Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Berliner Schillerpreisdramen

Kann es doch schließlich die gesamte Ästhetik und Kritik der "Moderne"
nicht vermeiden, sich auf dieses Recht der freien Entwicklung zu berufen, wenn
sie uns begreiflich machen will, wie der Verfasser der "Einsamen Menschen,"
der "Weber" und des "Florian Geyer," wie Gerhart Hauptmann zu dem
Märchenschauspiel "Die versunkne Glocke" gekommen ist. Der Wirklichkeit, und
zwar uur der Wirklichkeit des Abnormen, des Häßlichen und Abschreckenden,
war ein ganzes Jahrzehnt hindurch mit fanatischer Ausschließlichkeit allein das
Recht auf Existenz zugesprochen, die poetische Verklärung und Versöhnung so
rückhaltlos als eine Forderung der Gimpel und Simpel hingestellt, so zweifellos
vorausgesetzt worden, daß jede wahrhaft schöpferische Kraft sich nur durch
naturalistische Wiedergabe der Abgründe und Nachtseiten des modernen Lebens
als lebendig erweisen könne, daß es schwer wurde, die Wendung Gerhart
Hauptmanns zum chronikalischen Drama im "Florian Geyer," zum Märchen¬
drama in der "Versunknen Glocke" mit Hilfe von Sätzen zu preisen, auf
die sich die verachteten Anwälte der Kunst vor der litterarischen Revolution
von 1880 eben auch berufen hatten und immer wieder berufen können. Aber
das berühmte "Ja Bauer, das ist ganz was anders!" gilt ja nicht bloß im
Dorfprozeß, sondern auch im litterarischen Parteikampf, und das Märchendrama,
das Märchendrama in Versen, das abgelebt und kindisch zugleich genannt
worden war, solange es sich um Dichter aus der vorigen Generation handelte,
gedieh auf einmal zu neuem Ansehen, hieß ein frischer Waldquell und lebendiger
Jungbrunnen ureigner Gesundheit, tiefer, echter Poesie und reiner Schöpfer¬
kraft, sobald sich ihm Gerhart Hauptmann zuwandte. Es bedürfte eben nur
seines Entschlusses und der Ausführung eines symbolischen Werkes, bei dessen
überirdischen Gestalten Arnold Böcklins Malerphantasie Pate gestanden hat,
um den Anspruch zu erheben, daß die "Versunkne Glocke" sofort durch Er-
teilung des Schillerpreises weithin sichtbar auszuzeichnen sei. Wäre das zu¬
fällig geschehen, so würde es nicht mehr bedeuten, als daß eine Dichtung, die
ernstes, eigentümliches Talent zeigt und, trotz vieler Seltsamkeiten, voll
lebendigen Naturgefühls und einzelner großer poetischer Schönheiten ist, vor
andern bevorzugt worden sei. Die Versagung des Preises als eine Art von
Frevel am Heiligsten hinzustellen, ist ein Ausfluß der neuesten litterarisch¬
artistischen Praxis, die Worte so schwer wie Felsblöcke um sich schleudert.

Man muß sich der Versuchung erwehren, dem Dichter Unrecht zu thun,
er hat ein subjektives Erlebnis poetisch gestaltet und ihm dabei so viel All-
gemeinbedentung geliehen, daß sich niemand, der überhaupt für die phantastische
Einkleidung eines Vorgangs empfänglich ist, dem Eindruck entziehen kann.
