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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die Pflicht der Einzelnen

stimmen kann, die Pflichterfüllung des Einzelnen gegen den Einzelnen, die
Liebe vom Nächsten zum Nächsten. Ob Jude oder Antisemit, ob kirchlich
positiv oder liberal, ob konservativ oder freisinnig, ob Manchestermann oder
Sozialist, bei allen Parteien ist in diesem Punkte die Lehre der alten Schule,
jene grundsätzliche Lieblosigkeit so ziemlich noch in alter Kraft und Herrschaft.
Sollte da nicht die Bitte an die ehrsame Zunft der Nntionalökonomen und
Sozialpolitiker, Meister und Gesellen, Professoren und Doktoren, gerechtfertigt
sein, sie möchten der Pflichterfüllung des Einzelnen etwas mehr Beachtung
schenken, wenigstens in der Lehre? Sie könnten heute viel damit nützen, ist
doch die Zahl der Lehrlinge und Lehrmädchen, die dieser ehrsamen Zunft all¬
jährlich in Deutschland zugehen, ganz gewaltig.

Freilich haben wir in Deutschland noch andre Körperschaften, die be¬
rufen sind zur Lösung der großen Aufgabe, eine gewaltige an sachlichen und
persönlichen Kräften reich ausgestattete Macht vor allem: die Religionsgesell-
schaften, die Kirche. Die Stellung der Geistlichkeit zur sozialen Frage ist in
neuester Zeit reichlich besprochen worden, ob aber geklärt und gefördert, ist mir
zweifelhaft. Ich kaun theologische Erörterungen nicht bieten, aber ich kann
offen heraussagen, was ich an der Stellung mancher Theologen zur Sache
nicht verstehe. Das ist in erster Linie der Standpunkt, daß Religion und
Kirche unmittelbar gar nichts zu thun habe mit der sozialen Pflicht des Ein¬
zelnen, daß das religiöse und das sittliche Leben zwei getrennte Gebiete seien,
wie nach der Manchesterlehre das sittliche und das wirtschaftliche Leben ge¬
trennte Gebiete sein sollten. Das Volk glaubt, weiß, will es anders, und es
versteht diese theologische Weisheit so wenig wie ich. Gerade die protestan¬
tischen Theologen und unter ihnen wieder besonders die liberalen haben in
diesem Sinne viel behauptet und viel gesündigt. Wenn sie mit ihren Konse¬
quenzen gegen sich selbst und andre offen waren, dann erklärten sie Religion
und Kirche in der Gegenwart einfach für bankerott, und sie durften sich nicht
wundern, wenn das Volk sie im Stiche ließ. Die "politischen Pastoren"
fangen die Sache neuerdings zum Teil anders an, meist nicht bester. Mit der
Pflicht des Einzelnen geben sie sich anch nicht ab, oder doch nur in grund¬
sätzlicher Einseitigkeit mit der Pflicht der Besitzenden, der Unternehmer, während
sie bei den Nichtbesitzenden, den Arbeitern, Haß, Ungerechtigkeit und Lüge
zuerst "erklären," dann beschönigen und rechtfertigen, endlich aber oft genug
nähren und schüren. Die antisemitische Spielart, älterer Richtung, hat darin
verhängnisvoll Schule gemacht. Die Herren müssen aber doch pädagogisch
genug geschult sein, um diesen Erfolg ihres Treibens würdigen zu können.
Daneben haben sie nur mit den Pflichten der Gesellschaft, des Staats und
auch nur gegen die Arbeiter zu thun. Wie soll wohl da die Korruption des
Manchestertums wieder herausgebracht werden aus den Leuten? Ganz besonders
unverzeihlich scheint mir diese Einseitigkeit, weil sie namentlich mit den


Die Pflicht der Einzelnen

stimmen kann, die Pflichterfüllung des Einzelnen gegen den Einzelnen, die
Liebe vom Nächsten zum Nächsten. Ob Jude oder Antisemit, ob kirchlich
positiv oder liberal, ob konservativ oder freisinnig, ob Manchestermann oder
Sozialist, bei allen Parteien ist in diesem Punkte die Lehre der alten Schule,
jene grundsätzliche Lieblosigkeit so ziemlich noch in alter Kraft und Herrschaft.
Sollte da nicht die Bitte an die ehrsame Zunft der Nntionalökonomen und
Sozialpolitiker, Meister und Gesellen, Professoren und Doktoren, gerechtfertigt
sein, sie möchten der Pflichterfüllung des Einzelnen etwas mehr Beachtung
schenken, wenigstens in der Lehre? Sie könnten heute viel damit nützen, ist
doch die Zahl der Lehrlinge und Lehrmädchen, die dieser ehrsamen Zunft all¬
jährlich in Deutschland zugehen, ganz gewaltig.

