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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die Arbeitsverhältnisse in der Konfektionsindustrie

auch noch so wohlmeinender, doch häusig recht eitler und sensationsfreudiger
Damen und junger Herren in die ernste Berufsarbeit wissenschaftlich und
auch amtlich verantwortlicher reifer Männer übergehe. Wir können auch
heute nur nachdrücklich das wiederholen, was wir schon im Juni 1896 in den
Grenzboten ausgesprochen haben- Nicht Herr von Stumm, sondern Schäffle
schrieb 1890: "Nicht weil der Sozialdemokratismus ein überlegnes Gesellschafts¬
system vertritt, dem das Bestehende und Werdende in der Diskussion nicht Stand
zu halten vermöchte, ist er gemeingefährlich; sondern darum ist er es, weil er,
wissenschaftlich unhaltbar und praktisch undurchführbar, lediglich die radikalste
Negation alles Bestehenden und der Grundgesetze geschichtlichen Werdens bildet
und dennoch mit jenem Fanatismus der Sekten, der der Widerlegung aus¬
weicht, als Volksaberglaube sich ausbreitet und das Proletariat für den radi¬
kalen Umsturz gewinnt, sammelt und organisirt." Prüft man von diesem
Standpunkt aus das Verhalten so mancher volkswirtschaftlichen Forscher
neuester Schule in Deutschland gegenüber der Sozialdemokratie, so wird man
finden, daß, statt jenen "Volksaberglauben" mit allen Kräften, wie es die Pflicht
der Wissenschaft ist, zu bekämpfen, seit Jahren immer mehr der Sozialdemokratie
die Rolle eines schätzenswerten, verdienstvollen, unentbehrlichen Bundesgenossen
eingeräumt wird, ihre "guten" Seiten gepriesen, ihre Fehler beschönigt werden,
wie das solchen Bundesgenossen gegenüber üblich ist, und mau sich so an der
tiefen Korruption unsrer Arbeitermassen in unverantwortlicher Weise mitschuldig
macht. Und was diese berufsmäßigen Forscher nicht unmittelbar verderben,
das verderben sie mittelbar durch die Züchtung eines Heeres unberufner Forscher,
jener sozialpolitischen Modeschriftsteller männlichen und weiblichen Geschlechts,
die in der Schilderung alles möglichen "Elends" die einseitige Mache bis zum
Virtuosentum treiben, ganz unbekümmert um die unausbleiblichen Wirkungen
nach beiden Seiten, auf die "Elenden" wie auf die "Reichen." "Wahrhaftig
-- so sagten wir damals wörtlich --, es ist hohe Zeit, daß eine gründliche rechts¬
wissenschaftliche Schulung das Bewußtsein der Verantwortlichkeit in der volks¬
wirtschaftlichen Forschung wieder scharfe und der heillosen Einseitigkeit einen
Damm ziehe, die den gesunden Fortgang der sozialen Reformen schon mehr zu
gefährden anfängt, als ihn der Hochmut des Protzentums und die starre
Orthodoxie des Manchesterleute noch zu gefährden vermag." Gerade auf dem
Gebiete der Konfektiousfrage hat die "weibliche" und die "jugendliche Forschung,"
zum Teil unter der wissenschaftlich schwer zu verantwortenden Gevatterschaft
akademischer Würdenträger, den Sozialdemokraten und ihrem "gemeingefähr¬
lichen" Wesen verhängnisvolle Handlangerdieste geleistet, ganz abgesehen von
der bemitleidenswerten Rolle vieler "politischen Pastoren" schwarzer und roter
Färbung. Nicht freudig genug kann man es deshalb begrüßen, daß dnrch
die Arbeit des statistischen Amts diesem Treiben ein kräftiges Halt zugerufen
worden ist, das freilich gegen den sich mit dem "Fanatismus der Sekten"


