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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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nach rechts stehen, so schnell zur Mitarbeit gewonnen; das Zusammenarbeiten
aller Richtungen gehört aber zu den Grundpfeilern, auf denen der Kon¬
greß ruht.

Aber es ist richtig: der geistige Schwerpunkt rückte sehr rasch nach links,
wenn man auch bemüht war, äußerlich in der Zusammensetzung des Kongresses
die Gleichberechtigung der Richtungen zu wahren. Stöcker hat nie einen Versuch
gemacht, seine Stellung im Kongreß zu Gunsten seiner kirchlichen oder politischen
Ideale geltend zu machen; er hatte die sehr richtige Empfindung, daß es dann
mit der Einheit vorbei gewesen wäre. Er hat es sich von konservativ-ortho¬
doxer Seite oft genug vorwerfen lassen müssen, daß er durch seine allzu große
Duldsamkeit gegenüber dem "Unglauben" und dem "Halbglauben" sich und der
Sache etwas vergebe, aber er hat allen solchen Stimmen gegenüber geschwiegen,
und nirgends erscheint seine vielfach so herbe und leidenschaftliche Persönlichkeit
duldsamer als innerhalb des Kongresses. Trotz cilledem hat er die Abneigung,
von der ein Teil der leitenden Männer gerade gegen seine Person erfüllt war
und immer mehr erfüllt wurde, nicht überwinden können. Wenn ein Mensch
in aufrichtiger Hingebung an seine Ideale seine Haut so oft und so rück¬
sichtslos zu Markte getragen, so viel und so leidenschaftlich Politik gemacht hat
wie Stöcker, nicht immer frei von dem Grundsatz, daß, wer den Zweck will,
auch die Mittel wollen muß, dann kann es nicht ausbleiben, daß er sich dabei
schließlich so "kompromittirt," daß es kühlern, mehr akademisch gerichteten
Leuten allmählich immer unbehaglicher wird, vor aller Welt mit ihm zusammen-
zusitzen. Solche mehr auf Stimmungen beruhende Gründe können aber leicht
durch Erwägungen praktischer Art ergänzt werden. Es ist sehr wahrscheinlich,
daß jetzt -- wenn man es darauf anlegt -- nicht nur einzelne Männer von
Ruf, sondern auch ganze Kreise zur Bethätigung am Kongreß gewonnen werden
können, denen es bisher ein Anstoß war, daß eine ihnen so unangenehme Per¬
sönlichkeit wie Stöcker an seiner Spitze stand. So kam es, daß Stöcker aus
dem Schoße der Kongreßleitung heraus privatim die Anregung erhielt, auf
die Stelle des zweiten Vorsitzenden zu verzichten. Äußerlich geschah das in
der rücksichtsvollsten Weise; gegen die Begründung des Wunsches (Stöcker
nehme seit der Trennung von den Konservativen eine für das Interesse des
Kongresses zu sehr hervortretende Stellung als selbständiger Parteiführer ein)
ist sogar formell nichts einzuwenden; man gestand ihm das Recht zu, seinen
Nachfolger selbst zu bezeichnen, wollte ihn auch sicher nicht aus dem Kongreß
überhaupt drängen, sondern ihm nur andeuten, daß. wenn er nicht freiwillig
verzichte, er im Herbst nicht wiedergewühlt werden würde. Aber Stöcker hörte
nur das "nein," und seiner natürlichen Heftigkeit folgend, antwortete er mit
dem Austritt nicht nur aus dem Vorstande, sondern aus dem ganzen Kongreß.

Unzweifelhaft hat er die Wirkung dieses Schrittes überschätzt. In den
Augen mancher seiner Anhänger in Württemberg schien es allerdings, als ob


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nach rechts stehen, so schnell zur Mitarbeit gewonnen; das Zusammenarbeiten
aller Richtungen gehört aber zu den Grundpfeilern, auf denen der Kon¬
greß ruht.

