen, die die Grundsätze der Freiheit und der Selbstbestimmung hätten in Frage stellen können. In Deutschland wendet sich der Unmut heute schon weit mehr gegen die Herrschsucht und gegen die unfruchtbaren Zänkereien der Parteien, als gegen die Neichsleitung. Man befürchtet eine Gefährdung unsrer ganzen na¬ tionalen Zukunft. Eine Umgestaltung unser verrotteten Parteiverhältnisse läßt sich nur er¬ warten von einer völligen Verschiebung der Lage der Dinge, und eine solche kann auf friedlichem Wege uur erreicht werden dnrch eine Änderung unsrer Wahlgesetzgebung. Von allen Seiten sind Vorschläge zur Besserung unsrer Wahlgesetze gemacht worden, in Deutschland, in Frankreich, in der Schweiz, in Belgien, in Dünemark, Spanien, England und Italien, in Nordamerika und in den englischen Kolonien; zum Teil haben solche Vorschläge gesetzliche Gestalt gewonnen. Aber nicht alle diese Gesetze haben die Probe bestanden. Der Grundgedanke jedoch, die Fesseln zu sprengen, die den Wühlern durch die Einteilung des Landes in Wahlkreise angelegt werden, hat überall Zustimmung gefunden. Ebenso allgemein wird die Listenwahl als unausführbar betrachtet. Eine weit schlimmere Erbsünde aller dieser Entwürfe und Gesetze ist und bleibt aber die Unkenntnis der Wahlziffer"); daher die unnötigen Über¬ anstrengungen der Parteien, die sinnlose Verschwendung der Stimmen. Würde dieser Mangel beseitigt, so würde neben andern Vorteilen, wie der Ver- hültnismüßigkeit der Ergebnisse und neben der Verwertung der Stimmen der Minderheiten auch noch der Gewinn einer größern Freiheit der Bewegung und der Vereinigung der Wähler zur Vertretung dieser oder jener Interessen erreicht werden. Dann wäre nebenbei das Verlangen nach einer reinen Interessenvertretung erledigt. Ans den alten Geleisen des Parteilebens in Deutschland müssen wir uns herausretten, wenn nicht die großen nationalen Aufgaben des Reichs gefährdet werden sollen. Versuche, aus der unnatürlichen Verschränkung der Partei¬ bestrebungen für die Neichsleitung Nutzen zu ziehen, mögen über eine augen¬ blicklich vorhandne Schwierigkeit weghelfen, für die große nationale Zukunft wird dabei nichts gewonnen. Ein wahres Unglück aber wäre ein polizeilicher Vuud mit der Kurie, deren Geneigtheit bei jedem Wahlgänge von neuem erkauft werden müßte, deren Absichten nicht lauter sind, deren Sold so hoch bemessen d, h, der Anzahl Stimmen, die für die Wahl eines Kandidaten erforderlich ist. Em Borschlag, wie die Minderheiten durch Einzelwahlen geschützt werden können, wobei die Wahl¬ ziffern schon vor der Wahl bestimmt wird, ist in den Hamburger Nachrichten (Februar 1894, Ur. 3l, und AI) gemacht worden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/360>, abgerufen am 12.05.2024.