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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Englands Flottenrüstungen

Schulschiffe, sowie unterwegs befindliche Ablösungstransporte und manche Re¬
serven für den Ernstfall noch verfügbar waren, ehe man genötigt gewesen wäre,
zu außerordentlichen Maßnahmen durch Heranziehung der Handelsmarinemann-
schaften zu greifen. Was schließlich die Ausbildung und Tüchtigkeit der
britischen Marineoffiziere und Mannschaften betrifft, so ist diese infolge des
frühzeitigen Dienstantritts und der langen Seefahrzeit ganz vorzüglich. Die
Disziplin ist gut, und durch das gesamte britische Flottenpersonal geht ein
frischer, selbstbewußter und kriegerischer Geist. Auch die wegwerfende Beurtei¬
lung der meisten deutschen Zeitungen über die englische Schiffsartillerie ist un¬
begründet. Es ist ja richtig, daß die englische Marine erst seit dem Jahre 1882
endgiltig von ihren Vorderladekanonen zu Hinterladern überging. Als sie aber
einmal beschlossen hatte, die neue Geschützart einzuführen, wurden auch keine
Kosten gescheut, um die Hunderte von Schiffen sobald als möglich damit zu
versehen. Diese Umarmirung ist jetzt durchgeführt; die englische Flotte hat
jetzt ein durchaus auf der Höhe der Zeit stehendes Artilleriematerial, das sich
sogar durch frühzeitige Einführung schwerer Kaliber von Schuellladeknuouen
(bis zum 15-Centimeterkaliber) ausgezeichnet hat. Wenn man heute in deut¬
schen Blättern lesen muß, daß die englische" Schiffe großenteils veraltet und
schlecht armirt seien und aus Mangel an Personal im Kriegsfalle nicht besetzt
werden könnten, daß ferner die englischen Seeoffiziere und Mannschaften un¬
geübt seien, so sind das Urteile, die von einer sehr bedauerliche" Unkenntnis
der thatsächlichen Verhältnisse zeugen, ebenso wie das mit Vorliebe in letzter
Zeit wieder angeführte Wort von dem englischen Weltreich als dem Koloß
mit thönernen Füßen.") Es wird immer auf die kleine Armee aufmerksam ge¬
macht, die im Inselreich steht; dabei wird aber vergessen, daß sich diese in
einer Stellung befindet, in der sie nur von einem Gegner angegriffen werden
kann, der vorher die englische Flotte geschlagen hat. Die Flotte aber, deren
Hauptmacht die sogenannte "erste Schlachtlinie" bildet, schiebt diese hinaus
bis an die feindliche Küste, um womöglich dort die Schiffe des Gegners vor
ihrem ersten Auslaufen in ihren eignen Häfen einzuschließen, oder sie sobald
als möglich nach dem Verlassen der Häfen zu vernichten. Außer dieser ürst
>M6 ok (lötLULL wird eine zweite Schlachtlinie von Geschwadern im Kriegsfalle
gebildet, die den Kanal bewacht, und eine dritte, die im Verein mit der Armee
die Küsten zu schützen hat. Der Gedanke, ein oder mehrere Armeekorps zur
Eroberung der großbritannischen Inseln vom Kontinent ans zu entsenden, wäre
ein wagehalsiges Abenteuer, so lange nicht die englische Hauptflottenmacht ge¬
schlagen ist.



Die wahrend der letzten Monate oft und laut genug ans allen britischen Kolonien
erschollenen Kundgebungen der treuen Anhänglichkeit um das Mutterland dürften diese falsche
Vorstellung hoffentlich zum Teil verwischt haben.
Englands Flottenrüstungen

Schulschiffe, sowie unterwegs befindliche Ablösungstransporte und manche Re¬
serven für den Ernstfall noch verfügbar waren, ehe man genötigt gewesen wäre,
zu außerordentlichen Maßnahmen durch Heranziehung der Handelsmarinemann-
schaften zu greifen. Was schließlich die Ausbildung und Tüchtigkeit der
britischen Marineoffiziere und Mannschaften betrifft, so ist diese infolge des
frühzeitigen Dienstantritts und der langen Seefahrzeit ganz vorzüglich. Die
Disziplin ist gut, und durch das gesamte britische Flottenpersonal geht ein
frischer, selbstbewußter und kriegerischer Geist. Auch die wegwerfende Beurtei¬
lung der meisten deutschen Zeitungen über die englische Schiffsartillerie ist un¬
begründet. Es ist ja richtig, daß die englische Marine erst seit dem Jahre 1882
endgiltig von ihren Vorderladekanonen zu Hinterladern überging. Als sie aber
einmal beschlossen hatte, die neue Geschützart einzuführen, wurden auch keine
Kosten gescheut, um die Hunderte von Schiffen sobald als möglich damit zu
versehen. Diese Umarmirung ist jetzt durchgeführt; die englische Flotte hat
jetzt ein durchaus auf der Höhe der Zeit stehendes Artilleriematerial, das sich
sogar durch frühzeitige Einführung schwerer Kaliber von Schuellladeknuouen
(bis zum 15-Centimeterkaliber) ausgezeichnet hat. Wenn man heute in deut¬
schen Blättern lesen muß, daß die englische» Schiffe großenteils veraltet und
schlecht armirt seien und aus Mangel an Personal im Kriegsfalle nicht besetzt
werden könnten, daß ferner die englischen Seeoffiziere und Mannschaften un¬
geübt seien, so sind das Urteile, die von einer sehr bedauerliche» Unkenntnis
der thatsächlichen Verhältnisse zeugen, ebenso wie das mit Vorliebe in letzter
Zeit wieder angeführte Wort von dem englischen Weltreich als dem Koloß
mit thönernen Füßen.") Es wird immer auf die kleine Armee aufmerksam ge¬
macht, die im Inselreich steht; dabei wird aber vergessen, daß sich diese in
einer Stellung befindet, in der sie nur von einem Gegner angegriffen werden
kann, der vorher die englische Flotte geschlagen hat. Die Flotte aber, deren
Hauptmacht die sogenannte „erste Schlachtlinie" bildet, schiebt diese hinaus
bis an die feindliche Küste, um womöglich dort die Schiffe des Gegners vor
ihrem ersten Auslaufen in ihren eignen Häfen einzuschließen, oder sie sobald
als möglich nach dem Verlassen der Häfen zu vernichten. Außer dieser ürst
>M6 ok (lötLULL wird eine zweite Schlachtlinie von Geschwadern im Kriegsfalle
gebildet, die den Kanal bewacht, und eine dritte, die im Verein mit der Armee
die Küsten zu schützen hat. Der Gedanke, ein oder mehrere Armeekorps zur
Eroberung der großbritannischen Inseln vom Kontinent ans zu entsenden, wäre
ein wagehalsiges Abenteuer, so lange nicht die englische Hauptflottenmacht ge¬
schlagen ist.



Die wahrend der letzten Monate oft und laut genug ans allen britischen Kolonien
erschollenen Kundgebungen der treuen Anhänglichkeit um das Mutterland dürften diese falsche
Vorstellung hoffentlich zum Teil verwischt haben.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/397>, abgerufen am 17.06.2024.