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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Das deutsche Reich und die Kurie

rungen an die vor fünfundzwanzig Jahren erkämpften Errungenschaften hält
schon nicht mehr recht vor. Wohl aber wird das Bewußtsein der nationalen
Zusammengehörigkeit und der Einheitlichkeit der Interessen die Gemüter erfassen,
wenn man zu der Einsicht kommen wird, daß die Neichsleitung jederzeit auf
die Förderung des wirtschaftlichen Gedeihens des Reiches gerichtet ist. Die
Erkenntnis der Verpflichtungen eines zur Stellung einer großen und mächtigen
Nation aufstrebenden Gemeinwesens muß durchdringen; dann werden die wider¬
strebenden Bemühungen überwunden werden. Je mehr sich die Überzeugung
befestigen wird, daß die neue Einigung zur Förderung und Sicherung des
Wohlstandes der Nation unentbehrlich ist, desto rascher wird sich jene sachliche
Anschauung der Dinge ausbilden, die die Angehörigen großer Nationalstaaten
vor andern Völkern auszeichnet. Nur auf diese Weise wird ein National¬
bewußtsein großgezogen, und zwar eine gegründete nachhaltige Überzeugung
von der Bedeutung, vou dem Werte eines Großstaates. Dann wird auch jenes
Kraftgefühl entstehen, das kirchliche Einmischungen ablehnt, und das sich getraut,
mit den Umsturzbestrebungen allein fertig zu werden. Es macht einen kläg¬
lichen Eindruck, wenn man nach den großen Ereignissen der Kriegsjahre erleben
muß, daß die Kurie, die den Staat so unversöhnlich bekämpft, zur Stärkung
des Sinnes für staatliche Ordnung Förderung des kirchlichen Sinnes empfiehlt,
und daß sich überzeugte Anhänger solcher Lehren finden. nationaler Sinn im
deutschen Reiche muß aus den Einrichtungen des Reichs, aus der Erkenntnis,
daß diese Einigung Nutzen bringt, entstehen, kann aber nicht auf dem Wege
der Belehrung und Ermahnung beigebracht werden. Und sollte auch die
katholische Kirche den Willen und die Kraft haben, die Umsturzbewegung zu
meistern, so könnte dies nur in der Weise unternommen werden, daß wieder
einmal eine Drehung nach rückwärts von Leuten vollzogen würde, die dem
Rade der Geschichte so gern in die Speichen greifen möchten.

Es läßt sich nicht verkennen, daß die Grundursache unsrer schlimmen
Lage in der eigentümlichen Gestaltung unsrer politischen Parteien und unsers
parlamentarischen Lebens liegt. Als die Bürger von Nordamerika die Unab¬
hängigkeit erkämpft hatten und sich eine Verfassung gaben, wurde die Gefahr
Wohl erkannt und erwogen, daß das Volk seine kaum erworbnen Rechte an
die gewählten Abgeordneten verlieren könnte. Es waren gerade die Gründer
der Freiheit selbst, die damals die Befürchtung aussprachen, daß die xowstas
^An-Mtü ein weit schlimmerer Feind des Volkes werden könnte, als der König
von England und seine Gouverneure. Wir Deutschen haben, als wir die
Reichsverfassung berieten, im Vollgefühle der endlich errnngnen Einigung an
solche Gefahr ganz und gar nicht gedacht. Die Amerikaner hatten die Frei¬
heit schon gekostet, als sie durch eine Verfassung die staatliche Einigung ge¬
stalteten, wir Deutschen dagegen kannten, als wir uns in gleicher Lage be¬
fanden, die Freiheit ebenso wenig, wie die Verpflichtungen einer großen auf-


Das deutsche Reich und die Kurie

rungen an die vor fünfundzwanzig Jahren erkämpften Errungenschaften hält
schon nicht mehr recht vor. Wohl aber wird das Bewußtsein der nationalen
Zusammengehörigkeit und der Einheitlichkeit der Interessen die Gemüter erfassen,
wenn man zu der Einsicht kommen wird, daß die Neichsleitung jederzeit auf
die Förderung des wirtschaftlichen Gedeihens des Reiches gerichtet ist. Die
Erkenntnis der Verpflichtungen eines zur Stellung einer großen und mächtigen
Nation aufstrebenden Gemeinwesens muß durchdringen; dann werden die wider¬
strebenden Bemühungen überwunden werden. Je mehr sich die Überzeugung
befestigen wird, daß die neue Einigung zur Förderung und Sicherung des
Wohlstandes der Nation unentbehrlich ist, desto rascher wird sich jene sachliche
Anschauung der Dinge ausbilden, die die Angehörigen großer Nationalstaaten
vor andern Völkern auszeichnet. Nur auf diese Weise wird ein National¬
bewußtsein großgezogen, und zwar eine gegründete nachhaltige Überzeugung
von der Bedeutung, vou dem Werte eines Großstaates. Dann wird auch jenes
Kraftgefühl entstehen, das kirchliche Einmischungen ablehnt, und das sich getraut,
mit den Umsturzbestrebungen allein fertig zu werden. Es macht einen kläg¬
lichen Eindruck, wenn man nach den großen Ereignissen der Kriegsjahre erleben
muß, daß die Kurie, die den Staat so unversöhnlich bekämpft, zur Stärkung
des Sinnes für staatliche Ordnung Förderung des kirchlichen Sinnes empfiehlt,
und daß sich überzeugte Anhänger solcher Lehren finden. nationaler Sinn im
deutschen Reiche muß aus den Einrichtungen des Reichs, aus der Erkenntnis,
daß diese Einigung Nutzen bringt, entstehen, kann aber nicht auf dem Wege
der Belehrung und Ermahnung beigebracht werden. Und sollte auch die
katholische Kirche den Willen und die Kraft haben, die Umsturzbewegung zu
meistern, so könnte dies nur in der Weise unternommen werden, daß wieder
einmal eine Drehung nach rückwärts von Leuten vollzogen würde, die dem
Rade der Geschichte so gern in die Speichen greifen möchten.

Es läßt sich nicht verkennen, daß die Grundursache unsrer schlimmen
Lage in der eigentümlichen Gestaltung unsrer politischen Parteien und unsers
parlamentarischen Lebens liegt. Als die Bürger von Nordamerika die Unab¬
hängigkeit erkämpft hatten und sich eine Verfassung gaben, wurde die Gefahr
Wohl erkannt und erwogen, daß das Volk seine kaum erworbnen Rechte an
die gewählten Abgeordneten verlieren könnte. Es waren gerade die Gründer
der Freiheit selbst, die damals die Befürchtung aussprachen, daß die xowstas
^An-Mtü ein weit schlimmerer Feind des Volkes werden könnte, als der König
von England und seine Gouverneure. Wir Deutschen haben, als wir die
Reichsverfassung berieten, im Vollgefühle der endlich errnngnen Einigung an
solche Gefahr ganz und gar nicht gedacht. Die Amerikaner hatten die Frei¬
heit schon gekostet, als sie durch eine Verfassung die staatliche Einigung ge¬
stalteten, wir Deutschen dagegen kannten, als wir uns in gleicher Lage be¬
fanden, die Freiheit ebenso wenig, wie die Verpflichtungen einer großen auf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/359>, abgerufen am 06.06.2024.