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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Lieder in den Kompositionen seiner Zeitgenossen

noch mehr vertragen: viele von ihnen hängen, musikalisch betrachtet, noch heute
wie festgeschlossene Knospen am Zweig und harren der Entfaltung.

Einmal in einer möglichst vollständigen und gut gewählten Sammlung
die Entwicklungsgeschichte unsers musikalischen Liedes in der Zeit von 1770
bis zu Goethes Tode oder noch etwas darüber hinaus ausschließlich an
Goethischei, Liedertexten zu zeigen, ist mir schon längst als eine schöne und
lohnende Aufgabe erschienen. Mit zweihundert Liedern etwa ließe sich die
Sache machen. Freilich, alle Goethischen Texte, die überhaupt in dieser Zeit,
und wäre es auch nur einmal, komponirt worden sind, in die Sammlung
aufzunehmen würde nicht möglich sein; dazu ist ihre Zahl zu groß. Es wäre
aber auch nicht nötig, denn es ist viel ganz wert- und gehaltloses darunter,
auch viel gleichartiges, wovon ein paar Proben genügen. Namentlich unter
dem, was die Leibkomponisten Goethes geliefert haben, die seine Lieder
schließlich fast geschäftsmäßig "in Musik setzten," ist viel Schwaches, das weit
hinter dem Gehalt der Texte zurückbleibt. Für die wissenschaftliche Goethe¬
forschung könnte ja der Sammlung in einem besondern Bande ein vollständiges,
bibliographisch genaues und nach der Zeitfolge geordnetes thematisches Ver¬
zeichnis aller Goethischen Liederkompositionen von 1770 bis 1332 mit guten
Registern beigegeben werden. Das wäre sogar sehr wünschenswert. Die
Sammlung selbst aber müßte sich auf das Beste und Schönste beschränken,
doch so, daß möglichst viel Texte, vor allen die bekanntesten und volks¬
tümlichsten, darin vertreten wären. Von Liedern, die besonders oft komponirt
worden sind, müßten natürlich möglichst viel Kompositionen aus verschiednen
Zeiten aufgenommen werden.

Eine solche Sammlung würde sehr wertvoll sein. Sie würde nicht bloß
in der lehrreichsten und eindringlichsten Weise die Geschichte unsers musika¬
lischen Liedes in der Zeit seiner glänzendsten Entfaltung zeigen, sie würde vor
allem auch, zwar nicht Goethes Verhältnis zur Musik, wohl aber das Ver¬
hältnis der Musik zu Goethe zeigen, sie würde zeigen, wie seine Poesie auf
den Fittichen der Musik allmählich ins Volk drang, wie sich die Musik all¬
mählich seiner Lieder bemächtigte, wie diese Strömung mit der Zeit breiter
wurde, nicht nur dadurch, daß neu bekannt gewordne Gedichte alsbald
auch ihre Komponisten fanden (manche sind ja gleich mit Musik erschienen),
sondern auch dadurch, daß an den ältern Gedichten immer wieder neue Kom¬
ponisten, ja bisweilen sogar dieselben Komponisten zu wiederholten malen ihre
Kräfte maßen. Die Musik ist es, die ein Lied volkstümlich macht. Ein Beweis
dafür sind die Fehler, mit denen so viele Liedertexte umlaufen. Die Kompo¬
nisten haben sich oft, aus musikalischen Rücksichten, mit den Texten Änderungen
erlaubt; mit diesen Änderungen sind die Lieder dann in den Volksmund ge¬
drungen, mit ihnen leben sie dort, die Fehler sind nicht wieder auszurotten.
Die Sammlung könnte aber auch für das gebildete deutsche Haus ein musi-


Grenzboten I 1897 W
Goethes Lieder in den Kompositionen seiner Zeitgenossen

noch mehr vertragen: viele von ihnen hängen, musikalisch betrachtet, noch heute
wie festgeschlossene Knospen am Zweig und harren der Entfaltung.

Einmal in einer möglichst vollständigen und gut gewählten Sammlung
die Entwicklungsgeschichte unsers musikalischen Liedes in der Zeit von 1770
bis zu Goethes Tode oder noch etwas darüber hinaus ausschließlich an
Goethischei, Liedertexten zu zeigen, ist mir schon längst als eine schöne und
lohnende Aufgabe erschienen. Mit zweihundert Liedern etwa ließe sich die
Sache machen. Freilich, alle Goethischen Texte, die überhaupt in dieser Zeit,
und wäre es auch nur einmal, komponirt worden sind, in die Sammlung
aufzunehmen würde nicht möglich sein; dazu ist ihre Zahl zu groß. Es wäre
aber auch nicht nötig, denn es ist viel ganz wert- und gehaltloses darunter,
auch viel gleichartiges, wovon ein paar Proben genügen. Namentlich unter
dem, was die Leibkomponisten Goethes geliefert haben, die seine Lieder
schließlich fast geschäftsmäßig „in Musik setzten," ist viel Schwaches, das weit
hinter dem Gehalt der Texte zurückbleibt. Für die wissenschaftliche Goethe¬
forschung könnte ja der Sammlung in einem besondern Bande ein vollständiges,
bibliographisch genaues und nach der Zeitfolge geordnetes thematisches Ver¬
zeichnis aller Goethischen Liederkompositionen von 1770 bis 1332 mit guten
Registern beigegeben werden. Das wäre sogar sehr wünschenswert. Die
Sammlung selbst aber müßte sich auf das Beste und Schönste beschränken,
doch so, daß möglichst viel Texte, vor allen die bekanntesten und volks¬
tümlichsten, darin vertreten wären. Von Liedern, die besonders oft komponirt
worden sind, müßten natürlich möglichst viel Kompositionen aus verschiednen
Zeiten aufgenommen werden.

