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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Politische Pastoren

alten liberalen Doktrinarismus, der sie auch in Wirtschafts- und sozialpolitischer
Beziehung in der Gefolgschaft der unheilvollen, Gott sei Dank, staatswissen¬
schaftlich begrabnen, orthodoxen deutschen Manchesterschule bis heute festgehalten
hatte, zu brechen, wenn sie überhaupt noch ein Recht und eine Möglichkeit
zum Dasein haben wollten. Die teils harmlose, teils doch auch sehr bedauerliche
.Hochachtung vor den Idolen des Manchcstertums, dem Jndustrialismus, dem
Militarismus, dem Mammonismus, vou der ein Strauß, ja selbst teilweise ein
Rothe, und namentlich eine ganze Reihe der liberalen protestantischen Geistlich¬
keit in ihren volkswirtschaftlichen Anschauungen viel zu sehr beherrscht wurden,
hat den liberalen Protestantismus in Deutschland zu jener sozialen Unfruchtbar¬
keit verdammt, die in weiten Kreisen die Meinung wachgerufen but, es sei aus
und zu Ende mit ihm. Und da ist es doch eine interessante, bisher noch gar
nicht nach Gebühr gewürdigte Erscheinung, daß in der Osterwoche auch diese
Pastoren, die am wenigsten "sozial" sein wollten, selbst wenn sich im stillen
persönlichen Wirken waren, zwar ohne Abstimmung und Beschlüsse, aber doch
in ganz ausgesprochner, mit gleichsam elementarer Macht die starre Rinde
theologischer Lehrstreitigkeiten durchbrechender Lebhaftigkeit sich sür den "christ¬
lichen Sozialismus" der Gegenwart, sogar für den eines Naumann -- we¬
nigstens dem Kern der Sache nach -- erklärt und den bekannten Erlaß des
preußischen Oberkirchenrath gegen die "politischen Pastoren" zurückgewiesen
haben. Aber auch der Protestantentag, so kräftig er mit dem alten manchester¬
lichen Bann brechen zu wollen schien, kam nicht über die mit geradezu unbe¬
greiflicher Wirkung ausgestattete Schranke hinweg, über den Wahn, als ob,
wer "sozial" sein wolle, dies nur in der Politik, im öffentlichen Leben, zum
wenigsten nur im Vereinsleben sein könnte. Für die Arbeiterschutzgesetzgebung,
für andre gewerbepolitische Fragen, vielleicht sogar für Ansstandsbewegungen
u. dergl. solle auch der liberale protestantische Geistliche in Zukunft -- so etwa
schien man sich die Sache vorzustellen -- sein "soziales" Interesse bethätigen
dürfen, wenn er auch von Volkswirtschaft etwas zu verstehen nicht beanspruchen
könne. Daß die soziale Aufgabe der Gegenwart zu neun Zehnteln und noch
viel mehr darin besteht, die Anschauungen und die praktischen Lebensgrund¬
sätze der Einzelnen von dem ganz besonders unter dem Einflüsse der Man¬
chesterdoktrin in den Herzen des Volks aller Schichten zur Herrschaft gelangten
grundsätzlichen Egoismus zu der sittlichen Höhe wieder emporzuheben, wie
sie sich in der Lehre Christi offenbart hat, zu der "Nächstenliebe," in der die er¬
lösende Macht des Evangeliums bestand vor neunzehnhundert Jahren wie heute,
davon ist unsers Wissens in den Verhandlungen des Protestantentags in der
Osterwoche auch nicht mit einem Worte die Rede gewesen. Und doch ist darin
die gewaltige Bedeutung der Rolle begründet, die die Kirche und die Geist¬
lichen, auch die Pastoren des Protestantenvereins, bei der Lösung der sozialen
Frage zu übernehmen haben.


