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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der Lvangelisch-soziale Kongreß

dadurch die Abhaltung des ganzen Kongresses zu Stuttgart in Frage gestellt
wäre, und so scheint auch Stöcker vor seiner Austrittserklärung berichtet worden
zu sein. Aber in Berlin beurteilte man die Lage so, daß zwar eine Trennung
auf der rechten Seite zu erwarten stehe, daß aber der Kongreß auch so bei¬
sammen und lebensfähig bleiben werde. Was aber nun in Stuttgart geschehen
ist, hat doch allgemein überrascht. Niemand hat an eine so vollständige Nieder¬
lage Stöckers geglaubt, wie sie thatsächlich eintrat. In den Ausschußsitzungeu
vor dem Zusammentritt des Kongresses einigte man sich dahin, der Versamm¬
lung gleich vor Beginn der Verhandlungen folgenden Beschluß vorzulegen:
"Der Evangelisch-soziale Kongreß erkennt die großen und bleibenden Verdienste
des Herrn Hofprediger Stöcker um die Begründung und Förderung der evan¬
gelisch-sozialen Bewegung in Deutschland dankbar an, bedauert in hohem Maße
seinen Austritt aus dem Kongreß und hofft trotzdem auf eine weitere Gemein¬
schaft evangelisch-sozialen Wirkens." Dieser Beschluß wurde am Tage darauf
von Adolf Wagner, dem Freunde und Parteigenossen Stöckers, dem Kongreß
zur Annahme empfohlen und nach wenigen Minuten ohne Debatte, ohne daß
sich irgend ein Widerspruch geregt Hütte, angenommen. Fortan aber war auf
dem ganzen Kongreß von Stöcker keine Rede mehr, ausgenommen den Augen¬
blick, wo am Nachmittag sein Antworttelegramm einlief, das mit lebhaftem
Beifall begrüßt wurde: "Herzlichen Dank für den Gruß. Segen und Sieg für
die christlich-soziale Arbeit. Stöcker." Damit war die ganze mit Spannung
erwartete Auseinandersetzung zu Ende. Der einzige bedeutende Mann, der um
Stöckers willen auf dem Kongreß fehlte, war der Führer der rheinisch-west¬
fälischen Arbeitervereine, I^lo. Pfarrer Weber. Die sonst noch Stöcker folgend
aus der Kongreßleitung ausgetreten sind, sind wohl froh gewesen, diesen Anlaß
zum Verlassen der mißliebig gewordnen Bewegung benutzen zu können. Auf
dein Kongreß selbst ist Stöcker gar nicht vermißt worden, bei keiner der frühern
sechs Versammlungen ist an Reichtum, Gründlichkeit und Klarheit der Verhand¬
lung soviel geleistet worden, wie in diesem Jahre.

Der größte Fehler, den Stöcker von seinem Standpunkte aus gemacht
hat -- denn es ist nicht etwa seine Absicht gewesen, dem Kongreß schnell und
schmerzlos über den Bruch hinwegzuhelfen --, war sein vollständiger Austritt.
Erstens Hütte er der ganz privaten Anregung, vom Vorsitz zurückzutreten, gar
keine Folge zu leisten brauchen, und zweitens wäre es ihm ein Leichtes ge¬
wesen, auf dem Kongreß selbst durch die Macht seiner Person und seiner Bered¬
samkeit eine Sprengung oder mindestens eine viel tönendere Genugthuung für
sich herbeizuführen. Jetzt läßt sich mit Sicherheit übersehen, daß dem Kongreß
auch ohne Stöcker sein bisheriger Charakter -- die Vereinigung aller Partei¬
richtungen zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in evangelisch-sozial-
reformerischem Sinne -- und damit auch der weitere Erfolg seiner Arbeit ge¬
wahrt bleiben wird. In kurzem wird die Stelle Stöckers ein andrer der


Der Lvangelisch-soziale Kongreß

dadurch die Abhaltung des ganzen Kongresses zu Stuttgart in Frage gestellt
wäre, und so scheint auch Stöcker vor seiner Austrittserklärung berichtet worden
zu sein. Aber in Berlin beurteilte man die Lage so, daß zwar eine Trennung
auf der rechten Seite zu erwarten stehe, daß aber der Kongreß auch so bei¬
sammen und lebensfähig bleiben werde. Was aber nun in Stuttgart geschehen
ist, hat doch allgemein überrascht. Niemand hat an eine so vollständige Nieder¬
lage Stöckers geglaubt, wie sie thatsächlich eintrat. In den Ausschußsitzungeu
vor dem Zusammentritt des Kongresses einigte man sich dahin, der Versamm¬
lung gleich vor Beginn der Verhandlungen folgenden Beschluß vorzulegen:
„Der Evangelisch-soziale Kongreß erkennt die großen und bleibenden Verdienste
des Herrn Hofprediger Stöcker um die Begründung und Förderung der evan¬
gelisch-sozialen Bewegung in Deutschland dankbar an, bedauert in hohem Maße
seinen Austritt aus dem Kongreß und hofft trotzdem auf eine weitere Gemein¬
schaft evangelisch-sozialen Wirkens." Dieser Beschluß wurde am Tage darauf
von Adolf Wagner, dem Freunde und Parteigenossen Stöckers, dem Kongreß
zur Annahme empfohlen und nach wenigen Minuten ohne Debatte, ohne daß
sich irgend ein Widerspruch geregt Hütte, angenommen. Fortan aber war auf
dem ganzen Kongreß von Stöcker keine Rede mehr, ausgenommen den Augen¬
blick, wo am Nachmittag sein Antworttelegramm einlief, das mit lebhaftem
Beifall begrüßt wurde: „Herzlichen Dank für den Gruß. Segen und Sieg für
die christlich-soziale Arbeit. Stöcker." Damit war die ganze mit Spannung
erwartete Auseinandersetzung zu Ende. Der einzige bedeutende Mann, der um
Stöckers willen auf dem Kongreß fehlte, war der Führer der rheinisch-west¬
fälischen Arbeitervereine, I^lo. Pfarrer Weber. Die sonst noch Stöcker folgend
aus der Kongreßleitung ausgetreten sind, sind wohl froh gewesen, diesen Anlaß
zum Verlassen der mißliebig gewordnen Bewegung benutzen zu können. Auf
dein Kongreß selbst ist Stöcker gar nicht vermißt worden, bei keiner der frühern
sechs Versammlungen ist an Reichtum, Gründlichkeit und Klarheit der Verhand¬
lung soviel geleistet worden, wie in diesem Jahre.