Eine solche Sammlung würde sehr wertvoll sein. Sie würde nicht bloß
in der lehrreichsten und eindringlichsten Weise die Geschichte unsers musika¬
lischen Liedes in der Zeit seiner glänzendsten Entfaltung zeigen, sie würde vor
allem auch, zwar nicht Goethes Verhältnis zur Musik, wohl aber das Ver¬
hältnis der Musik zu Goethe zeigen, sie würde zeigen, wie seine Poesie auf
den Fittichen der Musik allmählich ins Volk drang, wie sich die Musik all¬
mählich seiner Lieder bemächtigte, wie diese Strömung mit der Zeit breiter
wurde, nicht nur dadurch, daß neu bekannt gewordne Gedichte alsbald
auch ihre Komponisten fanden (manche sind ja gleich mit Musik erschienen),
sondern auch dadurch, daß an den ältern Gedichten immer wieder neue Kom¬
ponisten, ja bisweilen sogar dieselben Komponisten zu wiederholten malen ihre
Kräfte maßen. Die Musik ist es, die ein Lied volkstümlich macht. Ein Beweis
dafür sind die Fehler, mit denen so viele Liedertexte umlaufen. Die Kompo¬
nisten haben sich oft, aus musikalischen Rücksichten, mit den Texten Änderungen
erlaubt; mit diesen Änderungen sind die Lieder dann in den Volksmund ge¬
drungen, mit ihnen leben sie dort, die Fehler sind nicht wieder auszurotten.
Die Sammlung könnte aber auch für das gebildete deutsche Haus ein musi-


Grenzboten I 1897 W
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[0441] Goethes Lieder in den Kompositionen seiner Zeitgenossen noch mehr vertragen: viele von ihnen hängen, musikalisch betrachtet, noch heute wie festgeschlossene Knospen am Zweig und harren der Entfaltung. Einmal in einer möglichst vollständigen und gut gewählten Sammlung die Entwicklungsgeschichte unsers musikalischen Liedes in der Zeit von 1770 bis zu Goethes Tode oder noch etwas darüber hinaus ausschließlich an Goethischei, Liedertexten zu zeigen, ist mir schon längst als eine schöne und lohnende Aufgabe erschienen. Mit zweihundert Liedern etwa ließe sich die Sache machen. Freilich, alle Goethischen Texte, die überhaupt in dieser Zeit, und wäre es auch nur einmal, komponirt worden sind, in die Sammlung aufzunehmen würde nicht möglich sein; dazu ist ihre Zahl zu groß. Es wäre aber auch nicht nötig, denn es ist viel ganz wert- und gehaltloses darunter, auch viel gleichartiges, wovon ein paar Proben genügen. Namentlich unter dem, was die Leibkomponisten Goethes geliefert haben, die seine Lieder schließlich fast geschäftsmäßig „in Musik setzten," ist viel Schwaches, das weit hinter dem Gehalt der Texte zurückbleibt. Für die wissenschaftliche Goethe¬ forschung könnte ja der Sammlung in einem besondern Bande ein vollständiges, bibliographisch genaues und nach der Zeitfolge geordnetes thematisches Ver¬ zeichnis aller Goethischen Liederkompositionen von 1770 bis 1332 mit guten Registern beigegeben werden. Das wäre sogar sehr wünschenswert. Die Sammlung selbst aber müßte sich auf das Beste und Schönste beschränken, doch so, daß möglichst viel Texte, vor allen die bekanntesten und volks¬ tümlichsten, darin vertreten wären. Von Liedern, die besonders oft komponirt worden sind, müßten natürlich möglichst viel Kompositionen aus verschiednen Zeiten aufgenommen werden. Eine solche Sammlung würde sehr wertvoll sein. Sie würde nicht bloß in der lehrreichsten und eindringlichsten Weise die Geschichte unsers musika¬ lischen Liedes in der Zeit seiner glänzendsten Entfaltung zeigen, sie würde vor allem auch, zwar nicht Goethes Verhältnis zur Musik, wohl aber das Ver¬ hältnis der Musik zu Goethe zeigen, sie würde zeigen, wie seine Poesie auf den Fittichen der Musik allmählich ins Volk drang, wie sich die Musik all¬ mählich seiner Lieder bemächtigte, wie diese Strömung mit der Zeit breiter wurde, nicht nur dadurch, daß neu bekannt gewordne Gedichte alsbald auch ihre Komponisten fanden (manche sind ja gleich mit Musik erschienen), sondern auch dadurch, daß an den ältern Gedichten immer wieder neue Kom¬ ponisten, ja bisweilen sogar dieselben Komponisten zu wiederholten malen ihre Kräfte maßen. Die Musik ist es, die ein Lied volkstümlich macht. Ein Beweis dafür sind die Fehler, mit denen so viele Liedertexte umlaufen. Die Kompo¬ nisten haben sich oft, aus musikalischen Rücksichten, mit den Texten Änderungen erlaubt; mit diesen Änderungen sind die Lieder dann in den Volksmund ge¬ drungen, mit ihnen leben sie dort, die Fehler sind nicht wieder auszurotten. Die Sammlung könnte aber auch für das gebildete deutsche Haus ein musi- Grenzboten I 1897 W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/441>, abgerufen am 15.06.2024.