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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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werden. Da schreibt einer über die Tagespresse: Man muß zwischen ihren
Zeilen lesen. Unsinn! Man muß bei ihr zwischen den Zeilen lesen!
Denn zwischen den Zeilen lesen ist eine formelhafte, innerlich unveränder¬
liche Redensart, die nur dnrch einen ndverbiellen Zusatz (bei ihr) näher be¬
stimmt werden kann. Ein andrer schreibt: Der erste Sturm sollte gegen das
Großkapital gelaufen werden. Doppelter Unsinn! Erstens weil der Sturm
gezählt, zweitens weil die Redensart zerrissen ist. Es muß heißen: Zuerst
sollte gegen das Großkapital Sturm gelaufen werden. Auch Sturm
laufen ist eine feste, formelhafte Redensart. Doppelt fehlerhaft ist auch:
wir müssen fleißigem Gebrauch von der Rute machen (richtig: wir müssen
fleißiger von der Rute Gebrauch machen!) -- die Zeit, wo der Fürst
noch unmittelbare Fühlung mit dem Volke hatte (richtig: unmittelbar
mit dem Volke Fühlung hatte!) ^ besondern Dank wird der Leser dem
Herausgeber für die kurzen Einleitungen wissen (richtig: besonders wird
ver Leser dem Herausgeber für die kurzen Einleitungen Dank wissen) --
besondre Obacht mußte darauf gegeben werden, daß sich keiner der Buße
entzog (richtig: besonders mußte darauf Obacht gegeben werden) --
von konservativ Seite wird vielfach laute Klage über die antisemitischen
Demagogen und über den Einbruch des Antisemitismus in die konservativen
Pnrteiverbände geführt (richtig: wird vielfach laut über die antisemitischen
Demagogen Klage geführt).

Ein Attribut kann ja aber auch in der Form eines abhängigen Genetivs
auftreten: auch in dieser Form kommt der besprochne Fehler jetzt oft vor.
Man schreibt: die Jahre, wo die Hilfslehrer zur Verfügung des Provinzial-
schulkollegiums stehen (muß heißen: dem Provinzialschulkollegium
zur Verfügung stehen) ^ die Streitfragen, die auf der Tagesordnung
ihrer Wissenschaft stehen (muß heißen: in ihrer Wissenschaft auf der
Tagesordnung stehen) -- es sollen ganz bestimmte Gegenstände zur Be¬
ratung der Konferenz gestellt werden (muß heißen: der Konferenz
Zur Beratung gestellt werden) -- die Dame, in deren Mund die Erzäh¬
lung gelegt ist (muß heißen: der die Erzählung in den Mund gelegt ist).
Auch in allen diesen Fällen wird überdies die Redensart zerrissen, in den
Meisten entsteht ein Gallicismus. Unsinniger Wortschwall ist es, wenn jemand
schreibt: da .sich die wirtschaftlichen Verhältnisse im Fluß einer ununter-
brochnem Entwicklung befinden; es genügt: sich ununterbrochen in
Fluß befinden, denn Entwicklung ist dasselbe wie Fluß.

So wenig aber das Hauptwort einer solchen formelhaften Redensart mit
einem Attribut versehen werden kann, so wenig kann es endlich mit einem Re¬
lativsatz behängt werden. Ein Relativsatz kann sich immer nur an den Gesamt¬
vegriff einer Redensart, aber nicht an den Bestandteil anschließen, den das
Hauptwort bildet, denn in der Redensart ist der Begriff des Hauptwortes


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werden. Da schreibt einer über die Tagespresse: Man muß zwischen ihren
Zeilen lesen. Unsinn! Man muß bei ihr zwischen den Zeilen lesen!
Denn zwischen den Zeilen lesen ist eine formelhafte, innerlich unveränder¬
liche Redensart, die nur dnrch einen ndverbiellen Zusatz (bei ihr) näher be¬
stimmt werden kann. Ein andrer schreibt: Der erste Sturm sollte gegen das
Großkapital gelaufen werden. Doppelter Unsinn! Erstens weil der Sturm
gezählt, zweitens weil die Redensart zerrissen ist. Es muß heißen: Zuerst
sollte gegen das Großkapital Sturm gelaufen werden. Auch Sturm
laufen ist eine feste, formelhafte Redensart. Doppelt fehlerhaft ist auch:
wir müssen fleißigem Gebrauch von der Rute machen (richtig: wir müssen
fleißiger von der Rute Gebrauch machen!) — die Zeit, wo der Fürst
noch unmittelbare Fühlung mit dem Volke hatte (richtig: unmittelbar
mit dem Volke Fühlung hatte!) ^ besondern Dank wird der Leser dem
Herausgeber für die kurzen Einleitungen wissen (richtig: besonders wird
ver Leser dem Herausgeber für die kurzen Einleitungen Dank wissen) —
besondre Obacht mußte darauf gegeben werden, daß sich keiner der Buße
entzog (richtig: besonders mußte darauf Obacht gegeben werden) —
von konservativ Seite wird vielfach laute Klage über die antisemitischen
Demagogen und über den Einbruch des Antisemitismus in die konservativen
Pnrteiverbände geführt (richtig: wird vielfach laut über die antisemitischen
Demagogen Klage geführt).

