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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Die Erfolge der genossenschaftlichen Selbstverwaltung

als Fachschullehrer verwendet zu werden. So wurden 27 Meister und 22 Ge¬
sellen ausgewühlt und mit Geldmitteln für die Reise und für deu Aufenthalt
in Wien versehen. Nach dem Bericht des Handelsministeriums stellte sich heraus,
daß bei Beginn des Meisterkurses von diesen als ganz besonders tüchtig aus¬
gesuchten Leuten fast keiner imstande war, "Muster zu zeichnen" oder "Leisten
zu schneiden." Die Anatomie des Fußes war ihnen völlig unbekannt, von
der gewerblichen Buchführung und zur "Kalkulation" der erzeugten Waren
fehlten fast allen die nötigsten Begriffe. Die Hälfte war nicht imstande, richtig
Maß zu nehmen, die Oberteile zuzurichten und zu Steppen. Ein Drittel konnte
den "Boden nicht arbeiten" (d. h. die Verbindung von Sohle und Oberleder
herstellen) usw. Das waren traurige Aussichten, aber um so verblüffender
war der amtlich festgestellte Erfolg nach sechs Wochen. Elf Teilnehmern konnte
das Zeugnis sehr guter Befähigung zum Fachschullehrer für Schuhmacherei
gegeben, fünfundzwanzig als gut befähigt bezeichnet werden, nur dreizehn hatten
sich als mehr oder weniger bildungsunfühig erwiesen. Man mag darüber
streiten können, ob die von den sechsunddreißig Schuhmachern erworbnen Kennt¬
nisse der Allgemeinheit im Schnhmachergewerbe besonders zu gute kommen oder
ob sie nicht vielmehr von den glücklichen ErWerbern vor allem im eignen ge¬
schäftlichen Interesse werden ausgenutzt werden, was ihnen kaum zu verübeln
wäre. Die Aussichten des Fachlehrers für Schuhmacherei sind sicher weniger
verlockend, als das Emporkommen vom kleinen, untüchtigen Schuster zum
leistungsfähigen, mit Motoren und Werkzeugmaschinen arbeitenden Schuhfabri-
kcmteu, zumal wenn der Masse der konkurrirenden Handwerksgenossen der Vorteil
dieser bessern "Arbeitsbehelfe" verschlossen bleibt. Aber sei dem, wie ihm wolle,
die Meisterkurse haben jedenfalls bewiesen, daß die Schuhmacher in Österreich
vieles nicht gelernt haben, was zum gedeihlichen Betriebe des Schuhmacher¬
gewerbes ganz unerläßlich ist, und was sie sehr wohl lernen könnten, wenn
sie nur wollten. Der viel getadelte "grüne Tisch" im Kleingewerbesaale in
Wien hat diesen Beweis gebracht, und er darf stolz darauf sein gegenüber der
gerühmten Selbstverwaltung in den Genossenschaften, die bisher zwar auch in
Osterreich recht wohl befähigt erschien, der Agitation um gesetzliche Privilegien
und Monopole zu dienen, aber um so weniger, die Meister zu der Erkenntnis zu
bringen, daß sie lernen müssen, und zu dem Entschluß, auch wirklich zu lernen.

Außer den drei genannten amtlichen Veröffentlichungen kommt in ge¬
wissem Sinne noch in Betracht die "Sammlung von Gutachten und Entschei¬
dungen über den Umfang der Gewerberechte," nach amtlichen Quellen heraus¬
gegeben von F. Frey und R. Maresch (Wien, 1894). Wenn auch dieses
Werk über deu Erfolg des Genossenschaftswesens seit 1833 nichts berichtet,
so giebt es auf seinen 1128 Seiten doch ein interessantes, freilich, wie wir
meinen, recht trauriges Bild von dem, was eigentlich die Genossenschaft in
der Zeit seit ihrer Neuordnung bewegt und beschäftigt hat. Wer die von uns


