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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Professuren für deutsches Altertum

einem nicht zu weit gezognen Kreise. Es wird über allgemeine deutsche Gram¬
matik gelesen, meist unter Ausschluß der Syntax, dann über Geschichte der
deutschen Sprache, über Metrik; daneben giebt es kleinere Vorlesungen über
besondre altgermanische Dialekte, wie Gotisch, Althochdeutsch, Altsüchsisch,
seltener einmal Altislündisch, meist verbunden mit der Erklärung des Wulfila,
des Otfrid, des Heliand und einer altnordischen Saga. Reicher ist die Aus¬
wahl an mittelhochdeutschen Jnterpretationskollegien, wo die Nibelungen,
Gudrun, Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach zu dem eisernen
Bestände gehören, den sich jeder Germanist zu eigen zu machen an allen Uni¬
versitäten Gelegenheit findet. Damit ist aber auch der Kreis der Vorlesungen
so gut wie geschlossen. Man sieht, die deutsche Philologie bewegt sich in
einem Rahmen, wie er enger begrenzt wohl kaum gedacht werden kann: Sprache
und Schriftstellererklürung sind ihr Anfang und ihr Ende. Wenn es hoch
kommt, schwingt sich der germanistische Professor, aber auch nur an einigen Uni¬
versitäten, zu einer Vorlesung über die Germania des Tacitus auf. Daß sich
aber diese Vorlesung auf der Höhe der Wissenschaft halte, dürfte in den meisten
Fällen zu verneinen sein. Denn mit wenigen Ausnahmen bewegen sich die
Forschungen der Ordinarien auf dem Gebiete ihrer Hauptvorlesungen und um¬
gekehrt: sie lesen aus dem Gebiete ihrer Forschungen. Wer aber den Schwer¬
punkt seiner Arbeit in das Studium der mittelalterlichen Dichter verlegt hat,
kann unmöglich der überreich entwickelten Forschung vom germanischen Altertum
derart folgen, wie es heute von einem Erklärer der Germania verlangt werden
muß. Dafür ist die Brücke vom Ausgang des Mittelalters zurück über die
Zeit der Völkerwanderung in die germanische Urzeit -- von der Vorzeit ganz
zu schweigen -- zu schmal und zu lang. Heute aber giebt es unter den Or¬
dinarien für germanische Philologie in Deutschland kaum einen, der für die
Förderung der Erklärung der Germania etwas nennenswertes geleistet hätte,
und darum können ihre Vorlesungen über die Germania auch nicht aus dem
Vollen herausgearbeitet sein. Wohl gab es einst Männer unter den Ger¬
manisten, deren Forschung das gesamte germanische Altertum und Mittelalter
in allen Richtungen seiner Bethätigung, wie in allen seinen nationalen Spal¬
tungen mit gleicher Kraft umspannte. Jakob Grimm war ein solches Genie,
dem dann Karl Müllenhoff in Bezug auf Universalität am nächsten kam.
Heute giebt es nur noch einen Gelehrten, der an Vielseitigkeit der Forschung
wie der Unterweisung sich jenen Männern an die Seite stellt: Karl Weinhold
in Berlin. In seinen Vorlesungen haben die Altertumskunde wie die Mytho¬
logie, die Heldensage wie die Volkskunde ihre gleichberechtigte Stellung neben
der Grammatik und der Litteratur. In solcher Ausnahmestellung vertritt dieser
Forscher und Lehrer eine vergangne Zeit. Das jüngere Geschlecht ist nicht
mehr imstande, ihm hierin zu folgen, nicht erst heute, sondern schon seit Jahr¬
zehnten. Der vor zehn Jahren verstorbne Wilhelm Scherer las ein viel-


