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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Schule und Politik

ganzen. In dem absoluten Staate, der nur beruhte auf dem Monarchen,
dem Beamtentum und dem Heere, hatte das Volk nur einen leidenden und
stummen Anteil, und so stand auch die höhere Schule halb außerhalb des
Staats. War sie doch auch nur in den seltensten Fällen eine Veranstaltung
des Staats, in den meisten eine Einrichtung der Kirche oder der Gemeinde,
und zwar eine recht untergeordnete, recht stiefmütterlich behandelte Einrichtung,
und hatte doch auch ihr ganzer Unterricht in seiner formalistischen Weise und
dem alles andre weit überwiegenden grammatisch-rhetorischen Betriebe des
Lateinischen etwas Weltfremdes; von vaterländischer Litteratur und Geschichte
hörte der Schüler nichts; beides gab es für ihn nur im klassischen Altertum.
In dem konstitutionellen Staate, der auf die Teilnahme aller seiner Bürger
begründet ist, nimmt auch die Schule ihren Anteil an großen Ereignissen, und
vollends im nationalen Staate! Ist sie doch auch längst unter die Aufsicht
und größtenteils auch unter die Verwaltung des Staats getreten und hat den
nationalen und modernen Bildungselementen einen breiten Zugang eröffnet.
Der Gegensatz ist ungeheuer. Als im Dezember 1745 die Wellen des zweiten
schlesischen Krieges auch den stillen Schulberg der Fürstenschule Se. Afra in
Meißen umbrandeten, als Friedrich der Große sein Hauptquartier in der alten
Markgrafenstadt aufschlug, und der Kanonendonner vom nahen Kesselsdorf her
die Luft erschütterte, da empfand das der junge Lessing schlechterdings nur als
eine lästige Störung der friedlichen gelehrten Studien; die Bedeutung des
Kampfes auch nur für sein sächsisches Heimatland bekümmerte ihn nicht. Wie
anders 1870! Erst vor wenigen Wochen, am 18. Januar, habe ich zu schildern
versucht, wie damals ein sächsisches Gymnasium gelebt hat, wie es herzlichen,
fast leidenschaftlichen Anteil nahm an den Ereignissen dieser unvergleichlichen,
gewaltigen neun Monate, und ich habe damit keine Ausnahme geschildert,
sondern nur ein Beispiel, das sich auch heute hundert- und tausendfach wieder¬
holen würde. Denn wir sind eine Nation geworden.

Doch ich will heute nicht die historische Frage behandeln, wie sich die
höhere Schule auf den verschiednen Entwicklungsstufen des Staats- und Schul-
lebens zum Staate, zur Politik gestellt hat, ich möchte vielmehr fragen: wie
hat sie sich zu beiden heute, unter den modernen Verhältnissen des Verfassungs¬
staats und des nationalen Reichs, zu stellen? Ich möchte heute, wo wir aber¬
mals eine Schar von Jünglingen entlassen, damit sie, so Gott will, reif nicht
nur nach den Ziffern des Zeugnisses, sondern reif auch innerlich, nu den Auf¬
gaben der Schule gemessen, künftig ihren Weg wählen nach eignem Ermessen
und eigner Erwägung, eine Erörterung anstellen über das Thema: Schule
und Politik. Die Antwort, wie sich beide heute zu einander verhalten sollen,
läßt sich in wenige Worte zusammenfassen: Die Schule soll den Schülern fern
halten, was uns trennt, nahe bringen, was uns eint. Und dies fällt beinahe
zusammen mit dem Unterschiede zwischen innerer und äußerer Politik. Im


Schule und Politik

ganzen. In dem absoluten Staate, der nur beruhte auf dem Monarchen,
dem Beamtentum und dem Heere, hatte das Volk nur einen leidenden und
stummen Anteil, und so stand auch die höhere Schule halb außerhalb des
Staats. War sie doch auch nur in den seltensten Fällen eine Veranstaltung
des Staats, in den meisten eine Einrichtung der Kirche oder der Gemeinde,
und zwar eine recht untergeordnete, recht stiefmütterlich behandelte Einrichtung,
und hatte doch auch ihr ganzer Unterricht in seiner formalistischen Weise und
dem alles andre weit überwiegenden grammatisch-rhetorischen Betriebe des
Lateinischen etwas Weltfremdes; von vaterländischer Litteratur und Geschichte
hörte der Schüler nichts; beides gab es für ihn nur im klassischen Altertum.
In dem konstitutionellen Staate, der auf die Teilnahme aller seiner Bürger
begründet ist, nimmt auch die Schule ihren Anteil an großen Ereignissen, und
vollends im nationalen Staate! Ist sie doch auch längst unter die Aufsicht
und größtenteils auch unter die Verwaltung des Staats getreten und hat den
nationalen und modernen Bildungselementen einen breiten Zugang eröffnet.
Der Gegensatz ist ungeheuer. Als im Dezember 1745 die Wellen des zweiten
schlesischen Krieges auch den stillen Schulberg der Fürstenschule Se. Afra in
Meißen umbrandeten, als Friedrich der Große sein Hauptquartier in der alten
Markgrafenstadt aufschlug, und der Kanonendonner vom nahen Kesselsdorf her
die Luft erschütterte, da empfand das der junge Lessing schlechterdings nur als
eine lästige Störung der friedlichen gelehrten Studien; die Bedeutung des
Kampfes auch nur für sein sächsisches Heimatland bekümmerte ihn nicht. Wie
anders 1870! Erst vor wenigen Wochen, am 18. Januar, habe ich zu schildern
versucht, wie damals ein sächsisches Gymnasium gelebt hat, wie es herzlichen,
fast leidenschaftlichen Anteil nahm an den Ereignissen dieser unvergleichlichen,
gewaltigen neun Monate, und ich habe damit keine Ausnahme geschildert,
sondern nur ein Beispiel, das sich auch heute hundert- und tausendfach wieder¬
holen würde. Denn wir sind eine Nation geworden.

