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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die Pflicht der Einzelnen

heute noch unmündigen Teilen des Volks ihr Spiel treibt. Auf der andern
Seite füllt die Stellung der katholischen Kirche und ihre Sozialpolitik
günstig aus. Fast nirgends finde ich so viel Vernünftiges in Bezug auf die
soziale Aufgabe, von der hier die Rede ist, als in den Arbeiten Perus,
Le Plays, auch Ratzingcrs. Aber wie ein Alp lastet hier auf dem Ganzen der
Bann ultramontaner Strenggläubigkeit und Unduldsamkeit und der Papst in
Rom mit seiner verhängnisvollen Macht über das soziale Wirken des vor¬
nehmsten Pönitentiars in der Hauptstadt wie des letzten Dorfpriesters in der
Schnee-Eifel und bei den Wasserpolen. Es liegt mir fern, den Glauben
irgendwelcher Religionsgesellschaft antasten zu wollen oder das, was andern
heilig ist, herabzuziehen. Ich erkenne hoch an, was die Kirche mit ihren
positiven Bekenntnissen für die Kultur auch des deutschen Volkes geleistet hat.
Aber klar ist es doch, daß die deutsche Nation, und nicht in ihren schlechtesten
Teilen, heute den Glaubenssätzen anders gegenüber stehen muß als vor vier-,
fünfhundert Jahren. Es ist verständlich, daß die Auseinandersetzung der Kirche
mit dieser Thatsache eine lange, Menschenalter dauernde Arbeit erfordert, aber
der Streit um die Dogmen und Glaubensbekenntnisse muß doch weit zurück¬
treten, wenn es so dringend wie heute gilt, der Quintessenz des Evangeliums
Christi, dem christlich-sozialen Grundsatz der Nächstenliebe, wieder zum Siege zu
verhelfen über die grundsätzliche Lieblosigkeit. Wehe dem, der dem Schwachen
den Halt raubt, den er im Wunderglauben findet, aber doppelt wehe den
Starrköpfen, die Religion und Kirche denen verleiden und absprechen, die sich
als ehrliche Menschen zu diesem Wunderglauben nicht bekennen dürfen. Ein
Ärgernis ist so schwer wie das andre. Das Oiligitk alter utrum in dem freilich
apokryphen Testament des Apostel Johannes mit seiner Begründung: Huia
xi'g."zosxtam clomiin ost, se si solum etat, suküczit, -- zeigt nach meinem Laien-
verstündnis der Geistlichkeit von heute klar und unzweideutig den Weg, den
sie einmütig gehen kann und gehen muß, um der heiligsten Pflicht ihres Amts,
der vornehmsten Aufgabe der Kirche zu genügen.

Es würde nur den Modegepflogenheiten der Zeit entsprechen, wenn man
mir unterschöbe, ich wolle die Pflicht der Einzelnen allein gelten lassen,
von den Pflichten der Gesellschaft, von den staatlichen Sozialreformen aber
nichts wissen. Ganz gewaltige Aufgaben, meine ich, harren noch der staatlichen
Lösung auf sozialem Gebiete, im Lande und draußen. An allen Ecken und
Enden noch läßt die Gesetzgebung und die Verwaltung das "praktische Christen¬
tum," die Nächstenliebe vermissen, und der Schutz der Schwachen stellt fort¬
laufend neue, gerechtfertigte Ansprüche. Vor allem, was oft vergessen wird,
sorge der Staat dafür, daß es seine Beamten, oben und unten, an der persön¬
lichen Nächstenliebe nicht fehlen lassen. Die Amtspflicht kann nie Lieblosigkeit
verlangen, auch da nicht, wo strenge Gerechtigkeit am Platze und scharfe Dis¬
ziplin unerläßlich ist. Wenn einige schneidige Herren in der Justiz, in der


Die Pflicht der Einzelnen

heute noch unmündigen Teilen des Volks ihr Spiel treibt. Auf der andern
Seite füllt die Stellung der katholischen Kirche und ihre Sozialpolitik
günstig aus. Fast nirgends finde ich so viel Vernünftiges in Bezug auf die
soziale Aufgabe, von der hier die Rede ist, als in den Arbeiten Perus,
Le Plays, auch Ratzingcrs. Aber wie ein Alp lastet hier auf dem Ganzen der
Bann ultramontaner Strenggläubigkeit und Unduldsamkeit und der Papst in
Rom mit seiner verhängnisvollen Macht über das soziale Wirken des vor¬
nehmsten Pönitentiars in der Hauptstadt wie des letzten Dorfpriesters in der
Schnee-Eifel und bei den Wasserpolen. Es liegt mir fern, den Glauben
irgendwelcher Religionsgesellschaft antasten zu wollen oder das, was andern
heilig ist, herabzuziehen. Ich erkenne hoch an, was die Kirche mit ihren
positiven Bekenntnissen für die Kultur auch des deutschen Volkes geleistet hat.
Aber klar ist es doch, daß die deutsche Nation, und nicht in ihren schlechtesten
Teilen, heute den Glaubenssätzen anders gegenüber stehen muß als vor vier-,
fünfhundert Jahren. Es ist verständlich, daß die Auseinandersetzung der Kirche
mit dieser Thatsache eine lange, Menschenalter dauernde Arbeit erfordert, aber
der Streit um die Dogmen und Glaubensbekenntnisse muß doch weit zurück¬
treten, wenn es so dringend wie heute gilt, der Quintessenz des Evangeliums
Christi, dem christlich-sozialen Grundsatz der Nächstenliebe, wieder zum Siege zu
verhelfen über die grundsätzliche Lieblosigkeit. Wehe dem, der dem Schwachen
den Halt raubt, den er im Wunderglauben findet, aber doppelt wehe den
Starrköpfen, die Religion und Kirche denen verleiden und absprechen, die sich
als ehrliche Menschen zu diesem Wunderglauben nicht bekennen dürfen. Ein
Ärgernis ist so schwer wie das andre. Das Oiligitk alter utrum in dem freilich
apokryphen Testament des Apostel Johannes mit seiner Begründung: Huia
xi'g.«zosxtam clomiin ost, se si solum etat, suküczit, — zeigt nach meinem Laien-
verstündnis der Geistlichkeit von heute klar und unzweideutig den Weg, den
sie einmütig gehen kann und gehen muß, um der heiligsten Pflicht ihres Amts,
der vornehmsten Aufgabe der Kirche zu genügen.

