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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Essays

die nur versichern, daß für Knaben und Jünglinge die Beschäftigung mit
naturwissenschaftlichen Dingen wertvoller sei, als die Beschäftigung mit den
Schöpfungen des Geistes in der Sprache und der Kunst. Der intelligenteste
Mann einer großen Handelsstadt stimmt also darin noch mit Sokrates überein,
daß mau von Bäumen nicht soviel lernen könne wie von Menschen, oder, wie
es Samuel Johnson einmal ausdrückte, daß wir nicht dazu daheim, das
Wachstum der Pflanzen oder die Bewegung der Sterne zu beobachten.

Eine Anzahl der Aufsätze Gildemeisters (wir können aus dem reichen
Inhalte hier nur einzelne Vertreter der Gattung vorführen) bezieht sich auf
Politik und soziale Fragen- Roschers letztes Werk, die "Politik," wird be¬
sprochen: dem Bleibenden und sich immer Wiederholenden gegenüber, worauf
eine solche Darstellung des politischen Naturgrundes beruht, weist der Ver¬
fasser auf die unbeständigen Größen der mannichfach wechselnden Geschichte
hin. Die Menschen thun sich etwas darauf zu gute, wenn sie zu wissen
meinen, es sei alles schon einmal dagewesen, und doch sind ihre praktischen
Nutzanwendungen so verkehrt wie möglich, z. B. Prophezeiungen aus der
französischen Revolution auf das heute Bevorstehende. Der praktische Diplomat
kann darum auch aus der Zusammenstellung der konstanten Erscheinungen nichts
lernen, während die Kenntnis der sehr verschiednen Menschen seiner Zeit für ihn
von Wichtigkeit ist. In der politischen Betrachtung ist die Gefahr, verschieden¬
artiges auszugleichen, größer als die, gleichmäßiges zu verkennen. Denn der
Mensch verallgemeinert nur zu gern. Welchen Vorteil dennoch ein Buch wie
das Roschersche hat, läßt mau sich gern weiter von Gildemeister auseinander¬
setzen. Es wird z. B. der Fortschritt der Intelligenz erkannt aus den natür¬
lichen Grundlagen der sich ändernden Geschichte. Noschcr glaubt an diesen
Fortschritt, andre thun es nur sehr bedingt, wie z. B. Ranke, der noch
weniger dein "Moralischen Kapitel" Gildemeisters zustimmen würde. Aber
das ist Sache der Weltanschauung. Gildemeister findet, daß zwar nicht die
einzelnen Menschen moralisch besser geworden seien, wohl aber die öffentliche
Anschauung in moralischen Dingen sich gehoben habe, er findet dafür auch
bei Röscher Anhaltepunkte. Unsre persönliche Meinung darüber hat für den
Leser keinen Wert; in methodischer Hinsicht möchten wir jedem einzelnen
empfehlen, auch immer fein säuberlich zu unterscheiden zwischen Moral und
äußerer Wohlanständigkeit.

In dem Aufsatze "Jargon" werden wir aufmerksam gemacht auf den Aus¬
druck "sittlich," der, in Bezug auf materielle und wirtschaftliche Dinge ange¬
wandt, meistens nichts andres sei, als was der Titel des Aufsatzes bedeutet.
Vortrefflich! Nichts ist nämlich leichter, meint der Verfasser, indem er auf
deu Evangelisch-sozialen Kongreß hinweist, als die sozialen Fragen, denen
wirtschaftlich schwer beizukommen ist, von dem Standpunkte der Sittlichkeit
zu beleuchten. Der soziale Thatendrang sucht sich den leichtesten Ausweg und


Essays

die nur versichern, daß für Knaben und Jünglinge die Beschäftigung mit
naturwissenschaftlichen Dingen wertvoller sei, als die Beschäftigung mit den
Schöpfungen des Geistes in der Sprache und der Kunst. Der intelligenteste
Mann einer großen Handelsstadt stimmt also darin noch mit Sokrates überein,
daß mau von Bäumen nicht soviel lernen könne wie von Menschen, oder, wie
es Samuel Johnson einmal ausdrückte, daß wir nicht dazu daheim, das
Wachstum der Pflanzen oder die Bewegung der Sterne zu beobachten.