Die Erfolge der genossenschaftlichen Selbstverwaltung

als Fachschullehrer verwendet zu werden. So wurden 27 Meister und 22 Ge¬
sellen ausgewühlt und mit Geldmitteln für die Reise und für deu Aufenthalt
in Wien versehen. Nach dem Bericht des Handelsministeriums stellte sich heraus,
daß bei Beginn des Meisterkurses von diesen als ganz besonders tüchtig aus¬
gesuchten Leuten fast keiner imstande war, „Muster zu zeichnen" oder „Leisten
zu schneiden." Die Anatomie des Fußes war ihnen völlig unbekannt, von
der gewerblichen Buchführung und zur „Kalkulation" der erzeugten Waren
fehlten fast allen die nötigsten Begriffe. Die Hälfte war nicht imstande, richtig
Maß zu nehmen, die Oberteile zuzurichten und zu Steppen. Ein Drittel konnte
den „Boden nicht arbeiten" (d. h. die Verbindung von Sohle und Oberleder
herstellen) usw. Das waren traurige Aussichten, aber um so verblüffender
war der amtlich festgestellte Erfolg nach sechs Wochen. Elf Teilnehmern konnte
das Zeugnis sehr guter Befähigung zum Fachschullehrer für Schuhmacherei
gegeben, fünfundzwanzig als gut befähigt bezeichnet werden, nur dreizehn hatten
sich als mehr oder weniger bildungsunfühig erwiesen. Man mag darüber
streiten können, ob die von den sechsunddreißig Schuhmachern erworbnen Kennt¬
nisse der Allgemeinheit im Schnhmachergewerbe besonders zu gute kommen oder
ob sie nicht vielmehr von den glücklichen ErWerbern vor allem im eignen ge¬
schäftlichen Interesse werden ausgenutzt werden, was ihnen kaum zu verübeln
wäre. Die Aussichten des Fachlehrers für Schuhmacherei sind sicher weniger
verlockend, als das Emporkommen vom kleinen, untüchtigen Schuster zum
leistungsfähigen, mit Motoren und Werkzeugmaschinen arbeitenden Schuhfabri-
kcmteu, zumal wenn der Masse der konkurrirenden Handwerksgenossen der Vorteil
dieser bessern „Arbeitsbehelfe" verschlossen bleibt. Aber sei dem, wie ihm wolle,
die Meisterkurse haben jedenfalls bewiesen, daß die Schuhmacher in Österreich
vieles nicht gelernt haben, was zum gedeihlichen Betriebe des Schuhmacher¬
gewerbes ganz unerläßlich ist, und was sie sehr wohl lernen könnten, wenn
sie nur wollten. Der viel getadelte „grüne Tisch" im Kleingewerbesaale in
Wien hat diesen Beweis gebracht, und er darf stolz darauf sein gegenüber der
gerühmten Selbstverwaltung in den Genossenschaften, die bisher zwar auch in
Osterreich recht wohl befähigt erschien, der Agitation um gesetzliche Privilegien
und Monopole zu dienen, aber um so weniger, die Meister zu der Erkenntnis zu
bringen, daß sie lernen müssen, und zu dem Entschluß, auch wirklich zu lernen.

Außer den drei genannten amtlichen Veröffentlichungen kommt in ge¬
wissem Sinne noch in Betracht die „Sammlung von Gutachten und Entschei¬
dungen über den Umfang der Gewerberechte," nach amtlichen Quellen heraus¬
gegeben von F. Frey und R. Maresch (Wien, 1894). Wenn auch dieses
Werk über deu Erfolg des Genossenschaftswesens seit 1833 nichts berichtet,
so giebt es auf seinen 1128 Seiten doch ein interessantes, freilich, wie wir
meinen, recht trauriges Bild von dem, was eigentlich die Genossenschaft in
der Zeit seit ihrer Neuordnung bewegt und beschäftigt hat. Wer die von uns