Dieser schlestsche Glockengießer Heinrich, der es nicht ertragen will, daß seine
Glocken nur im Thale klingen, der darnach verlangt, daß sie auf den
Bergen den Wiederhall der Gipfel aufwecken, der sich seiner Glocke nach¬
wirft, die von der Höhe des Riesengebirges in den Vergsee stürzt, oder viel-


Die Berliner Schillerpreisdramen

Kann es doch schließlich die gesamte Ästhetik und Kritik der „Moderne"
nicht vermeiden, sich auf dieses Recht der freien Entwicklung zu berufen, wenn
sie uns begreiflich machen will, wie der Verfasser der „Einsamen Menschen,"
der „Weber" und des „Florian Geyer," wie Gerhart Hauptmann zu dem
Märchenschauspiel „Die versunkne Glocke" gekommen ist. Der Wirklichkeit, und
zwar uur der Wirklichkeit des Abnormen, des Häßlichen und Abschreckenden,
war ein ganzes Jahrzehnt hindurch mit fanatischer Ausschließlichkeit allein das
Recht auf Existenz zugesprochen, die poetische Verklärung und Versöhnung so
rückhaltlos als eine Forderung der Gimpel und Simpel hingestellt, so zweifellos
vorausgesetzt worden, daß jede wahrhaft schöpferische Kraft sich nur durch
naturalistische Wiedergabe der Abgründe und Nachtseiten des modernen Lebens
als lebendig erweisen könne, daß es schwer wurde, die Wendung Gerhart
Hauptmanns zum chronikalischen Drama im „Florian Geyer," zum Märchen¬
drama in der „Versunknen Glocke" mit Hilfe von Sätzen zu preisen, auf
die sich die verachteten Anwälte der Kunst vor der litterarischen Revolution
von 1880 eben auch berufen hatten und immer wieder berufen können. Aber
das berühmte „Ja Bauer, das ist ganz was anders!" gilt ja nicht bloß im
Dorfprozeß, sondern auch im litterarischen Parteikampf, und das Märchendrama,
das Märchendrama in Versen, das abgelebt und kindisch zugleich genannt
worden war, solange es sich um Dichter aus der vorigen Generation handelte,
gedieh auf einmal zu neuem Ansehen, hieß ein frischer Waldquell und lebendiger
Jungbrunnen ureigner Gesundheit, tiefer, echter Poesie und reiner Schöpfer¬
kraft, sobald sich ihm Gerhart Hauptmann zuwandte. Es bedürfte eben nur
seines Entschlusses und der Ausführung eines symbolischen Werkes, bei dessen
überirdischen Gestalten Arnold Böcklins Malerphantasie Pate gestanden hat,
um den Anspruch zu erheben, daß die „Versunkne Glocke" sofort durch Er-
teilung des Schillerpreises weithin sichtbar auszuzeichnen sei. Wäre das zu¬
fällig geschehen, so würde es nicht mehr bedeuten, als daß eine Dichtung, die
ernstes, eigentümliches Talent zeigt und, trotz vieler Seltsamkeiten, voll
lebendigen Naturgefühls und einzelner großer poetischer Schönheiten ist, vor
andern bevorzugt worden sei. Die Versagung des Preises als eine Art von
Frevel am Heiligsten hinzustellen, ist ein Ausfluß der neuesten litterarisch¬
artistischen Praxis, die Worte so schwer wie Felsblöcke um sich schleudert.

Man muß sich der Versuchung erwehren, dem Dichter Unrecht zu thun,
er hat ein subjektives Erlebnis poetisch gestaltet und ihm dabei so viel All-
gemeinbedentung geliehen, daß sich niemand, der überhaupt für die phantastische
Einkleidung eines Vorgangs empfänglich ist, dem Eindruck entziehen kann.
