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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Neue deutsche Lpik

lich ergeht es uns mit diesen Dichtungen wie dem Unglücklichen, dem alle
Fleischnahrung zum Ekel wird, weil er das Vortrefflichste in der einen braunen,
ewig gleichschmeckenden Tunke genießen muß; die Phantasie und die virtuose
Schilderung des Dichters heftet sich, namentlich in den an zweiter Stelle ge¬
nannten erzählenden Dichtungen, so ausschließlich an die Lebensäußerungen leiser,
lüsterner oder leidenschaftlicher, lechzender Sinnlichkeit, daß es fast unmöglich
erscheint, die sonst vorhandnen Eigenschaften seiner Muse rein zu empfinden.
Gleichviel, ob er in "Chider" ein Münchner erotisches Erlebnis schildert oder
fingirt, ob er in "Meister Diepolt" und "Neros Verheißung" oder in der
größern Phantasie "Jephtas Tochter" nach uraltem Rezept Wollust und Grau¬
samkeit mischt, überall die gleiche Sattee, der gleiche Duft, der gleiche Nach¬
geschmack. Nicht frei, aber wenigstens freier davon zeigen sich die Hvlleu-
breughelschen Bilder von "Don Juans Natskellerkneipen." Daß sie "fröhlich"
wären, wird außer dem Titel niemand behaupten, aber phantastisch-geistreich,
durch energische Züge, grelle Lichter und tiefe Schatten wirksam sind sie, man
möchte dem Dichter nur den Mut wünschen, die Manier, in der er sich hier
gefällt, über Bord zu werfen und von der "Richtung" zur Dichtung zu kommen;
er würde kein Tüpfelchen seiner Eigentümlichkeit dabei einbüßen.

Wenn der "Roman in Versen" Der neue Don Quixote, der sich
außerdem als "eine romantische Kateridee" von Hermann Vender (Zürich,
Cäsar Schmidt, 1895) bezeichnet, einen weitern Zweck hat, als den kölnisch¬
spanischen Dichter Don Johann Fasteurath ein wenig zu ironisiren, so versteckt
sich dieser Zweck uuter allerhand tollem Karncvalsscherz. Über den Schilde¬
rungen und Späßen aus Jnnerafrika und Ägypten schwebt im guten Sinne
der Geist des Heinischen "Atta Troll" -- der Zug Bakers nach den Nilquellen
ist dem Dichter nur ein Vorwand, um vielerlei hübsche Dinge an dem afrika¬
nischen Faden aufzureihen, unter denen die Kriegscrinnerung von 1871 und
Schloß Grancey das hübscheste ist. Jedenfalls kann sich ein gesunder Sinn
an der bunten Phantastik und dem übermütigen Spiel dieses Romans in Versen
besser ergötzen als an der Nachahmung Heines: Deutschland, ein Sommer-
mürchen von Arthur Stein (Breslau, S. Schottländer, 1895), einem Reise-
gedicht, das sich in der Weise des Heinischen "Wintermärchens" in schnoddrigen
Geistreichigkeiten ergeht und alle alten Fortschrittsphrasen bis auf deu Haß
gegen Vismarck, die Vergötterung Heines und die Franzosenverbrüderung ge¬
treulich wiederkäut. Einzelne Verse sind nicht übel, das Ganze jedoch zwei
Menschenalter zu spät geschrieben, Wenn man freilich damit den dünnen
Humor einer "ärztlichen Humoreske" wie Der Bandwurm von Julius
Lieder (Berlin, F. A. Günther) vergleicht, eines Feuilletonscherzes, der sich
ganz überflüssigerweise epischer Formen bedient, so merkt man erst, daß es auch
in dem humoristischen Epos Abstände giebt, die man beim Lesen bloß eines
Gedichts nicht ahnt.


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lich ergeht es uns mit diesen Dichtungen wie dem Unglücklichen, dem alle
Fleischnahrung zum Ekel wird, weil er das Vortrefflichste in der einen braunen,
ewig gleichschmeckenden Tunke genießen muß; die Phantasie und die virtuose
Schilderung des Dichters heftet sich, namentlich in den an zweiter Stelle ge¬
nannten erzählenden Dichtungen, so ausschließlich an die Lebensäußerungen leiser,
lüsterner oder leidenschaftlicher, lechzender Sinnlichkeit, daß es fast unmöglich
erscheint, die sonst vorhandnen Eigenschaften seiner Muse rein zu empfinden.
Gleichviel, ob er in „Chider" ein Münchner erotisches Erlebnis schildert oder
fingirt, ob er in „Meister Diepolt" und „Neros Verheißung" oder in der
größern Phantasie „Jephtas Tochter" nach uraltem Rezept Wollust und Grau¬
samkeit mischt, überall die gleiche Sattee, der gleiche Duft, der gleiche Nach¬
geschmack. Nicht frei, aber wenigstens freier davon zeigen sich die Hvlleu-
breughelschen Bilder von „Don Juans Natskellerkneipen." Daß sie „fröhlich"
wären, wird außer dem Titel niemand behaupten, aber phantastisch-geistreich,
durch energische Züge, grelle Lichter und tiefe Schatten wirksam sind sie, man
möchte dem Dichter nur den Mut wünschen, die Manier, in der er sich hier
gefällt, über Bord zu werfen und von der „Richtung" zur Dichtung zu kommen;
er würde kein Tüpfelchen seiner Eigentümlichkeit dabei einbüßen.

Wenn der „Roman in Versen" Der neue Don Quixote, der sich
außerdem als „eine romantische Kateridee" von Hermann Vender (Zürich,
Cäsar Schmidt, 1895) bezeichnet, einen weitern Zweck hat, als den kölnisch¬
spanischen Dichter Don Johann Fasteurath ein wenig zu ironisiren, so versteckt
sich dieser Zweck uuter allerhand tollem Karncvalsscherz. Über den Schilde¬
rungen und Späßen aus Jnnerafrika und Ägypten schwebt im guten Sinne
der Geist des Heinischen „Atta Troll" — der Zug Bakers nach den Nilquellen
ist dem Dichter nur ein Vorwand, um vielerlei hübsche Dinge an dem afrika¬
nischen Faden aufzureihen, unter denen die Kriegscrinnerung von 1871 und
Schloß Grancey das hübscheste ist. Jedenfalls kann sich ein gesunder Sinn
an der bunten Phantastik und dem übermütigen Spiel dieses Romans in Versen
besser ergötzen als an der Nachahmung Heines: Deutschland, ein Sommer-
mürchen von Arthur Stein (Breslau, S. Schottländer, 1895), einem Reise-
gedicht, das sich in der Weise des Heinischen „Wintermärchens" in schnoddrigen
Geistreichigkeiten ergeht und alle alten Fortschrittsphrasen bis auf deu Haß
gegen Vismarck, die Vergötterung Heines und die Franzosenverbrüderung ge¬
treulich wiederkäut. Einzelne Verse sind nicht übel, das Ganze jedoch zwei
Menschenalter zu spät geschrieben, Wenn man freilich damit den dünnen
Humor einer „ärztlichen Humoreske" wie Der Bandwurm von Julius
Lieder (Berlin, F. A. Günther) vergleicht, eines Feuilletonscherzes, der sich
ganz überflüssigerweise epischer Formen bedient, so merkt man erst, daß es auch
in dem humoristischen Epos Abstände giebt, die man beim Lesen bloß eines
Gedichts nicht ahnt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/378>, abgerufen am 17.06.2024.