Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Antiker und moderner Militarismus

einig mit den besten Aussichten der Zukunft entgegenzugehen, oder vereinzelt
den gemeinsamen Gegnern zu erliegen. Wird man aus der Geschichte gelernt
haben? Im Osten steht das Wetter am Himmel, alle Welt wartet auf die
erste Entladung.

Mag mau nun aber in dieser Beziehung auch keine Besorgnisse hegen,
niemand wird von den erwarteten Auseinandersetzungen eine rasche allgemeine
Beruhigung erwarten dürfen. Nur wenn es gelänge, alle großen Interessen-
konflikte zu lösen, oder wenn einer der Beteiligten dauernd ans die Wahr¬
nehmung seiner Interessen verzichten wollte, dann wäre der Zeitpunkt ge¬
kommen, wo wir an "abrüsten" denken könnten. Vorläufig können wir diese
Zukunft nicht absehen, und uoch auf lange hin wird jedem deutschen Bluts¬
tropfen etwas von dem Eisen des Krieges beigemischt sein müssen. Der ver¬
storbne Feldmarschall Moltke hat im Reichstage ausgesprochen: "Was wir in
fünf Monaten mit den Waffen gewonnen haben, das werden wir fünfzig Jahre
lang mit den Waffen schützen müssen."

Ein sonderbarer Irrtum -- sogar in Deutschland -- hat gemeint, wir
würden seit 1870 im schönsten Frieden mit Frankreich gelebt haben, wenn wir
nicht den "Fehler" der Annexion von Elsaß und Lothringen gemacht hätten.
Aber Frankreich beklagt vielmehr den Verlust an xrsstig'o und Zloirs als Elsaß,
und wir büßen dafür, daß uns unsre Verbündeten und Metternich 1815 an
der Rücknahme gehindert haben. Die Revanche, für Waterloo um den Preußen,
die sich erlaubt hatten, die französische Nation zu besiegen, hat sehr lange ge¬
spukt, ihr entsprangen die Revolution von 1830, die Kriegsdrohungen von 1840
und die Wiederherstellung des Kaiserreichs, bis sich nach einem halben Jahr¬
hundert der alte Herzenswunsch des französischen Volks 1870 entlud. Die
preußischen Staatsmänner haben 1815 einstimmig vorausgesagt, daß unsre
offen gebliebne Südwestgrenze eine neue Einmischung Frankreichs in die
deutschen Verhältnisse zur Folge haben müsse, und der württembergische
Thronfolger hat offen anerkannt, daß der mangelnde Schutz die größte
Versuchung für die süddeutschen Regierungen zu französischen Neigungen sei.
Kein vernünftiger Mensch wird einsehen, warum unter allen Grenzen allein
die französischen unantastbar sein sollen, während Frankreich ohne weiteres
alle angetastet hat. Im Gegenteil, wenn etwas Frankreich den Entschluß
zu einem neuen Kriege zu erleichtern geeignet war, so wäre es die Über¬
zeugung gewesen, daß Frankreich auch die ruchloseste Herausforderung mit
einer Geldstrafe abmachen könne, die Sicherheit seines Gebiets ungefährdet
bleiben müsse, und es in ein paar Jahren in gleicher Macht wieder dastehen
würde. Selbst einer der größten Franzosenfreunde, der englische Gesandte
Castlereagh hat 1815 erklärt: "Fortgesetzte Ausschreitungen Frankreichs können
in künftigen Tagen Europa zur Zerstückelung Frankreichs nötigen."

Wie sich gezeigt hat, hat der europäische Friede durch den Krieg von 1870


Antiker und moderner Militarismus

einig mit den besten Aussichten der Zukunft entgegenzugehen, oder vereinzelt
den gemeinsamen Gegnern zu erliegen. Wird man aus der Geschichte gelernt
haben? Im Osten steht das Wetter am Himmel, alle Welt wartet auf die
erste Entladung.

Mag mau nun aber in dieser Beziehung auch keine Besorgnisse hegen,
niemand wird von den erwarteten Auseinandersetzungen eine rasche allgemeine
Beruhigung erwarten dürfen. Nur wenn es gelänge, alle großen Interessen-
konflikte zu lösen, oder wenn einer der Beteiligten dauernd ans die Wahr¬
nehmung seiner Interessen verzichten wollte, dann wäre der Zeitpunkt ge¬
kommen, wo wir an „abrüsten" denken könnten. Vorläufig können wir diese
Zukunft nicht absehen, und uoch auf lange hin wird jedem deutschen Bluts¬
tropfen etwas von dem Eisen des Krieges beigemischt sein müssen. Der ver¬
storbne Feldmarschall Moltke hat im Reichstage ausgesprochen: „Was wir in
fünf Monaten mit den Waffen gewonnen haben, das werden wir fünfzig Jahre
lang mit den Waffen schützen müssen."

