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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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den äußerlich am bescheidensten, anspruchslosesten auftretenden Heftchen, z. B.
den Balladen und poetischen Erzählungen von Franz Dittmar
(Dresden und Leipzig. E. Piersons Verlag, 1895) ist wenig mehr zu rühmen
als eine gewisse Sauberkeit der Form; der echte Balladenton ist allenfalls in
der kleinen Nürnberger Sage "Se. Sebald" getroffen. In den erzählenden
Gedichten Bernhard und Berthn; Ile Williken von K. von Wissell
(Hildesheim, Finke) geht eine gewisse Frische mit der Beschreibungstrivialität
so geschwisterlich Hand in Hand, daß die poetische Wirkung ausbleiben muß.
Der Verfasser scheint fleißig in alten Chroniken und Urkunden gelesen zu haben
und meint nun, daß schon die Anwendung altertümlicher Wörter zu Farbe
und Leben verhelfen. Höher steht Aus dem Tagebuch der Äbtissin, eine
Mär aus Westfalen von Wilhelm Tobler (Leipzig, G. Strübig. 1895),
mit der wir den Boden der "Scheffelei," das Gebiet der zahllosen Nach¬
ahmungen des "Trompeters von Säckingen" betreten. Die Erzählung in reim¬
losen Trochäen, mit eingestochenen lyrischen Gedichten, dazu der Hintergrund
einer abseits liegenden Landschaft und weit zurückliegender Zeit: alles wie bei
dem Vorbilde. Aber es sind doch einzelne hübsche Züge, frische Beschreibungen
und tiefere Gemütslaute in der westfälischen Erzählung. Sie spielt in den
Tagen, wo das Verbot der Priesterehe ergangen war und das fanatisirte Volk
auch in Westfalen die verheirateten Priester vom Altar hinwegtrieb. Der
Grundstimmung nach könnte man das ganze Gedicht eine Variante zu dem alten
Studeutenliede nennen:

Doch es ist ernst gemeint, und der Held Gerhard muß sterben, weil "mit un¬
schuldiger Verschuldung" er die Hand nach hohem Glücke ausgestreckt hat, "das
heute noch nicht versagt war und doch morgen ward versaget und verbannt."
Unter die Nachahmungen Scheffels gehört auch Das Glück, ein Sang von
der Donau von Franz Wolfs (Leipzig, Oswald Mütze, 1895), worin ein
Paar hübsche Liebesgedichte unter den lyrischen Einschaltungen das beste sein
dürften, was der Dichter vor der Hand zu bieten hat. Die Geschichte von
dem Spielmnnn Friede!, der erst dem Kloster und dann der Liebsten entflieht,
um rastlos durch die Welt hinter dem Glücke dreinzujagen, bis er späte Ruhe,
spätes Glück bei der Geliebten seiner Jugend findet, ist zu einfach und zu oft
dagewesen, als daß sie durch etwas andres, als durch den höchsten Reiz der
Einzelausführung noch Eindruck machen könnte, und dieser Reiz fehlt hier so
gut wie ganz. Lebendige Phantasie, Anschauungs- und Farbenfülle und trotz
des unerquicklichen renommistischen Wortschwalls, auch ein Stück echter Ge¬
staltungskraft zeigt sich in den Dichtungen von Franz Held: Don Juans
Ratskellerkneipen, eine feuchtfröhliche Weinmär (Berlin, Freskoverlag, 1894)
und rg.nun8g,srs röviäivus und andre Gestalten (Ebenda, 1894). Frei-


Grenzboten II 1896 47
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den äußerlich am bescheidensten, anspruchslosesten auftretenden Heftchen, z. B.
den Balladen und poetischen Erzählungen von Franz Dittmar
(Dresden und Leipzig. E. Piersons Verlag, 1895) ist wenig mehr zu rühmen
als eine gewisse Sauberkeit der Form; der echte Balladenton ist allenfalls in
der kleinen Nürnberger Sage „Se. Sebald" getroffen. In den erzählenden
Gedichten Bernhard und Berthn; Ile Williken von K. von Wissell
(Hildesheim, Finke) geht eine gewisse Frische mit der Beschreibungstrivialität
so geschwisterlich Hand in Hand, daß die poetische Wirkung ausbleiben muß.
Der Verfasser scheint fleißig in alten Chroniken und Urkunden gelesen zu haben
und meint nun, daß schon die Anwendung altertümlicher Wörter zu Farbe
und Leben verhelfen. Höher steht Aus dem Tagebuch der Äbtissin, eine
Mär aus Westfalen von Wilhelm Tobler (Leipzig, G. Strübig. 1895),
mit der wir den Boden der „Scheffelei," das Gebiet der zahllosen Nach¬
ahmungen des „Trompeters von Säckingen" betreten. Die Erzählung in reim¬
losen Trochäen, mit eingestochenen lyrischen Gedichten, dazu der Hintergrund
einer abseits liegenden Landschaft und weit zurückliegender Zeit: alles wie bei
dem Vorbilde. Aber es sind doch einzelne hübsche Züge, frische Beschreibungen
und tiefere Gemütslaute in der westfälischen Erzählung. Sie spielt in den
Tagen, wo das Verbot der Priesterehe ergangen war und das fanatisirte Volk
auch in Westfalen die verheirateten Priester vom Altar hinwegtrieb. Der
Grundstimmung nach könnte man das ganze Gedicht eine Variante zu dem alten
Studeutenliede nennen:

Doch es ist ernst gemeint, und der Held Gerhard muß sterben, weil „mit un¬
schuldiger Verschuldung" er die Hand nach hohem Glücke ausgestreckt hat, „das
heute noch nicht versagt war und doch morgen ward versaget und verbannt."
Unter die Nachahmungen Scheffels gehört auch Das Glück, ein Sang von
der Donau von Franz Wolfs (Leipzig, Oswald Mütze, 1895), worin ein
Paar hübsche Liebesgedichte unter den lyrischen Einschaltungen das beste sein
dürften, was der Dichter vor der Hand zu bieten hat. Die Geschichte von
dem Spielmnnn Friede!, der erst dem Kloster und dann der Liebsten entflieht,
um rastlos durch die Welt hinter dem Glücke dreinzujagen, bis er späte Ruhe,
spätes Glück bei der Geliebten seiner Jugend findet, ist zu einfach und zu oft
dagewesen, als daß sie durch etwas andres, als durch den höchsten Reiz der
Einzelausführung noch Eindruck machen könnte, und dieser Reiz fehlt hier so
gut wie ganz. Lebendige Phantasie, Anschauungs- und Farbenfülle und trotz
des unerquicklichen renommistischen Wortschwalls, auch ein Stück echter Ge¬
staltungskraft zeigt sich in den Dichtungen von Franz Held: Don Juans
Ratskellerkneipen, eine feuchtfröhliche Weinmär (Berlin, Freskoverlag, 1894)
und rg.nun8g,srs röviäivus und andre Gestalten (Ebenda, 1894). Frei-


Grenzboten II 1896 47
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[0377] Neue deutsche Lpik den äußerlich am bescheidensten, anspruchslosesten auftretenden Heftchen, z. B. den Balladen und poetischen Erzählungen von Franz Dittmar (Dresden und Leipzig. E. Piersons Verlag, 1895) ist wenig mehr zu rühmen als eine gewisse Sauberkeit der Form; der echte Balladenton ist allenfalls in der kleinen Nürnberger Sage „Se. Sebald" getroffen. In den erzählenden Gedichten Bernhard und Berthn; Ile Williken von K. von Wissell (Hildesheim, Finke) geht eine gewisse Frische mit der Beschreibungstrivialität so geschwisterlich Hand in Hand, daß die poetische Wirkung ausbleiben muß. Der Verfasser scheint fleißig in alten Chroniken und Urkunden gelesen zu haben und meint nun, daß schon die Anwendung altertümlicher Wörter zu Farbe und Leben verhelfen. Höher steht Aus dem Tagebuch der Äbtissin, eine Mär aus Westfalen von Wilhelm Tobler (Leipzig, G. Strübig. 1895), mit der wir den Boden der „Scheffelei," das Gebiet der zahllosen Nach¬ ahmungen des „Trompeters von Säckingen" betreten. Die Erzählung in reim¬ losen Trochäen, mit eingestochenen lyrischen Gedichten, dazu der Hintergrund einer abseits liegenden Landschaft und weit zurückliegender Zeit: alles wie bei dem Vorbilde. Aber es sind doch einzelne hübsche Züge, frische Beschreibungen und tiefere Gemütslaute in der westfälischen Erzählung. Sie spielt in den Tagen, wo das Verbot der Priesterehe ergangen war und das fanatisirte Volk auch in Westfalen die verheirateten Priester vom Altar hinwegtrieb. Der Grundstimmung nach könnte man das ganze Gedicht eine Variante zu dem alten Studeutenliede nennen: Doch es ist ernst gemeint, und der Held Gerhard muß sterben, weil „mit un¬ schuldiger Verschuldung" er die Hand nach hohem Glücke ausgestreckt hat, „das heute noch nicht versagt war und doch morgen ward versaget und verbannt." Unter die Nachahmungen Scheffels gehört auch Das Glück, ein Sang von der Donau von Franz Wolfs (Leipzig, Oswald Mütze, 1895), worin ein Paar hübsche Liebesgedichte unter den lyrischen Einschaltungen das beste sein dürften, was der Dichter vor der Hand zu bieten hat. Die Geschichte von dem Spielmnnn Friede!, der erst dem Kloster und dann der Liebsten entflieht, um rastlos durch die Welt hinter dem Glücke dreinzujagen, bis er späte Ruhe, spätes Glück bei der Geliebten seiner Jugend findet, ist zu einfach und zu oft dagewesen, als daß sie durch etwas andres, als durch den höchsten Reiz der Einzelausführung noch Eindruck machen könnte, und dieser Reiz fehlt hier so gut wie ganz. Lebendige Phantasie, Anschauungs- und Farbenfülle und trotz des unerquicklichen renommistischen Wortschwalls, auch ein Stück echter Ge¬ staltungskraft zeigt sich in den Dichtungen von Franz Held: Don Juans Ratskellerkneipen, eine feuchtfröhliche Weinmär (Berlin, Freskoverlag, 1894) und rg.nun8g,srs röviäivus und andre Gestalten (Ebenda, 1894). Frei- Grenzboten II 1896 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/377>, abgerufen am 17.06.2024.