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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Diktaturparagraph und das Sozialisteugesetz

(LullötiQ ni(Z8 1.018 Ur. 1511) der Militärbehörde für den Fall des Belage¬
rungszustandes zuweist. Von den erlassenen Verfügungen ist dem Reichs¬
kanzler ohne Verzug Anzeige zu macheu. Zu polizeiliche" Zwecken, insbesondre
auch zur Ausführung der vorbezeichneten Maßnahmen, ist der Oberprnsident
berechtigt, die in Elsaß-Lothringen stehenden Truppen zu requiriren." Seit
dem Gesetz vom 4. Juli 1879 ist an die Stelle des Oberpräsidenten der Statt¬
halter getreten; da dieser aber dem Reichskanzler nicht unterstellt ist, so ist die
Anzeigepflicht weggefallen. Sonst sind die Bestimmungen unverändert geblieben.

Die daraus zu schöpsenden Befugnisse sind umscissend, Gesetze binden den
Statthalter dabei nicht, er kann nicht nur Ausländer, sondern mich Landes-
augehörige und andre Deutsche ausweisen, Verhaftungen anordnen, Zeitungen
verbieten oder fernhalten, Vereine und Versammlungen unterdrücken, er kann
überhaupt alles vornehmen, was er für notwendig hält, um die Gefahr zu
beseitigen und etwaigen Widerstand zu brechen. In den andern deutschen Län¬
dern kommt dergleichen nicht vor, etwas neues und unerhörtes ist aber auch
da die den Einzelanwendnngen zu Grunde liegende Gesamtbefugnis nicht, unsern
Staatsrechtslehrern ist sie unter der Bezeichnung Staatsnotrecht oder M8
LNiinens wohlbekannt. Nicht minder ist sie es in Frankreich, wo die ent¬
sprechenden Anordnungen aelvs as Mnvsrrioinent, oder in<zsnr<Z8 as Juno polios
heißen. Praktisch ist das Staatsnotrecht oft angewendet worden, in den Säku¬
larisationen hat man es sogar bis zu massenhafter Einziehung von Privat¬
eigentum ausgedehnt. Auch zur Zeit der absoluten Monarchie ist das Staats¬
notrecht von den Hoheitsrechten der Gesetzgebung, der Verwaltung und der
Rechtspflege bestimmt unterschieden worden und ist deshalb an sich von den
Verfassungsurkunden unberührt geblieben, die ja nicht das ganze Verfassungs-
recht erschöpfen, sondern sich darauf beschränken, die begrifflich etwas erweiterte
Gesetzgebung an parlamentarische Mitwirkung zu binden und der Handelnden
wie der Nechtsverwaltung Schranken aufzuerlegen oder bestimmte Ziele zuzu¬
weisen. Wer sich für die Frage interessirt, möge beispielsweise die Ausfüh¬
rungen des liberalen Staatsrechtslehrers Robert von Mohl in seiner Ency¬
klopädie (2. Auflage 1872, Z 29 S. 209 und 216) und in seinem Reichsstaats¬
recht (1873, S. 85 ff.) nachlesen.

Also, das Besondre bei uns im Nei"hsland ist nicht, daß ein Staatsnot¬
recht besteht, sondern daß es gesetzlich formulirt worden ist. Wie sich daraus
die eigentümliche Benennung erklärt, so sprachen dafür naheliegende Gründe:
in dem geordneten Leben der andern deutschen Länder konnte man das Staats-
notrecht fvrtschlummern lassen, in dem neuerworbnen Lande mußte man seinen
Inhalt unzweideutig festsetzen und so verkünden, daß er zugleich als Mahnung
und Warnung wirkte. Dazu empfahl sich die Form des Gesetzes. Zu dieser
Form griff man dann auch für das ganze Reich, als die Attentate von Hödel,
von Nobiling und am Niederwald klar machten, wie sich Theorie in Praxis


Der Diktaturparagraph und das Sozialisteugesetz

(LullötiQ ni(Z8 1.018 Ur. 1511) der Militärbehörde für den Fall des Belage¬
rungszustandes zuweist. Von den erlassenen Verfügungen ist dem Reichs¬
kanzler ohne Verzug Anzeige zu macheu. Zu polizeiliche» Zwecken, insbesondre
auch zur Ausführung der vorbezeichneten Maßnahmen, ist der Oberprnsident
berechtigt, die in Elsaß-Lothringen stehenden Truppen zu requiriren." Seit
dem Gesetz vom 4. Juli 1879 ist an die Stelle des Oberpräsidenten der Statt¬
halter getreten; da dieser aber dem Reichskanzler nicht unterstellt ist, so ist die
Anzeigepflicht weggefallen. Sonst sind die Bestimmungen unverändert geblieben.

