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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Der Lvangelisch-soziale Kongreß

Protestantischen Orthodoxie angehöriger Mann einnehmen; ja die nächste Tagung
soll sogar in einer Stadt des sehr stark orthodox durchsetzten rheinisch - west¬
fälischen Jndustriebezirks, nahe dem Wahlkreise Stöckers, stattfinden. Vollends
der Plan, den der Schwergekränkte zuerst gefaßt hatte, nach dem zu erwartenden
Auffliegen des Kongresses seinerseits einen "kirchlich-sozialen" Kongreß zu
gründen, hat nicht die geringsten Aussichten auf Erfolg.

Ohne Zweifel hängt dieser Ausgang damit zusammen, daß der Kongreß
im Innern allmählich eine ganz andre Zusammensetzung erhalten hat als damals,
wo Stöcker eine wirklich beherrschende Stellung darin hatte. Die radikale,
jüngere Richtung hat diesmal noch stärker überwogen, als voriges Jahr in
Erfurt. Sie ist aber in erster Linie sozialreformerisch; die Gegensätze von
"positiv," "negativ" usw. treten für sie in den Hintergrund. Friedrich Nau-
mann z. B., ihr Führer, steht für seine Person theologisch weit nach rechts,
aber der bekannte Prüfstein der Geister, die Apostolikumfrage, hat für ihn so
gut wie gar keine Bedeutung gegenüber der Gemeinsamkeit der evangelisch-
sozialen Bestrebungen. Überhaupt wird es immer deutlicher, daß der Kongreß,
wenigstens in den von ihm beeinflußten Kreisen, eine entschiedne Abstumpfung
der theologischen Parteigegensätze herbeiführt, und vom Kongreß aus betrachtet
macht das draußen weitergehende Gezänk einen ganz abgestorbnen Eindruck;
es ist, als ob die Leute rechts und links ihre Zeit noch nicht begriffen hätten.
Es ist nicht unmöglich, daß der Kongreß in dieser Beziehung noch große Folgen
haben wird.

Ein weiterer Beweis für das Überwiegen der radikalen Richtung lag in
den Verhandlungen, die das kaiserliche Telegramm hervorgerufen hatte. Adolf
Wagner und Professor von Soden nahmen dazu das Wort -- im übrigen
war die Parole ausgegeben worden, das Thema nicht zu berühren. Was die
Redner sagten, war eine in der Form maßvolle, in der Sache sehr entschiedne
Verwahrung gegen die Zumutung, daß die Pastoren keine Sozialpolitik treiben
sollten. Immerhin kamen recht scharfe Wendungen vor, der lauteste, einstim¬
migste Beifall während der ganzen Verhandlungszeit wurde entfesselt, als in
der ersten fast sechsstündigen Sitzung des Kongresses der Referent, Professor
von Soden, in seinem Schlußwort sagte, es sei tief traurig, daß den Kaiser
seine Ratgeber daran hinderten, zu sehen, welche Wandlung der Geister in
und gegenüber der Sozialdemokratie vor sich gegangen sei; kein Christlich-
Sozialer behaupte die Existenz einer biblisch gesicherten Wirtschaftstheorie:
christlich-sozial sei es, wenn man die Fehler bei sich und nicht immer bei
andern suche -- und in diesem Sinne sei christlich-sozial nicht Unsinn und
führe nicht zur Selbstüberhebung und Unduldsamkeit! Von der Rednerbühne
herab fielen Worte wie: Die Undeutlichkeit des Telegramms sei das größte
Glück dabei, und als ein Redner eine Kulturkampfüußerung Treitschkes zitirte:
"Will man der Kirche verbieten, über Politik zu sprechen, so fordert man Un-


Der Lvangelisch-soziale Kongreß

Protestantischen Orthodoxie angehöriger Mann einnehmen; ja die nächste Tagung
soll sogar in einer Stadt des sehr stark orthodox durchsetzten rheinisch - west¬
fälischen Jndustriebezirks, nahe dem Wahlkreise Stöckers, stattfinden. Vollends
der Plan, den der Schwergekränkte zuerst gefaßt hatte, nach dem zu erwartenden
Auffliegen des Kongresses seinerseits einen „kirchlich-sozialen" Kongreß zu
gründen, hat nicht die geringsten Aussichten auf Erfolg.

Ohne Zweifel hängt dieser Ausgang damit zusammen, daß der Kongreß
im Innern allmählich eine ganz andre Zusammensetzung erhalten hat als damals,
wo Stöcker eine wirklich beherrschende Stellung darin hatte. Die radikale,
jüngere Richtung hat diesmal noch stärker überwogen, als voriges Jahr in
Erfurt. Sie ist aber in erster Linie sozialreformerisch; die Gegensätze von
„positiv," „negativ" usw. treten für sie in den Hintergrund. Friedrich Nau-
mann z. B., ihr Führer, steht für seine Person theologisch weit nach rechts,
aber der bekannte Prüfstein der Geister, die Apostolikumfrage, hat für ihn so
gut wie gar keine Bedeutung gegenüber der Gemeinsamkeit der evangelisch-
sozialen Bestrebungen. Überhaupt wird es immer deutlicher, daß der Kongreß,
wenigstens in den von ihm beeinflußten Kreisen, eine entschiedne Abstumpfung
der theologischen Parteigegensätze herbeiführt, und vom Kongreß aus betrachtet
macht das draußen weitergehende Gezänk einen ganz abgestorbnen Eindruck;
es ist, als ob die Leute rechts und links ihre Zeit noch nicht begriffen hätten.
Es ist nicht unmöglich, daß der Kongreß in dieser Beziehung noch große Folgen
haben wird.

