Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Schule und Politik

freien Staate sind Parteien natürlich und notwendig, Parteien, die mindestens
über die Wege zum Ziele, oft genug auch über die Ziele selbst verschiedner
Ansicht sind. Ihr Kampf, so oft er auch stören mag, ist doch notwendig,
denn er bewahrt das Staatsleben vor Erstarrung, sichert neu auftauchenden
Bedürfnissen und Ideen eine Vertretung, bewahrt den Bürger selbst vor Gleich-
giltigkeit und zwingt ihn. sich selbst ein Urteil zu bilden. Solon wußte wohl,
warum er jedem athenischen Bürger die Teilnahme an den Parteikämpfen zur
Pflicht machte. Der Schüler aber ist noch nicht frei, er hat noch kein eignes
Urteil, weil er noch nicht fertig ist, er steht noch unter der Zucht des Eltern¬
hauses und der Schule, beide richten ihm den Willen und wirken mit an der
Bildung seiner Anschauungen. Er kann und darf also in inncrpolitischen Fragen
noch gar nicht wirklich Partei ergreifen. Die Schule als solche aber soll sich
niemals zum Werkzeug einer Partei erniedrigen, auch nicht einer herrschenden,
denn sie würde mit der Vertretung einer bestimmten Parteirichtung nicht nur
auf die Schüler unter Umständen einen dem beabsichtigten gerade entgegen¬
gesetzten Eindruck machen, sondern sie würde, was wichtiger ist. ihr innerstes
Wesen schädigen, und das ist die Wahrhaftigkeit. Keine Partei hat die ganze
Wahrheit, keine kann gegen die andre gerecht sein, denn jede steht im Kampfe,
und jede hat nur vorübergehende Bedeutung und Berechtigung. Die Schule
aber soll das Große, das Dauernde vertreten, ihre Lehrer dürfen nicht ge¬
zwungen sein, gegen ihre Überzeugung zu reden, also zu heucheln, sie würden
damit ihre sittliche Wirkung auf ihre Schüler selber untergraben. Als im
Jahre 1837 in Hannover die feierlich beschworne Verfassung gebrochen wurde,
da protestirten sieben Göttinger Professoren, weil sie die sittliche Grundlage
ihres Wirkens gefährden würden, wenn sie diesen Eidbruch auch nur still¬
schweigend guthießen, und ihre mannhafte That zeigte zum erstenmale dem
deutschen Volke, daß deutsche Gelehrte nicht immer die verspotteten Stuben¬
gelehrten sind, sondern von ihren idealen Gesichtspunkten ans oft schärfer und
richtiger sehen, als die gerühmten Männer der Praxis. Und weil aller Unter¬
richt nicht dazu da ist, zur Parteigesinnung zu erziehen, sondern zur Gesinnung,
so hat das deutsche Gymnasium fast einmütig sogar die Zumutung abgelehnt,
unmittelbar vor den Schülern die sozialdemokratischen Irrlehren zu bekämpfen,
so sehr es die phantastischen Ziele und die wüste Agitation ihrer Vertreter
verwerfen mag. Denn zu entscheiden, wie diese schwere Krankheit unsers Volks-
kvrpers geheilt werden könne, kann nicht Sache der Schule sein, ganz abge¬
sehen davon, daß Thatsachen nicht durch Worte aus der Welt geschafft werden
können, sondern nur durch Thaten, und die Schule verfügt nur über das
Wort.

Soll nun etwa der Lehrer sich keine Überzeugung über innerpolitische
Fragen bilden dürfen? Gewiß darf er das heutzutage uicht nur. sondern er
soll es auch; auch er soll diese Forderung nicht mit der Bemerkung ablehnen