Die daraus zu schöpsenden Befugnisse sind umscissend, Gesetze binden den
Statthalter dabei nicht, er kann nicht nur Ausländer, sondern mich Landes-
augehörige und andre Deutsche ausweisen, Verhaftungen anordnen, Zeitungen
verbieten oder fernhalten, Vereine und Versammlungen unterdrücken, er kann
überhaupt alles vornehmen, was er für notwendig hält, um die Gefahr zu
beseitigen und etwaigen Widerstand zu brechen. In den andern deutschen Län¬
dern kommt dergleichen nicht vor, etwas neues und unerhörtes ist aber auch
da die den Einzelanwendnngen zu Grunde liegende Gesamtbefugnis nicht, unsern
Staatsrechtslehrern ist sie unter der Bezeichnung Staatsnotrecht oder M8
LNiinens wohlbekannt. Nicht minder ist sie es in Frankreich, wo die ent¬
sprechenden Anordnungen aelvs as Mnvsrrioinent, oder in<zsnr<Z8 as Juno polios
heißen. Praktisch ist das Staatsnotrecht oft angewendet worden, in den Säku¬
larisationen hat man es sogar bis zu massenhafter Einziehung von Privat¬
eigentum ausgedehnt. Auch zur Zeit der absoluten Monarchie ist das Staats¬
notrecht von den Hoheitsrechten der Gesetzgebung, der Verwaltung und der
Rechtspflege bestimmt unterschieden worden und ist deshalb an sich von den
Verfassungsurkunden unberührt geblieben, die ja nicht das ganze Verfassungs-
recht erschöpfen, sondern sich darauf beschränken, die begrifflich etwas erweiterte
Gesetzgebung an parlamentarische Mitwirkung zu binden und der Handelnden
wie der Nechtsverwaltung Schranken aufzuerlegen oder bestimmte Ziele zuzu¬
weisen. Wer sich für die Frage interessirt, möge beispielsweise die Ausfüh¬
rungen des liberalen Staatsrechtslehrers Robert von Mohl in seiner Ency¬
klopädie (2. Auflage 1872, Z 29 S. 209 und 216) und in seinem Reichsstaats¬
recht (1873, S. 85 ff.) nachlesen.

Also, das Besondre bei uns im Nei«hsland ist nicht, daß ein Staatsnot¬
recht besteht, sondern daß es gesetzlich formulirt worden ist. Wie sich daraus
die eigentümliche Benennung erklärt, so sprachen dafür naheliegende Gründe:
in dem geordneten Leben der andern deutschen Länder konnte man das Staats-
notrecht fvrtschlummern lassen, in dem neuerworbnen Lande mußte man seinen
Inhalt unzweideutig festsetzen und so verkünden, daß er zugleich als Mahnung
und Warnung wirkte. Dazu empfahl sich die Form des Gesetzes. Zu dieser
Form griff man dann auch für das ganze Reich, als die Attentate von Hödel,
von Nobiling und am Niederwald klar machten, wie sich Theorie in Praxis


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[0382] Der Diktaturparagraph und das Sozialisteugesetz (LullötiQ ni(Z8 1.018 Ur. 1511) der Militärbehörde für den Fall des Belage¬ rungszustandes zuweist. Von den erlassenen Verfügungen ist dem Reichs¬ kanzler ohne Verzug Anzeige zu macheu. Zu polizeiliche» Zwecken, insbesondre auch zur Ausführung der vorbezeichneten Maßnahmen, ist der Oberprnsident berechtigt, die in Elsaß-Lothringen stehenden Truppen zu requiriren." Seit dem Gesetz vom 4. Juli 1879 ist an die Stelle des Oberpräsidenten der Statt¬ halter getreten; da dieser aber dem Reichskanzler nicht unterstellt ist, so ist die Anzeigepflicht weggefallen. Sonst sind die Bestimmungen unverändert geblieben. Die daraus zu schöpsenden Befugnisse sind umscissend, Gesetze binden den Statthalter dabei nicht, er kann nicht nur Ausländer, sondern mich Landes- augehörige und andre Deutsche ausweisen, Verhaftungen anordnen, Zeitungen verbieten oder fernhalten, Vereine und Versammlungen unterdrücken, er kann überhaupt alles vornehmen, was er für notwendig hält, um die Gefahr zu beseitigen und etwaigen Widerstand zu brechen. In den andern deutschen Län¬ dern kommt dergleichen nicht vor, etwas neues und unerhörtes ist aber auch da die den Einzelanwendnngen zu Grunde liegende Gesamtbefugnis nicht, unsern Staatsrechtslehrern ist sie unter der Bezeichnung Staatsnotrecht oder M8 LNiinens wohlbekannt. Nicht minder ist sie es in Frankreich, wo die ent¬ sprechenden Anordnungen aelvs as Mnvsrrioinent, oder in<zsnr<Z8 as Juno polios heißen. Praktisch ist das Staatsnotrecht oft angewendet worden, in den Säku¬ larisationen hat man es sogar bis zu massenhafter Einziehung von Privat¬ eigentum ausgedehnt. Auch zur Zeit der absoluten Monarchie ist das Staats¬ notrecht von den Hoheitsrechten der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Rechtspflege bestimmt unterschieden worden und ist deshalb an sich von den Verfassungsurkunden unberührt geblieben, die ja nicht das ganze Verfassungs- recht erschöpfen, sondern sich darauf beschränken, die begrifflich etwas erweiterte Gesetzgebung an parlamentarische Mitwirkung zu binden und der Handelnden wie der Nechtsverwaltung Schranken aufzuerlegen oder bestimmte Ziele zuzu¬ weisen. Wer sich für die Frage interessirt, möge beispielsweise die Ausfüh¬ rungen des liberalen Staatsrechtslehrers Robert von Mohl in seiner Ency¬ klopädie (2. Auflage 1872, Z 29 S. 209 und 216) und in seinem Reichsstaats¬ recht (1873, S. 85 ff.) nachlesen. Also, das Besondre bei uns im Nei«hsland ist nicht, daß ein Staatsnot¬ recht besteht, sondern daß es gesetzlich formulirt worden ist. Wie sich daraus die eigentümliche Benennung erklärt, so sprachen dafür naheliegende Gründe: in dem geordneten Leben der andern deutschen Länder konnte man das Staats- notrecht fvrtschlummern lassen, in dem neuerworbnen Lande mußte man seinen Inhalt unzweideutig festsetzen und so verkünden, daß er zugleich als Mahnung und Warnung wirkte. Dazu empfahl sich die Form des Gesetzes. Zu dieser Form griff man dann auch für das ganze Reich, als die Attentate von Hödel, von Nobiling und am Niederwald klar machten, wie sich Theorie in Praxis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/382>, abgerufen am 21.05.2024.