Ein sonderbarer Irrtum — sogar in Deutschland — hat gemeint, wir
würden seit 1870 im schönsten Frieden mit Frankreich gelebt haben, wenn wir
nicht den „Fehler" der Annexion von Elsaß und Lothringen gemacht hätten.
Aber Frankreich beklagt vielmehr den Verlust an xrsstig'o und Zloirs als Elsaß,
und wir büßen dafür, daß uns unsre Verbündeten und Metternich 1815 an
der Rücknahme gehindert haben. Die Revanche, für Waterloo um den Preußen,
die sich erlaubt hatten, die französische Nation zu besiegen, hat sehr lange ge¬
spukt, ihr entsprangen die Revolution von 1830, die Kriegsdrohungen von 1840
und die Wiederherstellung des Kaiserreichs, bis sich nach einem halben Jahr¬
hundert der alte Herzenswunsch des französischen Volks 1870 entlud. Die
preußischen Staatsmänner haben 1815 einstimmig vorausgesagt, daß unsre
offen gebliebne Südwestgrenze eine neue Einmischung Frankreichs in die
deutschen Verhältnisse zur Folge haben müsse, und der württembergische
Thronfolger hat offen anerkannt, daß der mangelnde Schutz die größte
Versuchung für die süddeutschen Regierungen zu französischen Neigungen sei.
Kein vernünftiger Mensch wird einsehen, warum unter allen Grenzen allein
die französischen unantastbar sein sollen, während Frankreich ohne weiteres
alle angetastet hat. Im Gegenteil, wenn etwas Frankreich den Entschluß
zu einem neuen Kriege zu erleichtern geeignet war, so wäre es die Über¬
zeugung gewesen, daß Frankreich auch die ruchloseste Herausforderung mit
einer Geldstrafe abmachen könne, die Sicherheit seines Gebiets ungefährdet
bleiben müsse, und es in ein paar Jahren in gleicher Macht wieder dastehen
würde. Selbst einer der größten Franzosenfreunde, der englische Gesandte
Castlereagh hat 1815 erklärt: „Fortgesetzte Ausschreitungen Frankreichs können
in künftigen Tagen Europa zur Zerstückelung Frankreichs nötigen."