Schule und Politik

freien Staate sind Parteien natürlich und notwendig, Parteien, die mindestens
über die Wege zum Ziele, oft genug auch über die Ziele selbst verschiedner
Ansicht sind. Ihr Kampf, so oft er auch stören mag, ist doch notwendig,
denn er bewahrt das Staatsleben vor Erstarrung, sichert neu auftauchenden
Bedürfnissen und Ideen eine Vertretung, bewahrt den Bürger selbst vor Gleich-
giltigkeit und zwingt ihn. sich selbst ein Urteil zu bilden. Solon wußte wohl,
warum er jedem athenischen Bürger die Teilnahme an den Parteikämpfen zur
Pflicht machte. Der Schüler aber ist noch nicht frei, er hat noch kein eignes
Urteil, weil er noch nicht fertig ist, er steht noch unter der Zucht des Eltern¬
hauses und der Schule, beide richten ihm den Willen und wirken mit an der
Bildung seiner Anschauungen. Er kann und darf also in inncrpolitischen Fragen
noch gar nicht wirklich Partei ergreifen. Die Schule als solche aber soll sich
niemals zum Werkzeug einer Partei erniedrigen, auch nicht einer herrschenden,
denn sie würde mit der Vertretung einer bestimmten Parteirichtung nicht nur
auf die Schüler unter Umständen einen dem beabsichtigten gerade entgegen¬
gesetzten Eindruck machen, sondern sie würde, was wichtiger ist. ihr innerstes
Wesen schädigen, und das ist die Wahrhaftigkeit. Keine Partei hat die ganze
Wahrheit, keine kann gegen die andre gerecht sein, denn jede steht im Kampfe,
und jede hat nur vorübergehende Bedeutung und Berechtigung. Die Schule
aber soll das Große, das Dauernde vertreten, ihre Lehrer dürfen nicht ge¬
zwungen sein, gegen ihre Überzeugung zu reden, also zu heucheln, sie würden
damit ihre sittliche Wirkung auf ihre Schüler selber untergraben. Als im
Jahre 1837 in Hannover die feierlich beschworne Verfassung gebrochen wurde,
da protestirten sieben Göttinger Professoren, weil sie die sittliche Grundlage
ihres Wirkens gefährden würden, wenn sie diesen Eidbruch auch nur still¬
schweigend guthießen, und ihre mannhafte That zeigte zum erstenmale dem
deutschen Volke, daß deutsche Gelehrte nicht immer die verspotteten Stuben¬
gelehrten sind, sondern von ihren idealen Gesichtspunkten ans oft schärfer und
richtiger sehen, als die gerühmten Männer der Praxis. Und weil aller Unter¬
richt nicht dazu da ist, zur Parteigesinnung zu erziehen, sondern zur Gesinnung,
so hat das deutsche Gymnasium fast einmütig sogar die Zumutung abgelehnt,
unmittelbar vor den Schülern die sozialdemokratischen Irrlehren zu bekämpfen,
so sehr es die phantastischen Ziele und die wüste Agitation ihrer Vertreter
verwerfen mag. Denn zu entscheiden, wie diese schwere Krankheit unsers Volks-
kvrpers geheilt werden könne, kann nicht Sache der Schule sein, ganz abge¬
sehen davon, daß Thatsachen nicht durch Worte aus der Welt geschafft werden
können, sondern nur durch Thaten, und die Schule verfügt nur über das
Wort.

