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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Neue Sprachdummheiten

Kenntnis -- derselbe Fehler! Kenntnis nehmen ist eine Redensart, die
einen einfachen aktiven oder passiven Verbalbegriff vertritt (--- kennen lernen,
belehrt werden, unterrichtet werden). Man kann von einer Sache weder ein¬
gehende, noch gründliche, noch flüchtige, noch oberflächliche Kenntnis nehmen,
man kann nur eingehend, gründlich, flüchtig, oberflächlich Kenntnis
nehmen. Mit andern Worten: statt des Adjektivs muß das Adverb her, denn
nicht von der besondern Art der Kenntnis, sondern von der Art und Weise des
Kenntnisuchmens soll die Rede sein. Der Fehler greift in neuerer Zeit immer
mehr um sich, ein Zeichen, wie so viele andre Sprachfehler, daß Schärfe und
Feinheit des Denkens abnehmen, trotz aller überflüssigen "Differenzirungen,"
die man in andern Fällen aus einem angeblich seinen Unterscheidungsbedürfnis
vornimmt. Folgende Beispiele habe ich in kurzer Zeit gesammelt (ich setze
das Nichtige immer gleich in Klammern hinzu): bittere Klage führen (bitter
Klage führen) -- gebührende Notiz nehmen (gebührend Notiz nehmen) --
seiner Abneigung unverhohlener Ausdruck geben (unverhohlen Ausdruck
geben) -- wir werden sein Andenken stets in hohen Ehren halten (hoch
in Ehren halten) -- sie nahm immer noch einen merkwürdigen Anteil
an dem Herrn (merkwürdig Anteil) -- dabei wird ans Schönheit und Zweck¬
mäßigkeit nicht die geringste Rücksicht genommen (nicht im geringsten
Rücksicht genommen) -- sie denken nicht daran, mit diesen Hirngespinsten ernst¬
hafte Politik zu treiben (ernsthaft Politik zu treiben) -- über meine
Thätigkeit war ein entstellender Bericht erstattet worden (entstellend
Bericht erstattet worden) -- die Stimme des Unmuts im Lande soll nicht zu
weiteren Ausdruck kommen (weiter zum Ausdruck kommen) -- wir können
diesen Gerüchten keinen rechten Glauben schenken (nicht recht Glauben
schenken) -- allen gröbern Ausschreitungen muß ein energisches Halt ge¬
boten werden (energisch Halt geboten) -- hier wäre Grund vorhanden,
bessernde Hand anzulegen (bessernd Hand anzulegen) -- die Zeit schafft
oft unerwartet schnellen Wandel (schnell Wandel) -- er brachte die An¬
gelegenheit zum ausführlichen Bortrag (ausführlich zum Vortrag). In
manchen solchen Wendungen, wie lebhaften Anteil nehmen, festen Fuß
sassen, von etwas eine annähernde Vorstellung geben, für jemand eine
gewisse Fürsorge treffen, klingt uns der Fehler schon so vertraut und an¬
nehmbar, daß beinahe einiges Nachdenken dazu gehört, sich klar zu machen,
daß es doch vernünftigerweise nur heißen kann: lebhaft Anteil nehmen, fest
Fuß fassen, annähernd eine Vorstellung geben, irgendwie Fürsorge treffen.

Ebensowenig wie Eigenschaftswörter dürfen natürlich auch Zahlwörter
oder sogenannte besitzanzeigende Fürwörter") in solche Redensarten eingefügt



*) Ein thörichter Ausdruck vieler Grammatiker. Mein, dein, sein, unser, euer,
ihr sind allerdings aus Fürwörtern entstanden, sind aber doch jetzt in Wahrheit besitzanzeigende
Adjektiva,
Neue Sprachdummheiten

Kenntnis — derselbe Fehler! Kenntnis nehmen ist eine Redensart, die
einen einfachen aktiven oder passiven Verbalbegriff vertritt (--- kennen lernen,
belehrt werden, unterrichtet werden). Man kann von einer Sache weder ein¬
gehende, noch gründliche, noch flüchtige, noch oberflächliche Kenntnis nehmen,
man kann nur eingehend, gründlich, flüchtig, oberflächlich Kenntnis
nehmen. Mit andern Worten: statt des Adjektivs muß das Adverb her, denn
nicht von der besondern Art der Kenntnis, sondern von der Art und Weise des
Kenntnisuchmens soll die Rede sein. Der Fehler greift in neuerer Zeit immer
mehr um sich, ein Zeichen, wie so viele andre Sprachfehler, daß Schärfe und
Feinheit des Denkens abnehmen, trotz aller überflüssigen „Differenzirungen,"
die man in andern Fällen aus einem angeblich seinen Unterscheidungsbedürfnis
vornimmt. Folgende Beispiele habe ich in kurzer Zeit gesammelt (ich setze
das Nichtige immer gleich in Klammern hinzu): bittere Klage führen (bitter
Klage führen) — gebührende Notiz nehmen (gebührend Notiz nehmen) —
seiner Abneigung unverhohlener Ausdruck geben (unverhohlen Ausdruck
geben) — wir werden sein Andenken stets in hohen Ehren halten (hoch
in Ehren halten) — sie nahm immer noch einen merkwürdigen Anteil
an dem Herrn (merkwürdig Anteil) — dabei wird ans Schönheit und Zweck¬
mäßigkeit nicht die geringste Rücksicht genommen (nicht im geringsten
Rücksicht genommen) — sie denken nicht daran, mit diesen Hirngespinsten ernst¬
hafte Politik zu treiben (ernsthaft Politik zu treiben) — über meine
Thätigkeit war ein entstellender Bericht erstattet worden (entstellend
Bericht erstattet worden) — die Stimme des Unmuts im Lande soll nicht zu
weiteren Ausdruck kommen (weiter zum Ausdruck kommen) — wir können
diesen Gerüchten keinen rechten Glauben schenken (nicht recht Glauben
schenken) — allen gröbern Ausschreitungen muß ein energisches Halt ge¬
boten werden (energisch Halt geboten) — hier wäre Grund vorhanden,
bessernde Hand anzulegen (bessernd Hand anzulegen) — die Zeit schafft
oft unerwartet schnellen Wandel (schnell Wandel) — er brachte die An¬
gelegenheit zum ausführlichen Bortrag (ausführlich zum Vortrag). In
manchen solchen Wendungen, wie lebhaften Anteil nehmen, festen Fuß
sassen, von etwas eine annähernde Vorstellung geben, für jemand eine
gewisse Fürsorge treffen, klingt uns der Fehler schon so vertraut und an¬
nehmbar, daß beinahe einiges Nachdenken dazu gehört, sich klar zu machen,
daß es doch vernünftigerweise nur heißen kann: lebhaft Anteil nehmen, fest
Fuß fassen, annähernd eine Vorstellung geben, irgendwie Fürsorge treffen.

