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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Diktaiurptnagraph und das Sozmlistougesetz

umsetzt, wie die Folgerungen aussehen, die von verdorbnen oder rohen Ge¬
mütern aus sozialdemokratischen oder anarchistischen Lehren für das eigne
Handeln gezogen werden. Die einzelnen Befugnisse, die dnrch das Sozialisten¬
gesetz für das ganze Reichsgebiet festgesetzt wurden, fallen fast vollständig mit
denen zusammen, die für das Reichsland aus dem Diktaturparagraphen ab¬
zuleiten sind, aber darin unterscheiden sich das Sozialistengesetz und der Diktatur-
Paragraph, daß dieser den Grundgedanken in einer Regel zusammenfaßt und nur
wenige Anwendungsfälle hervorhebt, während das Svzialistengesetz nnr An¬
wendungsfälle giebt und keine allgemeine Regel aufstellt, uicht einmal als
Schluß- oder Generalklausel. Das Sozialistengesetz ist eine kasuistische, der
Diktaturparagraph eine prinzipielle Sanktion des Staatsnotrechts.

Auch sachlich wichtig hat sich der Unterschied erwiesen, die Kasuistik
hat den Fall des Svzialistengesetzes wenigstens erleichtert. Weil es aus
lauter Einzelheiten bestand, war der Zusammenhang ans ihm selbst nicht
zu ersehen. Mit der Zeit mußte der Zusammenhang der nicht tiefer ein¬
dringenden Betrachtung immer unverständlicher werden, den meisten mußten
diese mannichfaltigen Beschränkungen der Preßfreiheit und des Vereins- und
Versammlungsrechts, die für den Zweck des Gesetzes nur Mittel waren, je
länger je mehr als dessen eigentlicher und unmittelbarer Zweck erscheinen.
Als Zweck erweckten sie um so größern Anstoß, als sie nur eine Partei trafen.
So verstärkte schon der Zeitablauf die grundsätzliche Opposition, während die
grundsätzliche Zustimmung in dem Gegenstande des Streits, im Gesetz, keinen
jedermann verständlichen Anhalt fand, dessen wirkliche Absicht außer Frage zu
stellen. Jetzt, wo wir wieder in einer ähnlichen Notlage sind, und die Leitung
ebenso ratlos ist wie die Parteien, ist es wohl angebracht, das Wesentliche
der damaligen Vorgänge ins Gedächtnis zurückzurufen.

Als das Sozialistengesetz erlassen wurde, war die revolutionäre Gefahr
nicht erst im Anzüge, sie war schon da, hatte sich in den Attentaten zu den
schwersten Verbrechen gesteigert und hatte in der Presse, in Vereinen und Ver¬
sammlungen eine gesinnungsverwandte Organisation erhalten; Abzweigungen da¬
von waren über alle Jndustriebezirke Deutschlands verbreitet und standen unter¬
einander in fester, einheitlich geleiteter Verbindung. Dem entsprechend mußten
die Gegenmaßregeln zahlreich sein, es war nicht möglich, sie auf wenige Per¬
sonen und Orte zu beschränken. Bei der Fülle der Aufgaben konnten Fehler
nicht ausbleiben: die obern Stellen gingen nicht selten zu weit, so wurden
z. V. sozialistische Druckschriften von geistigem Gehalt verboten, die schon wegen
ihres großen Umfangs gar nicht revolutionär wirken konnten; bei den untern
Stellen, die häufig mitwirken mußten, gesellten sich zu ungenügendem Ver¬
ständnis und ungeregelten Eifer zuweilen ungleiche Behandlung, Chikanen und
Willkür, die Regierung fand fast nur laue oder kritiklos lärmende Zustimmung,
die Sozialdemokratie dagegen fand wirkliche Bundesgenossen, eifrige und ge-


Der Diktaiurptnagraph und das Sozmlistougesetz

umsetzt, wie die Folgerungen aussehen, die von verdorbnen oder rohen Ge¬
mütern aus sozialdemokratischen oder anarchistischen Lehren für das eigne
Handeln gezogen werden. Die einzelnen Befugnisse, die dnrch das Sozialisten¬
gesetz für das ganze Reichsgebiet festgesetzt wurden, fallen fast vollständig mit
denen zusammen, die für das Reichsland aus dem Diktaturparagraphen ab¬
zuleiten sind, aber darin unterscheiden sich das Sozialistengesetz und der Diktatur-
Paragraph, daß dieser den Grundgedanken in einer Regel zusammenfaßt und nur
wenige Anwendungsfälle hervorhebt, während das Svzialistengesetz nnr An¬
wendungsfälle giebt und keine allgemeine Regel aufstellt, uicht einmal als
Schluß- oder Generalklausel. Das Sozialistengesetz ist eine kasuistische, der
Diktaturparagraph eine prinzipielle Sanktion des Staatsnotrechts.

Auch sachlich wichtig hat sich der Unterschied erwiesen, die Kasuistik
hat den Fall des Svzialistengesetzes wenigstens erleichtert. Weil es aus
lauter Einzelheiten bestand, war der Zusammenhang ans ihm selbst nicht
zu ersehen. Mit der Zeit mußte der Zusammenhang der nicht tiefer ein¬
dringenden Betrachtung immer unverständlicher werden, den meisten mußten
diese mannichfaltigen Beschränkungen der Preßfreiheit und des Vereins- und
Versammlungsrechts, die für den Zweck des Gesetzes nur Mittel waren, je
länger je mehr als dessen eigentlicher und unmittelbarer Zweck erscheinen.
Als Zweck erweckten sie um so größern Anstoß, als sie nur eine Partei trafen.
So verstärkte schon der Zeitablauf die grundsätzliche Opposition, während die
grundsätzliche Zustimmung in dem Gegenstande des Streits, im Gesetz, keinen
jedermann verständlichen Anhalt fand, dessen wirkliche Absicht außer Frage zu
stellen. Jetzt, wo wir wieder in einer ähnlichen Notlage sind, und die Leitung
ebenso ratlos ist wie die Parteien, ist es wohl angebracht, das Wesentliche
der damaligen Vorgänge ins Gedächtnis zurückzurufen.