Professuren für deutsches Altertum

einem nicht zu weit gezognen Kreise. Es wird über allgemeine deutsche Gram¬
matik gelesen, meist unter Ausschluß der Syntax, dann über Geschichte der
deutschen Sprache, über Metrik; daneben giebt es kleinere Vorlesungen über
besondre altgermanische Dialekte, wie Gotisch, Althochdeutsch, Altsüchsisch,
seltener einmal Altislündisch, meist verbunden mit der Erklärung des Wulfila,
des Otfrid, des Heliand und einer altnordischen Saga. Reicher ist die Aus¬
wahl an mittelhochdeutschen Jnterpretationskollegien, wo die Nibelungen,
Gudrun, Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach zu dem eisernen
Bestände gehören, den sich jeder Germanist zu eigen zu machen an allen Uni¬
versitäten Gelegenheit findet. Damit ist aber auch der Kreis der Vorlesungen
so gut wie geschlossen. Man sieht, die deutsche Philologie bewegt sich in
einem Rahmen, wie er enger begrenzt wohl kaum gedacht werden kann: Sprache
und Schriftstellererklürung sind ihr Anfang und ihr Ende. Wenn es hoch
kommt, schwingt sich der germanistische Professor, aber auch nur an einigen Uni¬
versitäten, zu einer Vorlesung über die Germania des Tacitus auf. Daß sich
aber diese Vorlesung auf der Höhe der Wissenschaft halte, dürfte in den meisten
Fällen zu verneinen sein. Denn mit wenigen Ausnahmen bewegen sich die
Forschungen der Ordinarien auf dem Gebiete ihrer Hauptvorlesungen und um¬
gekehrt: sie lesen aus dem Gebiete ihrer Forschungen. Wer aber den Schwer¬
punkt seiner Arbeit in das Studium der mittelalterlichen Dichter verlegt hat,
kann unmöglich der überreich entwickelten Forschung vom germanischen Altertum
derart folgen, wie es heute von einem Erklärer der Germania verlangt werden
muß. Dafür ist die Brücke vom Ausgang des Mittelalters zurück über die
Zeit der Völkerwanderung in die germanische Urzeit — von der Vorzeit ganz
zu schweigen — zu schmal und zu lang. Heute aber giebt es unter den Or¬
dinarien für germanische Philologie in Deutschland kaum einen, der für die
Förderung der Erklärung der Germania etwas nennenswertes geleistet hätte,
und darum können ihre Vorlesungen über die Germania auch nicht aus dem
Vollen herausgearbeitet sein. Wohl gab es einst Männer unter den Ger¬
manisten, deren Forschung das gesamte germanische Altertum und Mittelalter
in allen Richtungen seiner Bethätigung, wie in allen seinen nationalen Spal¬
tungen mit gleicher Kraft umspannte. Jakob Grimm war ein solches Genie,
dem dann Karl Müllenhoff in Bezug auf Universalität am nächsten kam.
Heute giebt es nur noch einen Gelehrten, der an Vielseitigkeit der Forschung
wie der Unterweisung sich jenen Männern an die Seite stellt: Karl Weinhold
in Berlin. In seinen Vorlesungen haben die Altertumskunde wie die Mytho¬
logie, die Heldensage wie die Volkskunde ihre gleichberechtigte Stellung neben
der Grammatik und der Litteratur. In solcher Ausnahmestellung vertritt dieser
Forscher und Lehrer eine vergangne Zeit. Das jüngere Geschlecht ist nicht
mehr imstande, ihm hierin zu folgen, nicht erst heute, sondern schon seit Jahr¬
zehnten. Der vor zehn Jahren verstorbne Wilhelm Scherer las ein viel-


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[0610] Professuren für deutsches Altertum einem nicht zu weit gezognen Kreise. Es wird über allgemeine deutsche Gram¬ matik gelesen, meist unter Ausschluß der Syntax, dann über Geschichte der deutschen Sprache, über Metrik; daneben giebt es kleinere Vorlesungen über besondre altgermanische Dialekte, wie Gotisch, Althochdeutsch, Altsüchsisch, seltener einmal Altislündisch, meist verbunden mit der Erklärung des Wulfila, des Otfrid, des Heliand und einer altnordischen Saga. Reicher ist die Aus¬ wahl an mittelhochdeutschen Jnterpretationskollegien, wo die Nibelungen, Gudrun, Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach zu dem eisernen Bestände gehören, den sich jeder Germanist zu eigen zu machen an allen Uni¬ versitäten Gelegenheit findet. Damit ist aber auch der Kreis der Vorlesungen so gut wie geschlossen. Man sieht, die deutsche Philologie bewegt sich in einem Rahmen, wie er enger begrenzt wohl kaum gedacht werden kann: Sprache und Schriftstellererklürung sind ihr Anfang und ihr Ende. Wenn es hoch kommt, schwingt sich der germanistische Professor, aber auch nur an einigen Uni¬ versitäten, zu einer Vorlesung über die Germania des Tacitus auf. Daß sich aber diese Vorlesung auf der Höhe der Wissenschaft halte, dürfte in den meisten Fällen zu verneinen sein. Denn mit wenigen Ausnahmen bewegen sich die Forschungen der Ordinarien auf dem Gebiete ihrer Hauptvorlesungen und um¬ gekehrt: sie lesen aus dem Gebiete ihrer Forschungen. Wer aber den Schwer¬ punkt seiner Arbeit in das Studium der mittelalterlichen Dichter verlegt hat, kann unmöglich der überreich entwickelten Forschung vom germanischen Altertum derart folgen, wie es heute von einem Erklärer der Germania verlangt werden muß. Dafür ist die Brücke vom Ausgang des Mittelalters zurück über die Zeit der Völkerwanderung in die germanische Urzeit — von der Vorzeit ganz zu schweigen — zu schmal und zu lang. Heute aber giebt es unter den Or¬ dinarien für germanische Philologie in Deutschland kaum einen, der für die Förderung der Erklärung der Germania etwas nennenswertes geleistet hätte, und darum können ihre Vorlesungen über die Germania auch nicht aus dem Vollen herausgearbeitet sein. Wohl gab es einst Männer unter den Ger¬ manisten, deren Forschung das gesamte germanische Altertum und Mittelalter in allen Richtungen seiner Bethätigung, wie in allen seinen nationalen Spal¬ tungen mit gleicher Kraft umspannte. Jakob Grimm war ein solches Genie, dem dann Karl Müllenhoff in Bezug auf Universalität am nächsten kam. Heute giebt es nur noch einen Gelehrten, der an Vielseitigkeit der Forschung wie der Unterweisung sich jenen Männern an die Seite stellt: Karl Weinhold in Berlin. In seinen Vorlesungen haben die Altertumskunde wie die Mytho¬ logie, die Heldensage wie die Volkskunde ihre gleichberechtigte Stellung neben der Grammatik und der Litteratur. In solcher Ausnahmestellung vertritt dieser Forscher und Lehrer eine vergangne Zeit. Das jüngere Geschlecht ist nicht mehr imstande, ihm hierin zu folgen, nicht erst heute, sondern schon seit Jahr¬ zehnten. Der vor zehn Jahren verstorbne Wilhelm Scherer las ein viel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/610>, abgerufen am 27.05.2024.