Soll nun etwa der Lehrer sich keine Überzeugung über innerpolitische
Fragen bilden dürfen? Gewiß darf er das heutzutage uicht nur. sondern er
soll es auch; auch er soll diese Forderung nicht mit der Bemerkung ablehnen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0059" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222363"/>
          <fw type="header" place="top"> Schule und Politik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_192" prev="#ID_191"> freien Staate sind Parteien natürlich und notwendig, Parteien, die mindestens<lb/>
über die Wege zum Ziele, oft genug auch über die Ziele selbst verschiedner<lb/>
Ansicht sind. Ihr Kampf, so oft er auch stören mag, ist doch notwendig,<lb/>
denn er bewahrt das Staatsleben vor Erstarrung, sichert neu auftauchenden<lb/>
Bedürfnissen und Ideen eine Vertretung, bewahrt den Bürger selbst vor Gleich-<lb/>
giltigkeit und zwingt ihn. sich selbst ein Urteil zu bilden. Solon wußte wohl,<lb/>
warum er jedem athenischen Bürger die Teilnahme an den Parteikämpfen zur<lb/>
Pflicht machte. Der Schüler aber ist noch nicht frei, er hat noch kein eignes<lb/>
Urteil, weil er noch nicht fertig ist, er steht noch unter der Zucht des Eltern¬<lb/>
hauses und der Schule, beide richten ihm den Willen und wirken mit an der<lb/>
Bildung seiner Anschauungen. Er kann und darf also in inncrpolitischen Fragen<lb/>
noch gar nicht wirklich Partei ergreifen. Die Schule als solche aber soll sich<lb/>
niemals zum Werkzeug einer Partei erniedrigen, auch nicht einer herrschenden,<lb/>
denn sie würde mit der Vertretung einer bestimmten Parteirichtung nicht nur<lb/>
auf die Schüler unter Umständen einen dem beabsichtigten gerade entgegen¬<lb/>
gesetzten Eindruck machen, sondern sie würde, was wichtiger ist. ihr innerstes<lb/>
Wesen schädigen, und das ist die Wahrhaftigkeit. Keine Partei hat die ganze<lb/>
Wahrheit, keine kann gegen die andre gerecht sein, denn jede steht im Kampfe,<lb/>
und jede hat nur vorübergehende Bedeutung und Berechtigung. Die Schule<lb/>
aber soll das Große, das Dauernde vertreten, ihre Lehrer dürfen nicht ge¬<lb/>
zwungen sein, gegen ihre Überzeugung zu reden, also zu heucheln, sie würden<lb/>
damit ihre sittliche Wirkung auf ihre Schüler selber untergraben. Als im<lb/>
Jahre 1837 in Hannover die feierlich beschworne Verfassung gebrochen wurde,<lb/>
da protestirten sieben Göttinger Professoren, weil sie die sittliche Grundlage<lb/>
ihres Wirkens gefährden würden, wenn sie diesen Eidbruch auch nur still¬<lb/>
schweigend guthießen, und ihre mannhafte That zeigte zum erstenmale dem<lb/>
deutschen Volke, daß deutsche Gelehrte nicht immer die verspotteten Stuben¬<lb/>
gelehrten sind, sondern von ihren idealen Gesichtspunkten ans oft schärfer und<lb/>
richtiger sehen, als die gerühmten Männer der Praxis. Und weil aller Unter¬<lb/>
richt nicht dazu da ist, zur Parteigesinnung zu erziehen, sondern zur Gesinnung,<lb/>
so hat das deutsche Gymnasium fast einmütig sogar die Zumutung abgelehnt,<lb/>
unmittelbar vor den Schülern die sozialdemokratischen Irrlehren zu bekämpfen,<lb/>
so sehr es die phantastischen Ziele und die wüste Agitation ihrer Vertreter<lb/>
verwerfen mag. Denn zu entscheiden, wie diese schwere Krankheit unsers Volks-<lb/>
kvrpers geheilt werden könne, kann nicht Sache der Schule sein, ganz abge¬<lb/>
sehen davon, daß Thatsachen nicht durch Worte aus der Welt geschafft werden<lb/>
können, sondern nur durch Thaten, und die Schule verfügt nur über das<lb/>
Wort.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_193" next="#ID_194"> Soll nun etwa der Lehrer sich keine Überzeugung über innerpolitische<lb/>
Fragen bilden dürfen? Gewiß darf er das heutzutage uicht nur. sondern er<lb/>
soll es auch; auch er soll diese Forderung nicht mit der Bemerkung ablehnen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0059] Schule und Politik freien Staate sind Parteien natürlich und notwendig, Parteien, die mindestens über die Wege zum Ziele, oft genug auch über die Ziele selbst verschiedner Ansicht sind. Ihr Kampf, so oft er auch stören mag, ist doch notwendig, denn er bewahrt das Staatsleben vor Erstarrung, sichert neu auftauchenden Bedürfnissen und Ideen eine Vertretung, bewahrt den Bürger selbst vor Gleich- giltigkeit und zwingt ihn. sich selbst ein Urteil zu bilden. Solon wußte wohl, warum er jedem athenischen Bürger die Teilnahme an den Parteikämpfen zur Pflicht machte. Der Schüler aber ist noch nicht frei, er hat noch kein eignes Urteil, weil er noch nicht fertig ist, er steht noch unter der Zucht des Eltern¬ hauses und der Schule, beide richten ihm den Willen und wirken mit an der Bildung seiner Anschauungen. Er kann und darf also in inncrpolitischen Fragen noch gar nicht wirklich Partei ergreifen. Die Schule als solche aber soll sich niemals zum Werkzeug einer Partei erniedrigen, auch nicht einer herrschenden, denn sie würde mit der Vertretung einer bestimmten Parteirichtung nicht nur auf die Schüler unter Umständen einen dem beabsichtigten gerade entgegen¬ gesetzten Eindruck machen, sondern sie würde, was wichtiger ist. ihr innerstes Wesen schädigen, und das ist die Wahrhaftigkeit. Keine Partei hat die ganze Wahrheit, keine kann gegen die andre gerecht sein, denn jede steht im Kampfe, und jede hat nur vorübergehende Bedeutung und Berechtigung. Die Schule aber soll das Große, das Dauernde vertreten, ihre Lehrer dürfen nicht ge¬ zwungen sein, gegen ihre Überzeugung zu reden, also zu heucheln, sie würden damit ihre sittliche Wirkung auf ihre Schüler selber untergraben. Als im Jahre 1837 in Hannover die feierlich beschworne Verfassung gebrochen wurde, da protestirten sieben Göttinger Professoren, weil sie die sittliche Grundlage ihres Wirkens gefährden würden, wenn sie diesen Eidbruch auch nur still¬ schweigend guthießen, und ihre mannhafte That zeigte zum erstenmale dem deutschen Volke, daß deutsche Gelehrte nicht immer die verspotteten Stuben¬ gelehrten sind, sondern von ihren idealen Gesichtspunkten ans oft schärfer und richtiger sehen, als die gerühmten Männer der Praxis. Und weil aller Unter¬ richt nicht dazu da ist, zur Parteigesinnung zu erziehen, sondern zur Gesinnung, so hat das deutsche Gymnasium fast einmütig sogar die Zumutung abgelehnt, unmittelbar vor den Schülern die sozialdemokratischen Irrlehren zu bekämpfen, so sehr es die phantastischen Ziele und die wüste Agitation ihrer Vertreter verwerfen mag. Denn zu entscheiden, wie diese schwere Krankheit unsers Volks- kvrpers geheilt werden könne, kann nicht Sache der Schule sein, ganz abge¬ sehen davon, daß Thatsachen nicht durch Worte aus der Welt geschafft werden können, sondern nur durch Thaten, und die Schule verfügt nur über das Wort. Soll nun etwa der Lehrer sich keine Überzeugung über innerpolitische Fragen bilden dürfen? Gewiß darf er das heutzutage uicht nur. sondern er soll es auch; auch er soll diese Forderung nicht mit der Bemerkung ablehnen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/59
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/59>, abgerufen am 06.06.2024.