Der größte Fehler, den Stöcker von seinem Standpunkte aus gemacht
hat — denn es ist nicht etwa seine Absicht gewesen, dem Kongreß schnell und
schmerzlos über den Bruch hinwegzuhelfen —, war sein vollständiger Austritt.
Erstens Hütte er der ganz privaten Anregung, vom Vorsitz zurückzutreten, gar
keine Folge zu leisten brauchen, und zweitens wäre es ihm ein Leichtes ge¬
wesen, auf dem Kongreß selbst durch die Macht seiner Person und seiner Bered¬
samkeit eine Sprengung oder mindestens eine viel tönendere Genugthuung für
sich herbeizuführen. Jetzt läßt sich mit Sicherheit übersehen, daß dem Kongreß
auch ohne Stöcker sein bisheriger Charakter — die Vereinigung aller Partei¬
richtungen zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in evangelisch-sozial-
reformerischem Sinne — und damit auch der weitere Erfolg seiner Arbeit ge¬
wahrt bleiben wird. In kurzem wird die Stelle Stöckers ein andrer der


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[0491] Der Lvangelisch-soziale Kongreß dadurch die Abhaltung des ganzen Kongresses zu Stuttgart in Frage gestellt wäre, und so scheint auch Stöcker vor seiner Austrittserklärung berichtet worden zu sein. Aber in Berlin beurteilte man die Lage so, daß zwar eine Trennung auf der rechten Seite zu erwarten stehe, daß aber der Kongreß auch so bei¬ sammen und lebensfähig bleiben werde. Was aber nun in Stuttgart geschehen ist, hat doch allgemein überrascht. Niemand hat an eine so vollständige Nieder¬ lage Stöckers geglaubt, wie sie thatsächlich eintrat. In den Ausschußsitzungeu vor dem Zusammentritt des Kongresses einigte man sich dahin, der Versamm¬ lung gleich vor Beginn der Verhandlungen folgenden Beschluß vorzulegen: „Der Evangelisch-soziale Kongreß erkennt die großen und bleibenden Verdienste des Herrn Hofprediger Stöcker um die Begründung und Förderung der evan¬ gelisch-sozialen Bewegung in Deutschland dankbar an, bedauert in hohem Maße seinen Austritt aus dem Kongreß und hofft trotzdem auf eine weitere Gemein¬ schaft evangelisch-sozialen Wirkens." Dieser Beschluß wurde am Tage darauf von Adolf Wagner, dem Freunde und Parteigenossen Stöckers, dem Kongreß zur Annahme empfohlen und nach wenigen Minuten ohne Debatte, ohne daß sich irgend ein Widerspruch geregt Hütte, angenommen. Fortan aber war auf dem ganzen Kongreß von Stöcker keine Rede mehr, ausgenommen den Augen¬ blick, wo am Nachmittag sein Antworttelegramm einlief, das mit lebhaftem Beifall begrüßt wurde: „Herzlichen Dank für den Gruß. Segen und Sieg für die christlich-soziale Arbeit. Stöcker." Damit war die ganze mit Spannung erwartete Auseinandersetzung zu Ende. Der einzige bedeutende Mann, der um Stöckers willen auf dem Kongreß fehlte, war der Führer der rheinisch-west¬ fälischen Arbeitervereine, I^lo. Pfarrer Weber. Die sonst noch Stöcker folgend aus der Kongreßleitung ausgetreten sind, sind wohl froh gewesen, diesen Anlaß zum Verlassen der mißliebig gewordnen Bewegung benutzen zu können. Auf dein Kongreß selbst ist Stöcker gar nicht vermißt worden, bei keiner der frühern sechs Versammlungen ist an Reichtum, Gründlichkeit und Klarheit der Verhand¬ lung soviel geleistet worden, wie in diesem Jahre. Der größte Fehler, den Stöcker von seinem Standpunkte aus gemacht hat — denn es ist nicht etwa seine Absicht gewesen, dem Kongreß schnell und schmerzlos über den Bruch hinwegzuhelfen —, war sein vollständiger Austritt. Erstens Hütte er der ganz privaten Anregung, vom Vorsitz zurückzutreten, gar keine Folge zu leisten brauchen, und zweitens wäre es ihm ein Leichtes ge¬ wesen, auf dem Kongreß selbst durch die Macht seiner Person und seiner Bered¬ samkeit eine Sprengung oder mindestens eine viel tönendere Genugthuung für sich herbeizuführen. Jetzt läßt sich mit Sicherheit übersehen, daß dem Kongreß auch ohne Stöcker sein bisheriger Charakter — die Vereinigung aller Partei¬ richtungen zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung in evangelisch-sozial- reformerischem Sinne — und damit auch der weitere Erfolg seiner Arbeit ge¬ wahrt bleiben wird. In kurzem wird die Stelle Stöckers ein andrer der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/491>, abgerufen am 23.05.2024.