Die Arbeitsverhältnisse in der Konfektionsindustrie

auch noch so wohlmeinender, doch häusig recht eitler und sensationsfreudiger
Damen und junger Herren in die ernste Berufsarbeit wissenschaftlich und
auch amtlich verantwortlicher reifer Männer übergehe. Wir können auch
heute nur nachdrücklich das wiederholen, was wir schon im Juni 1896 in den
Grenzboten ausgesprochen haben- Nicht Herr von Stumm, sondern Schäffle
schrieb 1890: „Nicht weil der Sozialdemokratismus ein überlegnes Gesellschafts¬
system vertritt, dem das Bestehende und Werdende in der Diskussion nicht Stand
zu halten vermöchte, ist er gemeingefährlich; sondern darum ist er es, weil er,
wissenschaftlich unhaltbar und praktisch undurchführbar, lediglich die radikalste
Negation alles Bestehenden und der Grundgesetze geschichtlichen Werdens bildet
und dennoch mit jenem Fanatismus der Sekten, der der Widerlegung aus¬
weicht, als Volksaberglaube sich ausbreitet und das Proletariat für den radi¬
kalen Umsturz gewinnt, sammelt und organisirt." Prüft man von diesem
Standpunkt aus das Verhalten so mancher volkswirtschaftlichen Forscher
neuester Schule in Deutschland gegenüber der Sozialdemokratie, so wird man
finden, daß, statt jenen „Volksaberglauben" mit allen Kräften, wie es die Pflicht
der Wissenschaft ist, zu bekämpfen, seit Jahren immer mehr der Sozialdemokratie
die Rolle eines schätzenswerten, verdienstvollen, unentbehrlichen Bundesgenossen
eingeräumt wird, ihre „guten" Seiten gepriesen, ihre Fehler beschönigt werden,
wie das solchen Bundesgenossen gegenüber üblich ist, und mau sich so an der
tiefen Korruption unsrer Arbeitermassen in unverantwortlicher Weise mitschuldig
macht. Und was diese berufsmäßigen Forscher nicht unmittelbar verderben,
das verderben sie mittelbar durch die Züchtung eines Heeres unberufner Forscher,
jener sozialpolitischen Modeschriftsteller männlichen und weiblichen Geschlechts,
die in der Schilderung alles möglichen „Elends" die einseitige Mache bis zum
Virtuosentum treiben, ganz unbekümmert um die unausbleiblichen Wirkungen
nach beiden Seiten, auf die „Elenden" wie auf die „Reichen." „Wahrhaftig
— so sagten wir damals wörtlich —, es ist hohe Zeit, daß eine gründliche rechts¬
wissenschaftliche Schulung das Bewußtsein der Verantwortlichkeit in der volks¬
wirtschaftlichen Forschung wieder scharfe und der heillosen Einseitigkeit einen
Damm ziehe, die den gesunden Fortgang der sozialen Reformen schon mehr zu
gefährden anfängt, als ihn der Hochmut des Protzentums und die starre
Orthodoxie des Manchesterleute noch zu gefährden vermag." Gerade auf dem
Gebiete der Konfektiousfrage hat die „weibliche" und die „jugendliche Forschung,"
zum Teil unter der wissenschaftlich schwer zu verantwortenden Gevatterschaft
akademischer Würdenträger, den Sozialdemokraten und ihrem „gemeingefähr¬
lichen" Wesen verhängnisvolle Handlangerdieste geleistet, ganz abgesehen von
der bemitleidenswerten Rolle vieler „politischen Pastoren" schwarzer und roter
Färbung. Nicht freudig genug kann man es deshalb begrüßen, daß dnrch
die Arbeit des statistischen Amts diesem Treiben ein kräftiges Halt zugerufen
worden ist, das freilich gegen den sich mit dem „Fanatismus der Sekten"


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[0144] Die Arbeitsverhältnisse in der Konfektionsindustrie auch noch so wohlmeinender, doch häusig recht eitler und sensationsfreudiger Damen und junger Herren in die ernste Berufsarbeit wissenschaftlich und auch amtlich verantwortlicher reifer Männer übergehe. Wir können auch heute nur nachdrücklich das wiederholen, was wir schon im Juni 1896 in den Grenzboten ausgesprochen haben- Nicht Herr von Stumm, sondern Schäffle schrieb 1890: „Nicht weil der Sozialdemokratismus ein überlegnes Gesellschafts¬ system vertritt, dem das Bestehende und Werdende in der Diskussion nicht Stand zu halten vermöchte, ist er gemeingefährlich; sondern darum ist er es, weil er, wissenschaftlich unhaltbar und praktisch undurchführbar, lediglich die radikalste Negation alles Bestehenden und der Grundgesetze geschichtlichen Werdens bildet und dennoch mit jenem Fanatismus der Sekten, der der Widerlegung aus¬ weicht, als Volksaberglaube sich ausbreitet und das Proletariat für den radi¬ kalen Umsturz gewinnt, sammelt und organisirt." Prüft man von diesem Standpunkt aus das Verhalten so mancher volkswirtschaftlichen Forscher neuester Schule in Deutschland gegenüber der Sozialdemokratie, so wird man finden, daß, statt jenen „Volksaberglauben" mit allen Kräften, wie es die Pflicht der Wissenschaft ist, zu bekämpfen, seit Jahren immer mehr der Sozialdemokratie die Rolle eines schätzenswerten, verdienstvollen, unentbehrlichen Bundesgenossen eingeräumt wird, ihre „guten" Seiten gepriesen, ihre Fehler beschönigt werden, wie das solchen Bundesgenossen gegenüber üblich ist, und mau sich so an der tiefen Korruption unsrer Arbeitermassen in unverantwortlicher Weise mitschuldig macht. Und was diese berufsmäßigen Forscher nicht unmittelbar verderben, das verderben sie mittelbar durch die Züchtung eines Heeres unberufner Forscher, jener sozialpolitischen Modeschriftsteller männlichen und weiblichen Geschlechts, die in der Schilderung alles möglichen „Elends" die einseitige Mache bis zum Virtuosentum treiben, ganz unbekümmert um die unausbleiblichen Wirkungen nach beiden Seiten, auf die „Elenden" wie auf die „Reichen." „Wahrhaftig — so sagten wir damals wörtlich —, es ist hohe Zeit, daß eine gründliche rechts¬ wissenschaftliche Schulung das Bewußtsein der Verantwortlichkeit in der volks¬ wirtschaftlichen Forschung wieder scharfe und der heillosen Einseitigkeit einen Damm ziehe, die den gesunden Fortgang der sozialen Reformen schon mehr zu gefährden anfängt, als ihn der Hochmut des Protzentums und die starre Orthodoxie des Manchesterleute noch zu gefährden vermag." Gerade auf dem Gebiete der Konfektiousfrage hat die „weibliche" und die „jugendliche Forschung," zum Teil unter der wissenschaftlich schwer zu verantwortenden Gevatterschaft akademischer Würdenträger, den Sozialdemokraten und ihrem „gemeingefähr¬ lichen" Wesen verhängnisvolle Handlangerdieste geleistet, ganz abgesehen von der bemitleidenswerten Rolle vieler „politischen Pastoren" schwarzer und roter Färbung. Nicht freudig genug kann man es deshalb begrüßen, daß dnrch die Arbeit des statistischen Amts diesem Treiben ein kräftiges Halt zugerufen worden ist, das freilich gegen den sich mit dem „Fanatismus der Sekten"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/144>, abgerufen am 15.06.2024.