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[0372] Die Erfolge der genossenschaftlichen Selbstverwaltung als Fachschullehrer verwendet zu werden. So wurden 27 Meister und 22 Ge¬ sellen ausgewühlt und mit Geldmitteln für die Reise und für deu Aufenthalt in Wien versehen. Nach dem Bericht des Handelsministeriums stellte sich heraus, daß bei Beginn des Meisterkurses von diesen als ganz besonders tüchtig aus¬ gesuchten Leuten fast keiner imstande war, „Muster zu zeichnen" oder „Leisten zu schneiden." Die Anatomie des Fußes war ihnen völlig unbekannt, von der gewerblichen Buchführung und zur „Kalkulation" der erzeugten Waren fehlten fast allen die nötigsten Begriffe. Die Hälfte war nicht imstande, richtig Maß zu nehmen, die Oberteile zuzurichten und zu Steppen. Ein Drittel konnte den „Boden nicht arbeiten" (d. h. die Verbindung von Sohle und Oberleder herstellen) usw. Das waren traurige Aussichten, aber um so verblüffender war der amtlich festgestellte Erfolg nach sechs Wochen. Elf Teilnehmern konnte das Zeugnis sehr guter Befähigung zum Fachschullehrer für Schuhmacherei gegeben, fünfundzwanzig als gut befähigt bezeichnet werden, nur dreizehn hatten sich als mehr oder weniger bildungsunfühig erwiesen. Man mag darüber streiten können, ob die von den sechsunddreißig Schuhmachern erworbnen Kennt¬ nisse der Allgemeinheit im Schnhmachergewerbe besonders zu gute kommen oder ob sie nicht vielmehr von den glücklichen ErWerbern vor allem im eignen ge¬ schäftlichen Interesse werden ausgenutzt werden, was ihnen kaum zu verübeln wäre. Die Aussichten des Fachlehrers für Schuhmacherei sind sicher weniger verlockend, als das Emporkommen vom kleinen, untüchtigen Schuster zum leistungsfähigen, mit Motoren und Werkzeugmaschinen arbeitenden Schuhfabri- kcmteu, zumal wenn der Masse der konkurrirenden Handwerksgenossen der Vorteil dieser bessern „Arbeitsbehelfe" verschlossen bleibt. Aber sei dem, wie ihm wolle, die Meisterkurse haben jedenfalls bewiesen, daß die Schuhmacher in Österreich vieles nicht gelernt haben, was zum gedeihlichen Betriebe des Schuhmacher¬ gewerbes ganz unerläßlich ist, und was sie sehr wohl lernen könnten, wenn sie nur wollten. Der viel getadelte „grüne Tisch" im Kleingewerbesaale in Wien hat diesen Beweis gebracht, und er darf stolz darauf sein gegenüber der gerühmten Selbstverwaltung in den Genossenschaften, die bisher zwar auch in Osterreich recht wohl befähigt erschien, der Agitation um gesetzliche Privilegien und Monopole zu dienen, aber um so weniger, die Meister zu der Erkenntnis zu bringen, daß sie lernen müssen, und zu dem Entschluß, auch wirklich zu lernen. Außer den drei genannten amtlichen Veröffentlichungen kommt in ge¬ wissem Sinne noch in Betracht die „Sammlung von Gutachten und Entschei¬ dungen über den Umfang der Gewerberechte," nach amtlichen Quellen heraus¬ gegeben von F. Frey und R. Maresch (Wien, 1894). Wenn auch dieses Werk über deu Erfolg des Genossenschaftswesens seit 1833 nichts berichtet, so giebt es auf seinen 1128 Seiten doch ein interessantes, freilich, wie wir meinen, recht trauriges Bild von dem, was eigentlich die Genossenschaft in der Zeit seit ihrer Neuordnung bewegt und beschäftigt hat. Wer die von uns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/372>, abgerufen am 17.06.2024.