Wie sich gezeigt hat, hat der europäische Friede durch den Krieg von 1870


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0335" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224582"/>
          <fw type="header" place="top"> Antiker und moderner Militarismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_996" prev="#ID_995"> einig mit den besten Aussichten der Zukunft entgegenzugehen, oder vereinzelt<lb/>
den gemeinsamen Gegnern zu erliegen. Wird man aus der Geschichte gelernt<lb/>
haben? Im Osten steht das Wetter am Himmel, alle Welt wartet auf die<lb/>
erste Entladung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_997"> Mag mau nun aber in dieser Beziehung auch keine Besorgnisse hegen,<lb/>
niemand wird von den erwarteten Auseinandersetzungen eine rasche allgemeine<lb/>
Beruhigung erwarten dürfen. Nur wenn es gelänge, alle großen Interessen-<lb/>
konflikte zu lösen, oder wenn einer der Beteiligten dauernd ans die Wahr¬<lb/>
nehmung seiner Interessen verzichten wollte, dann wäre der Zeitpunkt ge¬<lb/>
kommen, wo wir an &#x201E;abrüsten" denken könnten. Vorläufig können wir diese<lb/>
Zukunft nicht absehen, und uoch auf lange hin wird jedem deutschen Bluts¬<lb/>
tropfen etwas von dem Eisen des Krieges beigemischt sein müssen. Der ver¬<lb/>
storbne Feldmarschall Moltke hat im Reichstage ausgesprochen: &#x201E;Was wir in<lb/>
fünf Monaten mit den Waffen gewonnen haben, das werden wir fünfzig Jahre<lb/>
lang mit den Waffen schützen müssen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_998"> Ein sonderbarer Irrtum &#x2014; sogar in Deutschland &#x2014; hat gemeint, wir<lb/>
würden seit 1870 im schönsten Frieden mit Frankreich gelebt haben, wenn wir<lb/>
nicht den &#x201E;Fehler" der Annexion von Elsaß und Lothringen gemacht hätten.<lb/>
Aber Frankreich beklagt vielmehr den Verlust an xrsstig'o und Zloirs als Elsaß,<lb/>
und wir büßen dafür, daß uns unsre Verbündeten und Metternich 1815 an<lb/>
der Rücknahme gehindert haben. Die Revanche, für Waterloo um den Preußen,<lb/>
die sich erlaubt hatten, die französische Nation zu besiegen, hat sehr lange ge¬<lb/>
spukt, ihr entsprangen die Revolution von 1830, die Kriegsdrohungen von 1840<lb/>
und die Wiederherstellung des Kaiserreichs, bis sich nach einem halben Jahr¬<lb/>
hundert der alte Herzenswunsch des französischen Volks 1870 entlud. Die<lb/>
preußischen Staatsmänner haben 1815 einstimmig vorausgesagt, daß unsre<lb/>
offen gebliebne Südwestgrenze eine neue Einmischung Frankreichs in die<lb/>
deutschen Verhältnisse zur Folge haben müsse, und der württembergische<lb/>
Thronfolger hat offen anerkannt, daß der mangelnde Schutz die größte<lb/>
Versuchung für die süddeutschen Regierungen zu französischen Neigungen sei.<lb/>
Kein vernünftiger Mensch wird einsehen, warum unter allen Grenzen allein<lb/>
die französischen unantastbar sein sollen, während Frankreich ohne weiteres<lb/>
alle angetastet hat. Im Gegenteil, wenn etwas Frankreich den Entschluß<lb/>
zu einem neuen Kriege zu erleichtern geeignet war, so wäre es die Über¬<lb/>
zeugung gewesen, daß Frankreich auch die ruchloseste Herausforderung mit<lb/>
einer Geldstrafe abmachen könne, die Sicherheit seines Gebiets ungefährdet<lb/>
bleiben müsse, und es in ein paar Jahren in gleicher Macht wieder dastehen<lb/>
würde. Selbst einer der größten Franzosenfreunde, der englische Gesandte<lb/>
Castlereagh hat 1815 erklärt: &#x201E;Fortgesetzte Ausschreitungen Frankreichs können<lb/>
in künftigen Tagen Europa zur Zerstückelung Frankreichs nötigen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_999" next="#ID_1000"> Wie sich gezeigt hat, hat der europäische Friede durch den Krieg von 1870</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0335] Antiker und moderner Militarismus einig mit den besten Aussichten der Zukunft entgegenzugehen, oder vereinzelt den gemeinsamen Gegnern zu erliegen. Wird man aus der Geschichte gelernt haben? Im Osten steht das Wetter am Himmel, alle Welt wartet auf die erste Entladung. Mag mau nun aber in dieser Beziehung auch keine Besorgnisse hegen, niemand wird von den erwarteten Auseinandersetzungen eine rasche allgemeine Beruhigung erwarten dürfen. Nur wenn es gelänge, alle großen Interessen- konflikte zu lösen, oder wenn einer der Beteiligten dauernd ans die Wahr¬ nehmung seiner Interessen verzichten wollte, dann wäre der Zeitpunkt ge¬ kommen, wo wir an „abrüsten" denken könnten. Vorläufig können wir diese Zukunft nicht absehen, und uoch auf lange hin wird jedem deutschen Bluts¬ tropfen etwas von dem Eisen des Krieges beigemischt sein müssen. Der ver¬ storbne Feldmarschall Moltke hat im Reichstage ausgesprochen: „Was wir in fünf Monaten mit den Waffen gewonnen haben, das werden wir fünfzig Jahre lang mit den Waffen schützen müssen." Ein sonderbarer Irrtum — sogar in Deutschland — hat gemeint, wir würden seit 1870 im schönsten Frieden mit Frankreich gelebt haben, wenn wir nicht den „Fehler" der Annexion von Elsaß und Lothringen gemacht hätten. Aber Frankreich beklagt vielmehr den Verlust an xrsstig'o und Zloirs als Elsaß, und wir büßen dafür, daß uns unsre Verbündeten und Metternich 1815 an der Rücknahme gehindert haben. Die Revanche, für Waterloo um den Preußen, die sich erlaubt hatten, die französische Nation zu besiegen, hat sehr lange ge¬ spukt, ihr entsprangen die Revolution von 1830, die Kriegsdrohungen von 1840 und die Wiederherstellung des Kaiserreichs, bis sich nach einem halben Jahr¬ hundert der alte Herzenswunsch des französischen Volks 1870 entlud. Die preußischen Staatsmänner haben 1815 einstimmig vorausgesagt, daß unsre offen gebliebne Südwestgrenze eine neue Einmischung Frankreichs in die deutschen Verhältnisse zur Folge haben müsse, und der württembergische Thronfolger hat offen anerkannt, daß der mangelnde Schutz die größte Versuchung für die süddeutschen Regierungen zu französischen Neigungen sei. Kein vernünftiger Mensch wird einsehen, warum unter allen Grenzen allein die französischen unantastbar sein sollen, während Frankreich ohne weiteres alle angetastet hat. Im Gegenteil, wenn etwas Frankreich den Entschluß zu einem neuen Kriege zu erleichtern geeignet war, so wäre es die Über¬ zeugung gewesen, daß Frankreich auch die ruchloseste Herausforderung mit einer Geldstrafe abmachen könne, die Sicherheit seines Gebiets ungefährdet bleiben müsse, und es in ein paar Jahren in gleicher Macht wieder dastehen würde. Selbst einer der größten Franzosenfreunde, der englische Gesandte Castlereagh hat 1815 erklärt: „Fortgesetzte Ausschreitungen Frankreichs können in künftigen Tagen Europa zur Zerstückelung Frankreichs nötigen." Wie sich gezeigt hat, hat der europäische Friede durch den Krieg von 1870

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/335
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/335>, abgerufen am 14.06.2024.