Aber es ist richtig: der geistige Schwerpunkt rückte sehr rasch nach links,
wenn man auch bemüht war, äußerlich in der Zusammensetzung des Kongresses
die Gleichberechtigung der Richtungen zu wahren. Stöcker hat nie einen Versuch
gemacht, seine Stellung im Kongreß zu Gunsten seiner kirchlichen oder politischen
Ideale geltend zu machen; er hatte die sehr richtige Empfindung, daß es dann
mit der Einheit vorbei gewesen wäre. Er hat es sich von konservativ-ortho¬
doxer Seite oft genug vorwerfen lassen müssen, daß er durch seine allzu große
Duldsamkeit gegenüber dem „Unglauben" und dem „Halbglauben" sich und der
Sache etwas vergebe, aber er hat allen solchen Stimmen gegenüber geschwiegen,
und nirgends erscheint seine vielfach so herbe und leidenschaftliche Persönlichkeit
duldsamer als innerhalb des Kongresses. Trotz cilledem hat er die Abneigung,
von der ein Teil der leitenden Männer gerade gegen seine Person erfüllt war
und immer mehr erfüllt wurde, nicht überwinden können. Wenn ein Mensch
in aufrichtiger Hingebung an seine Ideale seine Haut so oft und so rück¬
sichtslos zu Markte getragen, so viel und so leidenschaftlich Politik gemacht hat
wie Stöcker, nicht immer frei von dem Grundsatz, daß, wer den Zweck will,
auch die Mittel wollen muß, dann kann es nicht ausbleiben, daß er sich dabei
schließlich so „kompromittirt," daß es kühlern, mehr akademisch gerichteten
Leuten allmählich immer unbehaglicher wird, vor aller Welt mit ihm zusammen-
zusitzen. Solche mehr auf Stimmungen beruhende Gründe können aber leicht
durch Erwägungen praktischer Art ergänzt werden. Es ist sehr wahrscheinlich,
daß jetzt — wenn man es darauf anlegt — nicht nur einzelne Männer von
Ruf, sondern auch ganze Kreise zur Bethätigung am Kongreß gewonnen werden
können, denen es bisher ein Anstoß war, daß eine ihnen so unangenehme Per¬
sönlichkeit wie Stöcker an seiner Spitze stand. So kam es, daß Stöcker aus
dem Schoße der Kongreßleitung heraus privatim die Anregung erhielt, auf
die Stelle des zweiten Vorsitzenden zu verzichten. Äußerlich geschah das in
der rücksichtsvollsten Weise; gegen die Begründung des Wunsches (Stöcker
nehme seit der Trennung von den Konservativen eine für das Interesse des
Kongresses zu sehr hervortretende Stellung als selbständiger Parteiführer ein)
ist sogar formell nichts einzuwenden; man gestand ihm das Recht zu, seinen
Nachfolger selbst zu bezeichnen, wollte ihn auch sicher nicht aus dem Kongreß
überhaupt drängen, sondern ihm nur andeuten, daß. wenn er nicht freiwillig
verzichte, er im Herbst nicht wiedergewühlt werden würde. Aber Stöcker hörte
nur das „nein," und seiner natürlichen Heftigkeit folgend, antwortete er mit
dem Austritt nicht nur aus dem Vorstande, sondern aus dem ganzen Kongreß.

Unzweifelhaft hat er die Wirkung dieses Schrittes überschätzt. In den
Augen mancher seiner Anhänger in Württemberg schien es allerdings, als ob


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[0490] Ver Evangelisch-soziale Kongreß nach rechts stehen, so schnell zur Mitarbeit gewonnen; das Zusammenarbeiten aller Richtungen gehört aber zu den Grundpfeilern, auf denen der Kon¬ greß ruht. Aber es ist richtig: der geistige Schwerpunkt rückte sehr rasch nach links, wenn man auch bemüht war, äußerlich in der Zusammensetzung des Kongresses die Gleichberechtigung der Richtungen zu wahren. Stöcker hat nie einen Versuch gemacht, seine Stellung im Kongreß zu Gunsten seiner kirchlichen oder politischen Ideale geltend zu machen; er hatte die sehr richtige Empfindung, daß es dann mit der Einheit vorbei gewesen wäre. Er hat es sich von konservativ-ortho¬ doxer Seite oft genug vorwerfen lassen müssen, daß er durch seine allzu große Duldsamkeit gegenüber dem „Unglauben" und dem „Halbglauben" sich und der Sache etwas vergebe, aber er hat allen solchen Stimmen gegenüber geschwiegen, und nirgends erscheint seine vielfach so herbe und leidenschaftliche Persönlichkeit duldsamer als innerhalb des Kongresses. Trotz cilledem hat er die Abneigung, von der ein Teil der leitenden Männer gerade gegen seine Person erfüllt war und immer mehr erfüllt wurde, nicht überwinden können. Wenn ein Mensch in aufrichtiger Hingebung an seine Ideale seine Haut so oft und so rück¬ sichtslos zu Markte getragen, so viel und so leidenschaftlich Politik gemacht hat wie Stöcker, nicht immer frei von dem Grundsatz, daß, wer den Zweck will, auch die Mittel wollen muß, dann kann es nicht ausbleiben, daß er sich dabei schließlich so „kompromittirt," daß es kühlern, mehr akademisch gerichteten Leuten allmählich immer unbehaglicher wird, vor aller Welt mit ihm zusammen- zusitzen. Solche mehr auf Stimmungen beruhende Gründe können aber leicht durch Erwägungen praktischer Art ergänzt werden. Es ist sehr wahrscheinlich, daß jetzt — wenn man es darauf anlegt — nicht nur einzelne Männer von Ruf, sondern auch ganze Kreise zur Bethätigung am Kongreß gewonnen werden können, denen es bisher ein Anstoß war, daß eine ihnen so unangenehme Per¬ sönlichkeit wie Stöcker an seiner Spitze stand. So kam es, daß Stöcker aus dem Schoße der Kongreßleitung heraus privatim die Anregung erhielt, auf die Stelle des zweiten Vorsitzenden zu verzichten. Äußerlich geschah das in der rücksichtsvollsten Weise; gegen die Begründung des Wunsches (Stöcker nehme seit der Trennung von den Konservativen eine für das Interesse des Kongresses zu sehr hervortretende Stellung als selbständiger Parteiführer ein) ist sogar formell nichts einzuwenden; man gestand ihm das Recht zu, seinen Nachfolger selbst zu bezeichnen, wollte ihn auch sicher nicht aus dem Kongreß überhaupt drängen, sondern ihm nur andeuten, daß. wenn er nicht freiwillig verzichte, er im Herbst nicht wiedergewühlt werden würde. Aber Stöcker hörte nur das „nein," und seiner natürlichen Heftigkeit folgend, antwortete er mit dem Austritt nicht nur aus dem Vorstande, sondern aus dem ganzen Kongreß. Unzweifelhaft hat er die Wirkung dieses Schrittes überschätzt. In den Augen mancher seiner Anhänger in Württemberg schien es allerdings, als ob

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/490>, abgerufen am 11.05.2024.