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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

gebrachter Anschauungen, namentlich wenn sie sich als Vorurteile so eingenistet
haben, daß man sie für selbstverständlich hält und ihre Tyrannei nicht an-
feindet. Wir leben in einer Zeit, wo man vielfach mit dem Alten brechen
will und sich doch nicht ganz zu dem Neuen zu entschließen vermag. Daher
begegnen wir vielen Widersprüchen, allgemeiner Nörgelei und Unzufriedenheit
und kleben trotz der vielen Klagen der Presse über das Justizelend an dem
Hergebrachten, anstatt die Axt an die Wurzel des Übels zu legen. Diese
ängstliche Unterordnung unter die drückende Gewalt des Ererbten in der Rechts¬
pflege würde sich verteidigen lassen, wenn die Beseitigung der Rechtswissen¬
schaft selbst, der mühevollen Errungenschaft menschlicher Geistesarbeit angestrebt
würde. Aber nicht darum handelt es sich, sondern um die folgerichtige Durch¬
führung des als unabwendbar notwendig bereits eingeführten. Die Rechts¬
wissenschaft wird deshalb nicht leiden, sondern sie muß gewinnen, wenn die
Berufsjustiz aufhört, auf eine nur ihr verständliche Weise Recht zu sprechen,
wenn sie genötigt wird, und zwar vollständig und durchgängig, von dem
Herrscherstuhle in die bescheidnere und schwierigere Stellung der überzeugenden
Beraterin herabzusteigen. Ein Recht, das nicht nur nach den Formen seiner
Entstehung, sondern auch nach seinem Inhalt, nicht nur dem Namen nach,
sondern in Wahrheit Recht sein will, muß auf der Überzeugung der in Rechts¬
gemeinschaft lebenden Gesellschaft beruhen. Sind jene Strafen ohne zureichende
Verschuldung entbehrlich, dann sind auch die Gesetze, die sie eingeführt haben,
von den Juristen falsch ausgeklügelt; gehören aber jene Strafen zu den Lebens¬
bedingungen unsrer hoch entwickelten Gesellschaft, dann erfordert schon die
Gerechtigkeit, daß sie dem Laienurteil entspringen, damit sie von der allgemeinen
Überzeugung ihrer Unentbehrlichkeit getragen werden. Wohin sich auch die
Betrachtungen wenden, überall stößt man auf das Ergebnis, daß es mit der
einseitigen Herrschaft der Berufsjustiz vorbei sei oder vielmehr vorbei sein sollte.
Es ist ein leidiger Trost, daß sich die meisten andern großen Kulturvölker die
Bevormundung der Berufsjustiz fast in gleichem Maße gefallen lassen. Die
Stellung, die wir unter den Nationen einnehmen, legt uns auch Pflichten auf,
denn auch unter den Völkern gilt das volles. Stein schrieb seiner¬
zeit an Hardenberg: "Ich glaube, daß es richtig ist, die Fesseln zu brechen,
wodurch die Bureaukratie den Aufschwung der menschlichen Fähigkeiten hindert.
Die Nation muß daran gewöhnt werden, ihre eignen Geschäfte zu verwalten
und aus diesem Zustande der Kindheit heraustreten, worin eine dienstfertige
Negierung die Menschheit halten möchte." Die Bureaukratie ist aber auf
keinem andern Gebiete des öffentlichen Lebens so allmächtig geblieben, wie auf
dem des Rechts, mit dessen Wesen sie am wenigsten vereinbar ist. Es ist doch
nur immer wieder der "beschränkte Unterthanenverstand," der offen oder ver¬
steckt gegen Laienrecht und Laienspruch ins Feld geführt wird. Es ist aber
nicht anzunehmen, daß der Laienverstand den Gründen der Rechtsgelehrten da,


Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg

gebrachter Anschauungen, namentlich wenn sie sich als Vorurteile so eingenistet
haben, daß man sie für selbstverständlich hält und ihre Tyrannei nicht an-
feindet. Wir leben in einer Zeit, wo man vielfach mit dem Alten brechen
will und sich doch nicht ganz zu dem Neuen zu entschließen vermag. Daher
begegnen wir vielen Widersprüchen, allgemeiner Nörgelei und Unzufriedenheit
und kleben trotz der vielen Klagen der Presse über das Justizelend an dem
Hergebrachten, anstatt die Axt an die Wurzel des Übels zu legen. Diese
ängstliche Unterordnung unter die drückende Gewalt des Ererbten in der Rechts¬
pflege würde sich verteidigen lassen, wenn die Beseitigung der Rechtswissen¬
schaft selbst, der mühevollen Errungenschaft menschlicher Geistesarbeit angestrebt
würde. Aber nicht darum handelt es sich, sondern um die folgerichtige Durch¬
führung des als unabwendbar notwendig bereits eingeführten. Die Rechts¬
wissenschaft wird deshalb nicht leiden, sondern sie muß gewinnen, wenn die
Berufsjustiz aufhört, auf eine nur ihr verständliche Weise Recht zu sprechen,
wenn sie genötigt wird, und zwar vollständig und durchgängig, von dem
Herrscherstuhle in die bescheidnere und schwierigere Stellung der überzeugenden
Beraterin herabzusteigen. Ein Recht, das nicht nur nach den Formen seiner
Entstehung, sondern auch nach seinem Inhalt, nicht nur dem Namen nach,
sondern in Wahrheit Recht sein will, muß auf der Überzeugung der in Rechts¬
gemeinschaft lebenden Gesellschaft beruhen. Sind jene Strafen ohne zureichende
Verschuldung entbehrlich, dann sind auch die Gesetze, die sie eingeführt haben,
von den Juristen falsch ausgeklügelt; gehören aber jene Strafen zu den Lebens¬
bedingungen unsrer hoch entwickelten Gesellschaft, dann erfordert schon die
Gerechtigkeit, daß sie dem Laienurteil entspringen, damit sie von der allgemeinen
Überzeugung ihrer Unentbehrlichkeit getragen werden. Wohin sich auch die
Betrachtungen wenden, überall stößt man auf das Ergebnis, daß es mit der
einseitigen Herrschaft der Berufsjustiz vorbei sei oder vielmehr vorbei sein sollte.
Es ist ein leidiger Trost, daß sich die meisten andern großen Kulturvölker die
Bevormundung der Berufsjustiz fast in gleichem Maße gefallen lassen. Die
Stellung, die wir unter den Nationen einnehmen, legt uns auch Pflichten auf,
denn auch unter den Völkern gilt das volles. Stein schrieb seiner¬
zeit an Hardenberg: „Ich glaube, daß es richtig ist, die Fesseln zu brechen,
wodurch die Bureaukratie den Aufschwung der menschlichen Fähigkeiten hindert.
Die Nation muß daran gewöhnt werden, ihre eignen Geschäfte zu verwalten
und aus diesem Zustande der Kindheit heraustreten, worin eine dienstfertige
Negierung die Menschheit halten möchte." Die Bureaukratie ist aber auf
keinem andern Gebiete des öffentlichen Lebens so allmächtig geblieben, wie auf
dem des Rechts, mit dessen Wesen sie am wenigsten vereinbar ist. Es ist doch
nur immer wieder der „beschränkte Unterthanenverstand," der offen oder ver¬
steckt gegen Laienrecht und Laienspruch ins Feld geführt wird. Es ist aber
nicht anzunehmen, daß der Laienverstand den Gründen der Rechtsgelehrten da,


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[0133] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg gebrachter Anschauungen, namentlich wenn sie sich als Vorurteile so eingenistet haben, daß man sie für selbstverständlich hält und ihre Tyrannei nicht an- feindet. Wir leben in einer Zeit, wo man vielfach mit dem Alten brechen will und sich doch nicht ganz zu dem Neuen zu entschließen vermag. Daher begegnen wir vielen Widersprüchen, allgemeiner Nörgelei und Unzufriedenheit und kleben trotz der vielen Klagen der Presse über das Justizelend an dem Hergebrachten, anstatt die Axt an die Wurzel des Übels zu legen. Diese ängstliche Unterordnung unter die drückende Gewalt des Ererbten in der Rechts¬ pflege würde sich verteidigen lassen, wenn die Beseitigung der Rechtswissen¬ schaft selbst, der mühevollen Errungenschaft menschlicher Geistesarbeit angestrebt würde. Aber nicht darum handelt es sich, sondern um die folgerichtige Durch¬ führung des als unabwendbar notwendig bereits eingeführten. Die Rechts¬ wissenschaft wird deshalb nicht leiden, sondern sie muß gewinnen, wenn die Berufsjustiz aufhört, auf eine nur ihr verständliche Weise Recht zu sprechen, wenn sie genötigt wird, und zwar vollständig und durchgängig, von dem Herrscherstuhle in die bescheidnere und schwierigere Stellung der überzeugenden Beraterin herabzusteigen. Ein Recht, das nicht nur nach den Formen seiner Entstehung, sondern auch nach seinem Inhalt, nicht nur dem Namen nach, sondern in Wahrheit Recht sein will, muß auf der Überzeugung der in Rechts¬ gemeinschaft lebenden Gesellschaft beruhen. Sind jene Strafen ohne zureichende Verschuldung entbehrlich, dann sind auch die Gesetze, die sie eingeführt haben, von den Juristen falsch ausgeklügelt; gehören aber jene Strafen zu den Lebens¬ bedingungen unsrer hoch entwickelten Gesellschaft, dann erfordert schon die Gerechtigkeit, daß sie dem Laienurteil entspringen, damit sie von der allgemeinen Überzeugung ihrer Unentbehrlichkeit getragen werden. Wohin sich auch die Betrachtungen wenden, überall stößt man auf das Ergebnis, daß es mit der einseitigen Herrschaft der Berufsjustiz vorbei sei oder vielmehr vorbei sein sollte. Es ist ein leidiger Trost, daß sich die meisten andern großen Kulturvölker die Bevormundung der Berufsjustiz fast in gleichem Maße gefallen lassen. Die Stellung, die wir unter den Nationen einnehmen, legt uns auch Pflichten auf, denn auch unter den Völkern gilt das volles. Stein schrieb seiner¬ zeit an Hardenberg: „Ich glaube, daß es richtig ist, die Fesseln zu brechen, wodurch die Bureaukratie den Aufschwung der menschlichen Fähigkeiten hindert. Die Nation muß daran gewöhnt werden, ihre eignen Geschäfte zu verwalten und aus diesem Zustande der Kindheit heraustreten, worin eine dienstfertige Negierung die Menschheit halten möchte." Die Bureaukratie ist aber auf keinem andern Gebiete des öffentlichen Lebens so allmächtig geblieben, wie auf dem des Rechts, mit dessen Wesen sie am wenigsten vereinbar ist. Es ist doch nur immer wieder der „beschränkte Unterthanenverstand," der offen oder ver¬ steckt gegen Laienrecht und Laienspruch ins Feld geführt wird. Es ist aber nicht anzunehmen, daß der Laienverstand den Gründen der Rechtsgelehrten da,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/133>, abgerufen am 14.06.2024.