Eine Anzahl der Aufsätze Gildemeisters (wir können aus dem reichen
Inhalte hier nur einzelne Vertreter der Gattung vorführen) bezieht sich auf
Politik und soziale Fragen- Roschers letztes Werk, die „Politik," wird be¬
sprochen: dem Bleibenden und sich immer Wiederholenden gegenüber, worauf
eine solche Darstellung des politischen Naturgrundes beruht, weist der Ver¬
fasser auf die unbeständigen Größen der mannichfach wechselnden Geschichte
hin. Die Menschen thun sich etwas darauf zu gute, wenn sie zu wissen
meinen, es sei alles schon einmal dagewesen, und doch sind ihre praktischen
Nutzanwendungen so verkehrt wie möglich, z. B. Prophezeiungen aus der
französischen Revolution auf das heute Bevorstehende. Der praktische Diplomat
kann darum auch aus der Zusammenstellung der konstanten Erscheinungen nichts
lernen, während die Kenntnis der sehr verschiednen Menschen seiner Zeit für ihn
von Wichtigkeit ist. In der politischen Betrachtung ist die Gefahr, verschieden¬
artiges auszugleichen, größer als die, gleichmäßiges zu verkennen. Denn der
Mensch verallgemeinert nur zu gern. Welchen Vorteil dennoch ein Buch wie
das Roschersche hat, läßt mau sich gern weiter von Gildemeister auseinander¬
setzen. Es wird z. B. der Fortschritt der Intelligenz erkannt aus den natür¬
lichen Grundlagen der sich ändernden Geschichte. Noschcr glaubt an diesen
Fortschritt, andre thun es nur sehr bedingt, wie z. B. Ranke, der noch
weniger dein „Moralischen Kapitel" Gildemeisters zustimmen würde. Aber
das ist Sache der Weltanschauung. Gildemeister findet, daß zwar nicht die
einzelnen Menschen moralisch besser geworden seien, wohl aber die öffentliche
Anschauung in moralischen Dingen sich gehoben habe, er findet dafür auch
bei Röscher Anhaltepunkte. Unsre persönliche Meinung darüber hat für den
Leser keinen Wert; in methodischer Hinsicht möchten wir jedem einzelnen
empfehlen, auch immer fein säuberlich zu unterscheiden zwischen Moral und
äußerer Wohlanständigkeit.

In dem Aufsatze „Jargon" werden wir aufmerksam gemacht auf den Aus¬
druck „sittlich," der, in Bezug auf materielle und wirtschaftliche Dinge ange¬
wandt, meistens nichts andres sei, als was der Titel des Aufsatzes bedeutet.
Vortrefflich! Nichts ist nämlich leichter, meint der Verfasser, indem er auf
deu Evangelisch-sozialen Kongreß hinweist, als die sozialen Fragen, denen
wirtschaftlich schwer beizukommen ist, von dem Standpunkte der Sittlichkeit
zu beleuchten. Der soziale Thatendrang sucht sich den leichtesten Ausweg und


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[0047] Essays die nur versichern, daß für Knaben und Jünglinge die Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Dingen wertvoller sei, als die Beschäftigung mit den Schöpfungen des Geistes in der Sprache und der Kunst. Der intelligenteste Mann einer großen Handelsstadt stimmt also darin noch mit Sokrates überein, daß mau von Bäumen nicht soviel lernen könne wie von Menschen, oder, wie es Samuel Johnson einmal ausdrückte, daß wir nicht dazu daheim, das Wachstum der Pflanzen oder die Bewegung der Sterne zu beobachten. Eine Anzahl der Aufsätze Gildemeisters (wir können aus dem reichen Inhalte hier nur einzelne Vertreter der Gattung vorführen) bezieht sich auf Politik und soziale Fragen- Roschers letztes Werk, die „Politik," wird be¬ sprochen: dem Bleibenden und sich immer Wiederholenden gegenüber, worauf eine solche Darstellung des politischen Naturgrundes beruht, weist der Ver¬ fasser auf die unbeständigen Größen der mannichfach wechselnden Geschichte hin. Die Menschen thun sich etwas darauf zu gute, wenn sie zu wissen meinen, es sei alles schon einmal dagewesen, und doch sind ihre praktischen Nutzanwendungen so verkehrt wie möglich, z. B. Prophezeiungen aus der französischen Revolution auf das heute Bevorstehende. Der praktische Diplomat kann darum auch aus der Zusammenstellung der konstanten Erscheinungen nichts lernen, während die Kenntnis der sehr verschiednen Menschen seiner Zeit für ihn von Wichtigkeit ist. In der politischen Betrachtung ist die Gefahr, verschieden¬ artiges auszugleichen, größer als die, gleichmäßiges zu verkennen. Denn der Mensch verallgemeinert nur zu gern. Welchen Vorteil dennoch ein Buch wie das Roschersche hat, läßt mau sich gern weiter von Gildemeister auseinander¬ setzen. Es wird z. B. der Fortschritt der Intelligenz erkannt aus den natür¬ lichen Grundlagen der sich ändernden Geschichte. Noschcr glaubt an diesen Fortschritt, andre thun es nur sehr bedingt, wie z. B. Ranke, der noch weniger dein „Moralischen Kapitel" Gildemeisters zustimmen würde. Aber das ist Sache der Weltanschauung. Gildemeister findet, daß zwar nicht die einzelnen Menschen moralisch besser geworden seien, wohl aber die öffentliche Anschauung in moralischen Dingen sich gehoben habe, er findet dafür auch bei Röscher Anhaltepunkte. Unsre persönliche Meinung darüber hat für den Leser keinen Wert; in methodischer Hinsicht möchten wir jedem einzelnen empfehlen, auch immer fein säuberlich zu unterscheiden zwischen Moral und äußerer Wohlanständigkeit. In dem Aufsatze „Jargon" werden wir aufmerksam gemacht auf den Aus¬ druck „sittlich," der, in Bezug auf materielle und wirtschaftliche Dinge ange¬ wandt, meistens nichts andres sei, als was der Titel des Aufsatzes bedeutet. Vortrefflich! Nichts ist nämlich leichter, meint der Verfasser, indem er auf deu Evangelisch-sozialen Kongreß hinweist, als die sozialen Fragen, denen wirtschaftlich schwer beizukommen ist, von dem Standpunkte der Sittlichkeit zu beleuchten. Der soziale Thatendrang sucht sich den leichtesten Ausweg und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/47>, abgerufen am 21.05.2024.