Ein Attribut kann ja aber auch in der Form eines abhängigen Genetivs
auftreten: auch in dieser Form kommt der besprochne Fehler jetzt oft vor.
Man schreibt: die Jahre, wo die Hilfslehrer zur Verfügung des Provinzial-
schulkollegiums stehen (muß heißen: dem Provinzialschulkollegium
zur Verfügung stehen) ^ die Streitfragen, die auf der Tagesordnung
ihrer Wissenschaft stehen (muß heißen: in ihrer Wissenschaft auf der
Tagesordnung stehen) — es sollen ganz bestimmte Gegenstände zur Be¬
ratung der Konferenz gestellt werden (muß heißen: der Konferenz
Zur Beratung gestellt werden) — die Dame, in deren Mund die Erzäh¬
lung gelegt ist (muß heißen: der die Erzählung in den Mund gelegt ist).
Auch in allen diesen Fällen wird überdies die Redensart zerrissen, in den
Meisten entsteht ein Gallicismus. Unsinniger Wortschwall ist es, wenn jemand
schreibt: da .sich die wirtschaftlichen Verhältnisse im Fluß einer ununter-
brochnem Entwicklung befinden; es genügt: sich ununterbrochen in
Fluß befinden, denn Entwicklung ist dasselbe wie Fluß.

So wenig aber das Hauptwort einer solchen formelhaften Redensart mit
einem Attribut versehen werden kann, so wenig kann es endlich mit einem Re¬
lativsatz behängt werden. Ein Relativsatz kann sich immer nur an den Gesamt¬
vegriff einer Redensart, aber nicht an den Bestandteil anschließen, den das
Hauptwort bildet, denn in der Redensart ist der Begriff des Hauptwortes


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[0415] Neue Zprcichdummheiton werden. Da schreibt einer über die Tagespresse: Man muß zwischen ihren Zeilen lesen. Unsinn! Man muß bei ihr zwischen den Zeilen lesen! Denn zwischen den Zeilen lesen ist eine formelhafte, innerlich unveränder¬ liche Redensart, die nur dnrch einen ndverbiellen Zusatz (bei ihr) näher be¬ stimmt werden kann. Ein andrer schreibt: Der erste Sturm sollte gegen das Großkapital gelaufen werden. Doppelter Unsinn! Erstens weil der Sturm gezählt, zweitens weil die Redensart zerrissen ist. Es muß heißen: Zuerst sollte gegen das Großkapital Sturm gelaufen werden. Auch Sturm laufen ist eine feste, formelhafte Redensart. Doppelt fehlerhaft ist auch: wir müssen fleißigem Gebrauch von der Rute machen (richtig: wir müssen fleißiger von der Rute Gebrauch machen!) — die Zeit, wo der Fürst noch unmittelbare Fühlung mit dem Volke hatte (richtig: unmittelbar mit dem Volke Fühlung hatte!) ^ besondern Dank wird der Leser dem Herausgeber für die kurzen Einleitungen wissen (richtig: besonders wird ver Leser dem Herausgeber für die kurzen Einleitungen Dank wissen) — besondre Obacht mußte darauf gegeben werden, daß sich keiner der Buße entzog (richtig: besonders mußte darauf Obacht gegeben werden) — von konservativ Seite wird vielfach laute Klage über die antisemitischen Demagogen und über den Einbruch des Antisemitismus in die konservativen Pnrteiverbände geführt (richtig: wird vielfach laut über die antisemitischen Demagogen Klage geführt). Ein Attribut kann ja aber auch in der Form eines abhängigen Genetivs auftreten: auch in dieser Form kommt der besprochne Fehler jetzt oft vor. Man schreibt: die Jahre, wo die Hilfslehrer zur Verfügung des Provinzial- schulkollegiums stehen (muß heißen: dem Provinzialschulkollegium zur Verfügung stehen) ^ die Streitfragen, die auf der Tagesordnung ihrer Wissenschaft stehen (muß heißen: in ihrer Wissenschaft auf der Tagesordnung stehen) — es sollen ganz bestimmte Gegenstände zur Be¬ ratung der Konferenz gestellt werden (muß heißen: der Konferenz Zur Beratung gestellt werden) — die Dame, in deren Mund die Erzäh¬ lung gelegt ist (muß heißen: der die Erzählung in den Mund gelegt ist). Auch in allen diesen Fällen wird überdies die Redensart zerrissen, in den Meisten entsteht ein Gallicismus. Unsinniger Wortschwall ist es, wenn jemand schreibt: da .sich die wirtschaftlichen Verhältnisse im Fluß einer ununter- brochnem Entwicklung befinden; es genügt: sich ununterbrochen in Fluß befinden, denn Entwicklung ist dasselbe wie Fluß. So wenig aber das Hauptwort einer solchen formelhaften Redensart mit einem Attribut versehen werden kann, so wenig kann es endlich mit einem Re¬ lativsatz behängt werden. Ein Relativsatz kann sich immer nur an den Gesamt¬ vegriff einer Redensart, aber nicht an den Bestandteil anschließen, den das Hauptwort bildet, denn in der Redensart ist der Begriff des Hauptwortes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/415>, abgerufen am 17.06.2024.