Dieser schlestsche Glockengießer Heinrich, der es nicht ertragen will, daß seine
Glocken nur im Thale klingen, der darnach verlangt, daß sie auf den
Bergen den Wiederhall der Gipfel aufwecken, der sich seiner Glocke nach¬
wirft, die von der Höhe des Riesengebirges in den Vergsee stürzt, oder viel-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0039" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224285"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Berliner Schillerpreisdramen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_115"> Kann es doch schließlich die gesamte Ästhetik und Kritik der &#x201E;Moderne"<lb/>
nicht vermeiden, sich auf dieses Recht der freien Entwicklung zu berufen, wenn<lb/>
sie uns begreiflich machen will, wie der Verfasser der &#x201E;Einsamen Menschen,"<lb/>
der &#x201E;Weber" und des &#x201E;Florian Geyer," wie Gerhart Hauptmann zu dem<lb/>
Märchenschauspiel &#x201E;Die versunkne Glocke" gekommen ist. Der Wirklichkeit, und<lb/>
zwar uur der Wirklichkeit des Abnormen, des Häßlichen und Abschreckenden,<lb/>
war ein ganzes Jahrzehnt hindurch mit fanatischer Ausschließlichkeit allein das<lb/>
Recht auf Existenz zugesprochen, die poetische Verklärung und Versöhnung so<lb/>
rückhaltlos als eine Forderung der Gimpel und Simpel hingestellt, so zweifellos<lb/>
vorausgesetzt worden, daß jede wahrhaft schöpferische Kraft sich nur durch<lb/>
naturalistische Wiedergabe der Abgründe und Nachtseiten des modernen Lebens<lb/>
als lebendig erweisen könne, daß es schwer wurde, die Wendung Gerhart<lb/>
Hauptmanns zum chronikalischen Drama im &#x201E;Florian Geyer," zum Märchen¬<lb/>
drama in der &#x201E;Versunknen Glocke" mit Hilfe von Sätzen zu preisen, auf<lb/>
die sich die verachteten Anwälte der Kunst vor der litterarischen Revolution<lb/>
von 1880 eben auch berufen hatten und immer wieder berufen können. Aber<lb/>
das berühmte &#x201E;Ja Bauer, das ist ganz was anders!" gilt ja nicht bloß im<lb/>
Dorfprozeß, sondern auch im litterarischen Parteikampf, und das Märchendrama,<lb/>
das Märchendrama in Versen, das abgelebt und kindisch zugleich genannt<lb/>
worden war, solange es sich um Dichter aus der vorigen Generation handelte,<lb/>
gedieh auf einmal zu neuem Ansehen, hieß ein frischer Waldquell und lebendiger<lb/>
Jungbrunnen ureigner Gesundheit, tiefer, echter Poesie und reiner Schöpfer¬<lb/>
kraft, sobald sich ihm Gerhart Hauptmann zuwandte. Es bedürfte eben nur<lb/>
seines Entschlusses und der Ausführung eines symbolischen Werkes, bei dessen<lb/>
überirdischen Gestalten Arnold Böcklins Malerphantasie Pate gestanden hat,<lb/>
um den Anspruch zu erheben, daß die &#x201E;Versunkne Glocke" sofort durch Er-<lb/>
teilung des Schillerpreises weithin sichtbar auszuzeichnen sei. Wäre das zu¬<lb/>
fällig geschehen, so würde es nicht mehr bedeuten, als daß eine Dichtung, die<lb/>
ernstes, eigentümliches Talent zeigt und, trotz vieler Seltsamkeiten, voll<lb/>
lebendigen Naturgefühls und einzelner großer poetischer Schönheiten ist, vor<lb/>
andern bevorzugt worden sei. Die Versagung des Preises als eine Art von<lb/>
Frevel am Heiligsten hinzustellen, ist ein Ausfluß der neuesten litterarisch¬<lb/>
artistischen Praxis, die Worte so schwer wie Felsblöcke um sich schleudert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_116" next="#ID_117"> Man muß sich der Versuchung erwehren, dem Dichter Unrecht zu thun,<lb/>
er hat ein subjektives Erlebnis poetisch gestaltet und ihm dabei so viel All-<lb/>
gemeinbedentung geliehen, daß sich niemand, der überhaupt für die phantastische<lb/>
Einkleidung eines Vorgangs empfänglich ist, dem Eindruck entziehen kann.<lb/>