Freilich haben wir in Deutschland noch andre Körperschaften, die be¬
rufen sind zur Lösung der großen Aufgabe, eine gewaltige an sachlichen und
persönlichen Kräften reich ausgestattete Macht vor allem: die Religionsgesell-
schaften, die Kirche. Die Stellung der Geistlichkeit zur sozialen Frage ist in
neuester Zeit reichlich besprochen worden, ob aber geklärt und gefördert, ist mir
zweifelhaft. Ich kaun theologische Erörterungen nicht bieten, aber ich kann
offen heraussagen, was ich an der Stellung mancher Theologen zur Sache
nicht verstehe. Das ist in erster Linie der Standpunkt, daß Religion und
Kirche unmittelbar gar nichts zu thun habe mit der sozialen Pflicht des Ein¬
zelnen, daß das religiöse und das sittliche Leben zwei getrennte Gebiete seien,
wie nach der Manchesterlehre das sittliche und das wirtschaftliche Leben ge¬
trennte Gebiete sein sollten. Das Volk glaubt, weiß, will es anders, und es
versteht diese theologische Weisheit so wenig wie ich. Gerade die protestan¬
tischen Theologen und unter ihnen wieder besonders die liberalen haben in
diesem Sinne viel behauptet und viel gesündigt. Wenn sie mit ihren Konse¬
quenzen gegen sich selbst und andre offen waren, dann erklärten sie Religion
und Kirche in der Gegenwart einfach für bankerott, und sie durften sich nicht
wundern, wenn das Volk sie im Stiche ließ. Die „politischen Pastoren"
fangen die Sache neuerdings zum Teil anders an, meist nicht bester. Mit der
Pflicht des Einzelnen geben sie sich anch nicht ab, oder doch nur in grund¬
sätzlicher Einseitigkeit mit der Pflicht der Besitzenden, der Unternehmer, während
sie bei den Nichtbesitzenden, den Arbeitern, Haß, Ungerechtigkeit und Lüge
zuerst „erklären," dann beschönigen und rechtfertigen, endlich aber oft genug
nähren und schüren. Die antisemitische Spielart, älterer Richtung, hat darin
verhängnisvoll Schule gemacht. Die Herren müssen aber doch pädagogisch
genug geschult sein, um diesen Erfolg ihres Treibens würdigen zu können.
Daneben haben sie nur mit den Pflichten der Gesellschaft, des Staats und
auch nur gegen die Arbeiter zu thun. Wie soll wohl da die Korruption des
Manchestertums wieder herausgebracht werden aus den Leuten? Ganz besonders
unverzeihlich scheint mir diese Einseitigkeit, weil sie namentlich mit den


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[0197] Die Pflicht der Einzelnen stimmen kann, die Pflichterfüllung des Einzelnen gegen den Einzelnen, die Liebe vom Nächsten zum Nächsten. Ob Jude oder Antisemit, ob kirchlich positiv oder liberal, ob konservativ oder freisinnig, ob Manchestermann oder Sozialist, bei allen Parteien ist in diesem Punkte die Lehre der alten Schule, jene grundsätzliche Lieblosigkeit so ziemlich noch in alter Kraft und Herrschaft. Sollte da nicht die Bitte an die ehrsame Zunft der Nntionalökonomen und Sozialpolitiker, Meister und Gesellen, Professoren und Doktoren, gerechtfertigt sein, sie möchten der Pflichterfüllung des Einzelnen etwas mehr Beachtung schenken, wenigstens in der Lehre? Sie könnten heute viel damit nützen, ist doch die Zahl der Lehrlinge und Lehrmädchen, die dieser ehrsamen Zunft all¬ jährlich in Deutschland zugehen, ganz gewaltig. Freilich haben wir in Deutschland noch andre Körperschaften, die be¬ rufen sind zur Lösung der großen Aufgabe, eine gewaltige an sachlichen und persönlichen Kräften reich ausgestattete Macht vor allem: die Religionsgesell- schaften, die Kirche. Die Stellung der Geistlichkeit zur sozialen Frage ist in neuester Zeit reichlich besprochen worden, ob aber geklärt und gefördert, ist mir zweifelhaft. Ich kaun theologische Erörterungen nicht bieten, aber ich kann offen heraussagen, was ich an der Stellung mancher Theologen zur Sache nicht verstehe. Das ist in erster Linie der Standpunkt, daß Religion und Kirche unmittelbar gar nichts zu thun habe mit der sozialen Pflicht des Ein¬ zelnen, daß das religiöse und das sittliche Leben zwei getrennte Gebiete seien, wie nach der Manchesterlehre das sittliche und das wirtschaftliche Leben ge¬ trennte Gebiete sein sollten. Das Volk glaubt, weiß, will es anders, und es versteht diese theologische Weisheit so wenig wie ich. Gerade die protestan¬ tischen Theologen und unter ihnen wieder besonders die liberalen haben in diesem Sinne viel behauptet und viel gesündigt. Wenn sie mit ihren Konse¬ quenzen gegen sich selbst und andre offen waren, dann erklärten sie Religion und Kirche in der Gegenwart einfach für bankerott, und sie durften sich nicht wundern, wenn das Volk sie im Stiche ließ. Die „politischen Pastoren" fangen die Sache neuerdings zum Teil anders an, meist nicht bester. Mit der Pflicht des Einzelnen geben sie sich anch nicht ab, oder doch nur in grund¬ sätzlicher Einseitigkeit mit der Pflicht der Besitzenden, der Unternehmer, während sie bei den Nichtbesitzenden, den Arbeitern, Haß, Ungerechtigkeit und Lüge zuerst „erklären," dann beschönigen und rechtfertigen, endlich aber oft genug nähren und schüren. Die antisemitische Spielart, älterer Richtung, hat darin verhängnisvoll Schule gemacht. Die Herren müssen aber doch pädagogisch genug geschult sein, um diesen Erfolg ihres Treibens würdigen zu können. Daneben haben sie nur mit den Pflichten der Gesellschaft, des Staats und auch nur gegen die Arbeiter zu thun. Wie soll wohl da die Korruption des Manchestertums wieder herausgebracht werden aus den Leuten? Ganz besonders unverzeihlich scheint mir diese Einseitigkeit, weil sie namentlich mit den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/197>, abgerufen am 14.06.2024.