Doch ich will heute nicht die historische Frage behandeln, wie sich die
höhere Schule auf den verschiednen Entwicklungsstufen des Staats- und Schul-
lebens zum Staate, zur Politik gestellt hat, ich möchte vielmehr fragen: wie
hat sie sich zu beiden heute, unter den modernen Verhältnissen des Verfassungs¬
staats und des nationalen Reichs, zu stellen? Ich möchte heute, wo wir aber¬
mals eine Schar von Jünglingen entlassen, damit sie, so Gott will, reif nicht
nur nach den Ziffern des Zeugnisses, sondern reif auch innerlich, nu den Auf¬
gaben der Schule gemessen, künftig ihren Weg wählen nach eignem Ermessen
und eigner Erwägung, eine Erörterung anstellen über das Thema: Schule
und Politik. Die Antwort, wie sich beide heute zu einander verhalten sollen,
läßt sich in wenige Worte zusammenfassen: Die Schule soll den Schülern fern
halten, was uns trennt, nahe bringen, was uns eint. Und dies fällt beinahe
zusammen mit dem Unterschiede zwischen innerer und äußerer Politik. Im


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[0058] Schule und Politik ganzen. In dem absoluten Staate, der nur beruhte auf dem Monarchen, dem Beamtentum und dem Heere, hatte das Volk nur einen leidenden und stummen Anteil, und so stand auch die höhere Schule halb außerhalb des Staats. War sie doch auch nur in den seltensten Fällen eine Veranstaltung des Staats, in den meisten eine Einrichtung der Kirche oder der Gemeinde, und zwar eine recht untergeordnete, recht stiefmütterlich behandelte Einrichtung, und hatte doch auch ihr ganzer Unterricht in seiner formalistischen Weise und dem alles andre weit überwiegenden grammatisch-rhetorischen Betriebe des Lateinischen etwas Weltfremdes; von vaterländischer Litteratur und Geschichte hörte der Schüler nichts; beides gab es für ihn nur im klassischen Altertum. In dem konstitutionellen Staate, der auf die Teilnahme aller seiner Bürger begründet ist, nimmt auch die Schule ihren Anteil an großen Ereignissen, und vollends im nationalen Staate! Ist sie doch auch längst unter die Aufsicht und größtenteils auch unter die Verwaltung des Staats getreten und hat den nationalen und modernen Bildungselementen einen breiten Zugang eröffnet. Der Gegensatz ist ungeheuer. Als im Dezember 1745 die Wellen des zweiten schlesischen Krieges auch den stillen Schulberg der Fürstenschule Se. Afra in Meißen umbrandeten, als Friedrich der Große sein Hauptquartier in der alten Markgrafenstadt aufschlug, und der Kanonendonner vom nahen Kesselsdorf her die Luft erschütterte, da empfand das der junge Lessing schlechterdings nur als eine lästige Störung der friedlichen gelehrten Studien; die Bedeutung des Kampfes auch nur für sein sächsisches Heimatland bekümmerte ihn nicht. Wie anders 1870! Erst vor wenigen Wochen, am 18. Januar, habe ich zu schildern versucht, wie damals ein sächsisches Gymnasium gelebt hat, wie es herzlichen, fast leidenschaftlichen Anteil nahm an den Ereignissen dieser unvergleichlichen, gewaltigen neun Monate, und ich habe damit keine Ausnahme geschildert, sondern nur ein Beispiel, das sich auch heute hundert- und tausendfach wieder¬ holen würde. Denn wir sind eine Nation geworden. Doch ich will heute nicht die historische Frage behandeln, wie sich die höhere Schule auf den verschiednen Entwicklungsstufen des Staats- und Schul- lebens zum Staate, zur Politik gestellt hat, ich möchte vielmehr fragen: wie hat sie sich zu beiden heute, unter den modernen Verhältnissen des Verfassungs¬ staats und des nationalen Reichs, zu stellen? Ich möchte heute, wo wir aber¬ mals eine Schar von Jünglingen entlassen, damit sie, so Gott will, reif nicht nur nach den Ziffern des Zeugnisses, sondern reif auch innerlich, nu den Auf¬ gaben der Schule gemessen, künftig ihren Weg wählen nach eignem Ermessen und eigner Erwägung, eine Erörterung anstellen über das Thema: Schule und Politik. Die Antwort, wie sich beide heute zu einander verhalten sollen, läßt sich in wenige Worte zusammenfassen: Die Schule soll den Schülern fern halten, was uns trennt, nahe bringen, was uns eint. Und dies fällt beinahe zusammen mit dem Unterschiede zwischen innerer und äußerer Politik. Im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/58>, abgerufen am 12.05.2024.