Dieser schlestsche Glockengießer Heinrich, der es nicht ertragen will, daß seine<lb/>
Glocken nur im Thale klingen, der darnach verlangt, daß sie auf den<lb/>
Bergen den Wiederhall der Gipfel aufwecken, der sich seiner Glocke nach¬<lb/>
wirft, die von der Höhe des Riesengebirges in den Vergsee stürzt, oder viel-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0039] Die Berliner Schillerpreisdramen Kann es doch schließlich die gesamte Ästhetik und Kritik der „Moderne" nicht vermeiden, sich auf dieses Recht der freien Entwicklung zu berufen, wenn sie uns begreiflich machen will, wie der Verfasser der „Einsamen Menschen," der „Weber" und des „Florian Geyer," wie Gerhart Hauptmann zu dem Märchenschauspiel „Die versunkne Glocke" gekommen ist. Der Wirklichkeit, und zwar uur der Wirklichkeit des Abnormen, des Häßlichen und Abschreckenden, war ein ganzes Jahrzehnt hindurch mit fanatischer Ausschließlichkeit allein das Recht auf Existenz zugesprochen, die poetische Verklärung und Versöhnung so rückhaltlos als eine Forderung der Gimpel und Simpel hingestellt, so zweifellos vorausgesetzt worden, daß jede wahrhaft schöpferische Kraft sich nur durch naturalistische Wiedergabe der Abgründe und Nachtseiten des modernen Lebens als lebendig erweisen könne, daß es schwer wurde, die Wendung Gerhart Hauptmanns zum chronikalischen Drama im „Florian Geyer," zum Märchen¬ drama in der „Versunknen Glocke" mit Hilfe von Sätzen zu preisen, auf die sich die verachteten Anwälte der Kunst vor der litterarischen Revolution von 1880 eben auch berufen hatten und immer wieder berufen können. Aber das berühmte „Ja Bauer, das ist ganz was anders!" gilt ja nicht bloß im Dorfprozeß, sondern auch im litterarischen Parteikampf, und das Märchendrama, das Märchendrama in Versen, das abgelebt und kindisch zugleich genannt worden war, solange es sich um Dichter aus der vorigen Generation handelte, gedieh auf einmal zu neuem Ansehen, hieß ein frischer Waldquell und lebendiger Jungbrunnen ureigner Gesundheit, tiefer, echter Poesie und reiner Schöpfer¬ kraft, sobald sich ihm Gerhart Hauptmann zuwandte. Es bedürfte eben nur seines Entschlusses und der Ausführung eines symbolischen Werkes, bei dessen überirdischen Gestalten Arnold Böcklins Malerphantasie Pate gestanden hat, um den Anspruch zu erheben, daß die „Versunkne Glocke" sofort durch Er- teilung des Schillerpreises weithin sichtbar auszuzeichnen sei. Wäre das zu¬ fällig geschehen, so würde es nicht mehr bedeuten, als daß eine Dichtung, die ernstes, eigentümliches Talent zeigt und, trotz vieler Seltsamkeiten, voll lebendigen Naturgefühls und einzelner großer poetischer Schönheiten ist, vor andern bevorzugt worden sei. Die Versagung des Preises als eine Art von Frevel am Heiligsten hinzustellen, ist ein Ausfluß der neuesten litterarisch¬ artistischen Praxis, die Worte so schwer wie Felsblöcke um sich schleudert. Man muß sich der Versuchung erwehren, dem Dichter Unrecht zu thun, er hat ein subjektives Erlebnis poetisch gestaltet und ihm dabei so viel All- gemeinbedentung geliehen, daß sich niemand, der überhaupt für die phantastische Einkleidung eines Vorgangs empfänglich ist, dem Eindruck entziehen kann. Dieser schlestsche Glockengießer Heinrich, der es nicht ertragen will, daß seine Glocken nur im Thale klingen, der darnach verlangt, daß sie auf den Bergen den Wiederhall der Gipfel aufwecken, der sich seiner Glocke nach¬ wirft, die von der Höhe des Riesengebirges in den Vergsee stürzt, oder viel-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/39
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/39>, abgerufen am 21.05.2024.