Als das Sozialistengesetz erlassen wurde, war die revolutionäre Gefahr
nicht erst im Anzüge, sie war schon da, hatte sich in den Attentaten zu den
schwersten Verbrechen gesteigert und hatte in der Presse, in Vereinen und Ver¬
sammlungen eine gesinnungsverwandte Organisation erhalten; Abzweigungen da¬
von waren über alle Jndustriebezirke Deutschlands verbreitet und standen unter¬
einander in fester, einheitlich geleiteter Verbindung. Dem entsprechend mußten
die Gegenmaßregeln zahlreich sein, es war nicht möglich, sie auf wenige Per¬
sonen und Orte zu beschränken. Bei der Fülle der Aufgaben konnten Fehler
nicht ausbleiben: die obern Stellen gingen nicht selten zu weit, so wurden
z. V. sozialistische Druckschriften von geistigem Gehalt verboten, die schon wegen
ihres großen Umfangs gar nicht revolutionär wirken konnten; bei den untern
Stellen, die häufig mitwirken mußten, gesellten sich zu ungenügendem Ver¬
ständnis und ungeregelten Eifer zuweilen ungleiche Behandlung, Chikanen und
Willkür, die Regierung fand fast nur laue oder kritiklos lärmende Zustimmung,
die Sozialdemokratie dagegen fand wirkliche Bundesgenossen, eifrige und ge-


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[0383] Der Diktaiurptnagraph und das Sozmlistougesetz umsetzt, wie die Folgerungen aussehen, die von verdorbnen oder rohen Ge¬ mütern aus sozialdemokratischen oder anarchistischen Lehren für das eigne Handeln gezogen werden. Die einzelnen Befugnisse, die dnrch das Sozialisten¬ gesetz für das ganze Reichsgebiet festgesetzt wurden, fallen fast vollständig mit denen zusammen, die für das Reichsland aus dem Diktaturparagraphen ab¬ zuleiten sind, aber darin unterscheiden sich das Sozialistengesetz und der Diktatur- Paragraph, daß dieser den Grundgedanken in einer Regel zusammenfaßt und nur wenige Anwendungsfälle hervorhebt, während das Svzialistengesetz nnr An¬ wendungsfälle giebt und keine allgemeine Regel aufstellt, uicht einmal als Schluß- oder Generalklausel. Das Sozialistengesetz ist eine kasuistische, der Diktaturparagraph eine prinzipielle Sanktion des Staatsnotrechts. Auch sachlich wichtig hat sich der Unterschied erwiesen, die Kasuistik hat den Fall des Svzialistengesetzes wenigstens erleichtert. Weil es aus lauter Einzelheiten bestand, war der Zusammenhang ans ihm selbst nicht zu ersehen. Mit der Zeit mußte der Zusammenhang der nicht tiefer ein¬ dringenden Betrachtung immer unverständlicher werden, den meisten mußten diese mannichfaltigen Beschränkungen der Preßfreiheit und des Vereins- und Versammlungsrechts, die für den Zweck des Gesetzes nur Mittel waren, je länger je mehr als dessen eigentlicher und unmittelbarer Zweck erscheinen. Als Zweck erweckten sie um so größern Anstoß, als sie nur eine Partei trafen. So verstärkte schon der Zeitablauf die grundsätzliche Opposition, während die grundsätzliche Zustimmung in dem Gegenstande des Streits, im Gesetz, keinen jedermann verständlichen Anhalt fand, dessen wirkliche Absicht außer Frage zu stellen. Jetzt, wo wir wieder in einer ähnlichen Notlage sind, und die Leitung ebenso ratlos ist wie die Parteien, ist es wohl angebracht, das Wesentliche der damaligen Vorgänge ins Gedächtnis zurückzurufen. Als das Sozialistengesetz erlassen wurde, war die revolutionäre Gefahr nicht erst im Anzüge, sie war schon da, hatte sich in den Attentaten zu den schwersten Verbrechen gesteigert und hatte in der Presse, in Vereinen und Ver¬ sammlungen eine gesinnungsverwandte Organisation erhalten; Abzweigungen da¬ von waren über alle Jndustriebezirke Deutschlands verbreitet und standen unter¬ einander in fester, einheitlich geleiteter Verbindung. Dem entsprechend mußten die Gegenmaßregeln zahlreich sein, es war nicht möglich, sie auf wenige Per¬ sonen und Orte zu beschränken. Bei der Fülle der Aufgaben konnten Fehler nicht ausbleiben: die obern Stellen gingen nicht selten zu weit, so wurden z. V. sozialistische Druckschriften von geistigem Gehalt verboten, die schon wegen ihres großen Umfangs gar nicht revolutionär wirken konnten; bei den untern Stellen, die häufig mitwirken mußten, gesellten sich zu ungenügendem Ver¬ ständnis und ungeregelten Eifer zuweilen ungleiche Behandlung, Chikanen und Willkür, die Regierung fand fast nur laue oder kritiklos lärmende Zustimmung, die Sozialdemokratie dagegen fand wirkliche Bundesgenossen, eifrige und ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/383>, abgerufen am 15.06.2024.