Ein weiterer Beweis für das Überwiegen der radikalen Richtung lag in
den Verhandlungen, die das kaiserliche Telegramm hervorgerufen hatte. Adolf
Wagner und Professor von Soden nahmen dazu das Wort — im übrigen
war die Parole ausgegeben worden, das Thema nicht zu berühren. Was die
Redner sagten, war eine in der Form maßvolle, in der Sache sehr entschiedne
Verwahrung gegen die Zumutung, daß die Pastoren keine Sozialpolitik treiben
sollten. Immerhin kamen recht scharfe Wendungen vor, der lauteste, einstim¬
migste Beifall während der ganzen Verhandlungszeit wurde entfesselt, als in
der ersten fast sechsstündigen Sitzung des Kongresses der Referent, Professor
von Soden, in seinem Schlußwort sagte, es sei tief traurig, daß den Kaiser
seine Ratgeber daran hinderten, zu sehen, welche Wandlung der Geister in
und gegenüber der Sozialdemokratie vor sich gegangen sei; kein Christlich-
Sozialer behaupte die Existenz einer biblisch gesicherten Wirtschaftstheorie:
christlich-sozial sei es, wenn man die Fehler bei sich und nicht immer bei
andern suche — und in diesem Sinne sei christlich-sozial nicht Unsinn und
führe nicht zur Selbstüberhebung und Unduldsamkeit! Von der Rednerbühne
herab fielen Worte wie: Die Undeutlichkeit des Telegramms sei das größte
Glück dabei, und als ein Redner eine Kulturkampfüußerung Treitschkes zitirte:
„Will man der Kirche verbieten, über Politik zu sprechen, so fordert man Un-


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[0492] Der Lvangelisch-soziale Kongreß Protestantischen Orthodoxie angehöriger Mann einnehmen; ja die nächste Tagung soll sogar in einer Stadt des sehr stark orthodox durchsetzten rheinisch - west¬ fälischen Jndustriebezirks, nahe dem Wahlkreise Stöckers, stattfinden. Vollends der Plan, den der Schwergekränkte zuerst gefaßt hatte, nach dem zu erwartenden Auffliegen des Kongresses seinerseits einen „kirchlich-sozialen" Kongreß zu gründen, hat nicht die geringsten Aussichten auf Erfolg. Ohne Zweifel hängt dieser Ausgang damit zusammen, daß der Kongreß im Innern allmählich eine ganz andre Zusammensetzung erhalten hat als damals, wo Stöcker eine wirklich beherrschende Stellung darin hatte. Die radikale, jüngere Richtung hat diesmal noch stärker überwogen, als voriges Jahr in Erfurt. Sie ist aber in erster Linie sozialreformerisch; die Gegensätze von „positiv," „negativ" usw. treten für sie in den Hintergrund. Friedrich Nau- mann z. B., ihr Führer, steht für seine Person theologisch weit nach rechts, aber der bekannte Prüfstein der Geister, die Apostolikumfrage, hat für ihn so gut wie gar keine Bedeutung gegenüber der Gemeinsamkeit der evangelisch- sozialen Bestrebungen. Überhaupt wird es immer deutlicher, daß der Kongreß, wenigstens in den von ihm beeinflußten Kreisen, eine entschiedne Abstumpfung der theologischen Parteigegensätze herbeiführt, und vom Kongreß aus betrachtet macht das draußen weitergehende Gezänk einen ganz abgestorbnen Eindruck; es ist, als ob die Leute rechts und links ihre Zeit noch nicht begriffen hätten. Es ist nicht unmöglich, daß der Kongreß in dieser Beziehung noch große Folgen haben wird. Ein weiterer Beweis für das Überwiegen der radikalen Richtung lag in den Verhandlungen, die das kaiserliche Telegramm hervorgerufen hatte. Adolf Wagner und Professor von Soden nahmen dazu das Wort — im übrigen war die Parole ausgegeben worden, das Thema nicht zu berühren. Was die Redner sagten, war eine in der Form maßvolle, in der Sache sehr entschiedne Verwahrung gegen die Zumutung, daß die Pastoren keine Sozialpolitik treiben sollten. Immerhin kamen recht scharfe Wendungen vor, der lauteste, einstim¬ migste Beifall während der ganzen Verhandlungszeit wurde entfesselt, als in der ersten fast sechsstündigen Sitzung des Kongresses der Referent, Professor von Soden, in seinem Schlußwort sagte, es sei tief traurig, daß den Kaiser seine Ratgeber daran hinderten, zu sehen, welche Wandlung der Geister in und gegenüber der Sozialdemokratie vor sich gegangen sei; kein Christlich- Sozialer behaupte die Existenz einer biblisch gesicherten Wirtschaftstheorie: christlich-sozial sei es, wenn man die Fehler bei sich und nicht immer bei andern suche — und in diesem Sinne sei christlich-sozial nicht Unsinn und führe nicht zur Selbstüberhebung und Unduldsamkeit! Von der Rednerbühne herab fielen Worte wie: Die Undeutlichkeit des Telegramms sei das größte Glück dabei, und als ein Redner eine Kulturkampfüußerung Treitschkes zitirte: „Will man der Kirche verbieten, über Politik zu sprechen, so fordert man Un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/492>, abgerufen am 16.06.2024.