Ebensowenig wie Eigenschaftswörter dürfen natürlich auch Zahlwörter
oder sogenannte besitzanzeigende Fürwörter") in solche Redensarten eingefügt



*) Ein thörichter Ausdruck vieler Grammatiker. Mein, dein, sein, unser, euer,
ihr sind allerdings aus Fürwörtern entstanden, sind aber doch jetzt in Wahrheit besitzanzeigende
Adjektiva,
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[0414] Neue Sprachdummheiten Kenntnis — derselbe Fehler! Kenntnis nehmen ist eine Redensart, die einen einfachen aktiven oder passiven Verbalbegriff vertritt (--- kennen lernen, belehrt werden, unterrichtet werden). Man kann von einer Sache weder ein¬ gehende, noch gründliche, noch flüchtige, noch oberflächliche Kenntnis nehmen, man kann nur eingehend, gründlich, flüchtig, oberflächlich Kenntnis nehmen. Mit andern Worten: statt des Adjektivs muß das Adverb her, denn nicht von der besondern Art der Kenntnis, sondern von der Art und Weise des Kenntnisuchmens soll die Rede sein. Der Fehler greift in neuerer Zeit immer mehr um sich, ein Zeichen, wie so viele andre Sprachfehler, daß Schärfe und Feinheit des Denkens abnehmen, trotz aller überflüssigen „Differenzirungen," die man in andern Fällen aus einem angeblich seinen Unterscheidungsbedürfnis vornimmt. Folgende Beispiele habe ich in kurzer Zeit gesammelt (ich setze das Nichtige immer gleich in Klammern hinzu): bittere Klage führen (bitter Klage führen) — gebührende Notiz nehmen (gebührend Notiz nehmen) — seiner Abneigung unverhohlener Ausdruck geben (unverhohlen Ausdruck geben) — wir werden sein Andenken stets in hohen Ehren halten (hoch in Ehren halten) — sie nahm immer noch einen merkwürdigen Anteil an dem Herrn (merkwürdig Anteil) — dabei wird ans Schönheit und Zweck¬ mäßigkeit nicht die geringste Rücksicht genommen (nicht im geringsten Rücksicht genommen) — sie denken nicht daran, mit diesen Hirngespinsten ernst¬ hafte Politik zu treiben (ernsthaft Politik zu treiben) — über meine Thätigkeit war ein entstellender Bericht erstattet worden (entstellend Bericht erstattet worden) — die Stimme des Unmuts im Lande soll nicht zu weiteren Ausdruck kommen (weiter zum Ausdruck kommen) — wir können diesen Gerüchten keinen rechten Glauben schenken (nicht recht Glauben schenken) — allen gröbern Ausschreitungen muß ein energisches Halt ge¬ boten werden (energisch Halt geboten) — hier wäre Grund vorhanden, bessernde Hand anzulegen (bessernd Hand anzulegen) — die Zeit schafft oft unerwartet schnellen Wandel (schnell Wandel) — er brachte die An¬ gelegenheit zum ausführlichen Bortrag (ausführlich zum Vortrag). In manchen solchen Wendungen, wie lebhaften Anteil nehmen, festen Fuß sassen, von etwas eine annähernde Vorstellung geben, für jemand eine gewisse Fürsorge treffen, klingt uns der Fehler schon so vertraut und an¬ nehmbar, daß beinahe einiges Nachdenken dazu gehört, sich klar zu machen, daß es doch vernünftigerweise nur heißen kann: lebhaft Anteil nehmen, fest Fuß fassen, annähernd eine Vorstellung geben, irgendwie Fürsorge treffen. Ebensowenig wie Eigenschaftswörter dürfen natürlich auch Zahlwörter oder sogenannte besitzanzeigende Fürwörter") in solche Redensarten eingefügt *) Ein thörichter Ausdruck vieler Grammatiker. Mein, dein, sein, unser, euer, ihr sind allerdings aus Fürwörtern entstanden, sind aber doch jetzt in Wahrheit besitzanzeigende Adjektiva,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/414>, abgerufen am 27.05.2024.