Politische Pastoren

alten liberalen Doktrinarismus, der sie auch in Wirtschafts- und sozialpolitischer
Beziehung in der Gefolgschaft der unheilvollen, Gott sei Dank, staatswissen¬
schaftlich begrabnen, orthodoxen deutschen Manchesterschule bis heute festgehalten
hatte, zu brechen, wenn sie überhaupt noch ein Recht und eine Möglichkeit
zum Dasein haben wollten. Die teils harmlose, teils doch auch sehr bedauerliche
.Hochachtung vor den Idolen des Manchcstertums, dem Jndustrialismus, dem
Militarismus, dem Mammonismus, vou der ein Strauß, ja selbst teilweise ein
Rothe, und namentlich eine ganze Reihe der liberalen protestantischen Geistlich¬
keit in ihren volkswirtschaftlichen Anschauungen viel zu sehr beherrscht wurden,
hat den liberalen Protestantismus in Deutschland zu jener sozialen Unfruchtbar¬
keit verdammt, die in weiten Kreisen die Meinung wachgerufen but, es sei aus
und zu Ende mit ihm. Und da ist es doch eine interessante, bisher noch gar
nicht nach Gebühr gewürdigte Erscheinung, daß in der Osterwoche auch diese
Pastoren, die am wenigsten „sozial" sein wollten, selbst wenn sich im stillen
persönlichen Wirken waren, zwar ohne Abstimmung und Beschlüsse, aber doch
in ganz ausgesprochner, mit gleichsam elementarer Macht die starre Rinde
theologischer Lehrstreitigkeiten durchbrechender Lebhaftigkeit sich sür den „christ¬
lichen Sozialismus" der Gegenwart, sogar für den eines Naumann — we¬
nigstens dem Kern der Sache nach — erklärt und den bekannten Erlaß des
preußischen Oberkirchenrath gegen die „politischen Pastoren" zurückgewiesen
haben. Aber auch der Protestantentag, so kräftig er mit dem alten manchester¬
lichen Bann brechen zu wollen schien, kam nicht über die mit geradezu unbe¬
greiflicher Wirkung ausgestattete Schranke hinweg, über den Wahn, als ob,
wer „sozial" sein wolle, dies nur in der Politik, im öffentlichen Leben, zum
wenigsten nur im Vereinsleben sein könnte. Für die Arbeiterschutzgesetzgebung,
für andre gewerbepolitische Fragen, vielleicht sogar für Ansstandsbewegungen
u. dergl. solle auch der liberale protestantische Geistliche in Zukunft — so etwa
schien man sich die Sache vorzustellen — sein „soziales" Interesse bethätigen
dürfen, wenn er auch von Volkswirtschaft etwas zu verstehen nicht beanspruchen
könne. Daß die soziale Aufgabe der Gegenwart zu neun Zehnteln und noch
viel mehr darin besteht, die Anschauungen und die praktischen Lebensgrund¬
sätze der Einzelnen von dem ganz besonders unter dem Einflüsse der Man¬
chesterdoktrin in den Herzen des Volks aller Schichten zur Herrschaft gelangten
grundsätzlichen Egoismus zu der sittlichen Höhe wieder emporzuheben, wie
sie sich in der Lehre Christi offenbart hat, zu der „Nächstenliebe," in der die er¬
lösende Macht des Evangeliums bestand vor neunzehnhundert Jahren wie heute,
davon ist unsers Wissens in den Verhandlungen des Protestantentags in der
Osterwoche auch nicht mit einem Worte die Rede gewesen. Und doch ist darin
die gewaltige Bedeutung der Rolle begründet, die die Kirche und die Geist¬
lichen, auch die Pastoren des Protestantenvereins, bei der Lösung der sozialen
Frage zu übernehmen haben.


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[0386] Politische Pastoren alten liberalen Doktrinarismus, der sie auch in Wirtschafts- und sozialpolitischer Beziehung in der Gefolgschaft der unheilvollen, Gott sei Dank, staatswissen¬ schaftlich begrabnen, orthodoxen deutschen Manchesterschule bis heute festgehalten hatte, zu brechen, wenn sie überhaupt noch ein Recht und eine Möglichkeit zum Dasein haben wollten. Die teils harmlose, teils doch auch sehr bedauerliche .Hochachtung vor den Idolen des Manchcstertums, dem Jndustrialismus, dem Militarismus, dem Mammonismus, vou der ein Strauß, ja selbst teilweise ein Rothe, und namentlich eine ganze Reihe der liberalen protestantischen Geistlich¬ keit in ihren volkswirtschaftlichen Anschauungen viel zu sehr beherrscht wurden, hat den liberalen Protestantismus in Deutschland zu jener sozialen Unfruchtbar¬ keit verdammt, die in weiten Kreisen die Meinung wachgerufen but, es sei aus und zu Ende mit ihm. Und da ist es doch eine interessante, bisher noch gar nicht nach Gebühr gewürdigte Erscheinung, daß in der Osterwoche auch diese Pastoren, die am wenigsten „sozial" sein wollten, selbst wenn sich im stillen persönlichen Wirken waren, zwar ohne Abstimmung und Beschlüsse, aber doch in ganz ausgesprochner, mit gleichsam elementarer Macht die starre Rinde theologischer Lehrstreitigkeiten durchbrechender Lebhaftigkeit sich sür den „christ¬ lichen Sozialismus" der Gegenwart, sogar für den eines Naumann — we¬ nigstens dem Kern der Sache nach — erklärt und den bekannten Erlaß des preußischen Oberkirchenrath gegen die „politischen Pastoren" zurückgewiesen haben. Aber auch der Protestantentag, so kräftig er mit dem alten manchester¬ lichen Bann brechen zu wollen schien, kam nicht über die mit geradezu unbe¬ greiflicher Wirkung ausgestattete Schranke hinweg, über den Wahn, als ob, wer „sozial" sein wolle, dies nur in der Politik, im öffentlichen Leben, zum wenigsten nur im Vereinsleben sein könnte. Für die Arbeiterschutzgesetzgebung, für andre gewerbepolitische Fragen, vielleicht sogar für Ansstandsbewegungen u. dergl. solle auch der liberale protestantische Geistliche in Zukunft — so etwa schien man sich die Sache vorzustellen — sein „soziales" Interesse bethätigen dürfen, wenn er auch von Volkswirtschaft etwas zu verstehen nicht beanspruchen könne. Daß die soziale Aufgabe der Gegenwart zu neun Zehnteln und noch viel mehr darin besteht, die Anschauungen und die praktischen Lebensgrund¬ sätze der Einzelnen von dem ganz besonders unter dem Einflüsse der Man¬ chesterdoktrin in den Herzen des Volks aller Schichten zur Herrschaft gelangten grundsätzlichen Egoismus zu der sittlichen Höhe wieder emporzuheben, wie sie sich in der Lehre Christi offenbart hat, zu der „Nächstenliebe," in der die er¬ lösende Macht des Evangeliums bestand vor neunzehnhundert Jahren wie heute, davon ist unsers Wissens in den Verhandlungen des Protestantentags in der Osterwoche auch nicht mit einem Worte die Rede gewesen. Und doch ist darin die gewaltige Bedeutung der Rolle begründet, die die Kirche und die Geist¬ lichen, auch die Pastoren des Protestantenvereins, bei der Lösung der sozialen Frage zu übernehmen haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/386>, abgerufen am 23.05.2024.