Es würde nur den Modegepflogenheiten der Zeit entsprechen, wenn man
mir unterschöbe, ich wolle die Pflicht der Einzelnen allein gelten lassen,
von den Pflichten der Gesellschaft, von den staatlichen Sozialreformen aber
nichts wissen. Ganz gewaltige Aufgaben, meine ich, harren noch der staatlichen
Lösung auf sozialem Gebiete, im Lande und draußen. An allen Ecken und
Enden noch läßt die Gesetzgebung und die Verwaltung das „praktische Christen¬
tum," die Nächstenliebe vermissen, und der Schutz der Schwachen stellt fort¬
laufend neue, gerechtfertigte Ansprüche. Vor allem, was oft vergessen wird,
sorge der Staat dafür, daß es seine Beamten, oben und unten, an der persön¬
lichen Nächstenliebe nicht fehlen lassen. Die Amtspflicht kann nie Lieblosigkeit
verlangen, auch da nicht, wo strenge Gerechtigkeit am Platze und scharfe Dis¬
ziplin unerläßlich ist. Wenn einige schneidige Herren in der Justiz, in der


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[0198] Die Pflicht der Einzelnen heute noch unmündigen Teilen des Volks ihr Spiel treibt. Auf der andern Seite füllt die Stellung der katholischen Kirche und ihre Sozialpolitik günstig aus. Fast nirgends finde ich so viel Vernünftiges in Bezug auf die soziale Aufgabe, von der hier die Rede ist, als in den Arbeiten Perus, Le Plays, auch Ratzingcrs. Aber wie ein Alp lastet hier auf dem Ganzen der Bann ultramontaner Strenggläubigkeit und Unduldsamkeit und der Papst in Rom mit seiner verhängnisvollen Macht über das soziale Wirken des vor¬ nehmsten Pönitentiars in der Hauptstadt wie des letzten Dorfpriesters in der Schnee-Eifel und bei den Wasserpolen. Es liegt mir fern, den Glauben irgendwelcher Religionsgesellschaft antasten zu wollen oder das, was andern heilig ist, herabzuziehen. Ich erkenne hoch an, was die Kirche mit ihren positiven Bekenntnissen für die Kultur auch des deutschen Volkes geleistet hat. Aber klar ist es doch, daß die deutsche Nation, und nicht in ihren schlechtesten Teilen, heute den Glaubenssätzen anders gegenüber stehen muß als vor vier-, fünfhundert Jahren. Es ist verständlich, daß die Auseinandersetzung der Kirche mit dieser Thatsache eine lange, Menschenalter dauernde Arbeit erfordert, aber der Streit um die Dogmen und Glaubensbekenntnisse muß doch weit zurück¬ treten, wenn es so dringend wie heute gilt, der Quintessenz des Evangeliums Christi, dem christlich-sozialen Grundsatz der Nächstenliebe, wieder zum Siege zu verhelfen über die grundsätzliche Lieblosigkeit. Wehe dem, der dem Schwachen den Halt raubt, den er im Wunderglauben findet, aber doppelt wehe den Starrköpfen, die Religion und Kirche denen verleiden und absprechen, die sich als ehrliche Menschen zu diesem Wunderglauben nicht bekennen dürfen. Ein Ärgernis ist so schwer wie das andre. Das Oiligitk alter utrum in dem freilich apokryphen Testament des Apostel Johannes mit seiner Begründung: Huia xi'g.«zosxtam clomiin ost, se si solum etat, suküczit, — zeigt nach meinem Laien- verstündnis der Geistlichkeit von heute klar und unzweideutig den Weg, den sie einmütig gehen kann und gehen muß, um der heiligsten Pflicht ihres Amts, der vornehmsten Aufgabe der Kirche zu genügen. Es würde nur den Modegepflogenheiten der Zeit entsprechen, wenn man mir unterschöbe, ich wolle die Pflicht der Einzelnen allein gelten lassen, von den Pflichten der Gesellschaft, von den staatlichen Sozialreformen aber nichts wissen. Ganz gewaltige Aufgaben, meine ich, harren noch der staatlichen Lösung auf sozialem Gebiete, im Lande und draußen. An allen Ecken und Enden noch läßt die Gesetzgebung und die Verwaltung das „praktische Christen¬ tum," die Nächstenliebe vermissen, und der Schutz der Schwachen stellt fort¬ laufend neue, gerechtfertigte Ansprüche. Vor allem, was oft vergessen wird, sorge der Staat dafür, daß es seine Beamten, oben und unten, an der persön¬ lichen Nächstenliebe nicht fehlen lassen. Die Amtspflicht kann nie Lieblosigkeit verlangen, auch da nicht, wo strenge Gerechtigkeit am Platze und scharfe Dis¬ ziplin unerläßlich ist. Wenn einige schneidige Herren in der Justiz, in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/198>, abgerufen am 22.05.2024.