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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Aufstand in Hamburg

unbefangne und unabhängige Leute, die sich an Ort und Stelle ein Urteil zu
bilden versuchten, den ganzen Streik für eine "sozialdemokratische Mache" und
zwar eine teilweise sehr geschickte, raffinirte Mache erklärten? Der Verlauf
der Sache hat dieses Urteil in hohem Maße bestätigt und damit der genannten
Partei einen Vorwurf angeheftet, so ungeheuerlich schwer, so infam, daß man
in der That nur mit dem äußersten Widerstreben daran glauben kann.

Die sozialdemokratischen Parteiführer haben wiederholt öffentlich kund ge¬
geben, daß sie von dem Aufstand abgeraten und nach seinem Ausbruch zur An¬
nahme des bekannten Senatsvorschlags, d. h. zur Wiederaufnahme der Arbeit
unter den alten Bedingungen, also zur Unterwerfung, ermahnt Hütten. Kann
man das glauben? Soll man auch das für Lug und Trug halten? Der Be¬
weis dafür, daß sie die Wahrheit sagen, ist nirgends gebracht. Mit Recht wird
im Gegenteil auf die hinreichend erprobte Macht der Führer über die Arbeiter¬
massen hingewiesen, dann auf die Leichtigkeit des doppelten Spiels durch die
wohlorganisirte mündliche Beeinflussung der Arbeiter mittels einer Schar blind
ergebner, agitatorisch mustergiltig geschulter Genossen neben jenen öffentlichen,
gleichsam offiziellen Kundgebungen. Vor allem aber muß stutzig machen das
Verhalten der sozialdemokratischen Presse, die mit wahrer Virtuosität -- immer
neben den fast komisch davon abstechenden offiziellen Warnungen -- alles aufbot,
die Ausstüudigeu und viele andre an das gute Recht, ja auch an die Aus¬
sichten auf Erfolg und reichliche Unterstützung glauben zu macheu, mindestens
aber an die heilige Pflicht, für die Sache des Ausstauds sogar zu hungern.
Man lese die führenden sozialdemokratischen Blätter der letzten Wochen unbe-
fangen durch, kann man da im Ernst wohl glauben, daß die sozialdemokratische
Partei nicht schuld an diesem Aufstand, nicht verantwortlich für seine Folgen
sei? Und endlich nehme man noch einmal die geradezu klassischen Reden vor,
die der sozialdemokratische Agitator Legler in Hamburg vor den Arbeitern ge¬
halten haben soll, um sie angeblich zur Annahme des Senatsvorschlags zu
bewegen. Wie die Presse sie mitgeteilt hat, und wie wir sie als bekannt
voraussetzen, waren sie mustergiltig eingerichtet, das Gegenteil zu bewirken.
Wenn in diesen "beruhigenden" Versammlungen die Arbeiter, wie erzählt wird,
den Rednern zugerufen haben, die Reden seien unnötig, sie wüßten, daß sie
auszuhalten hätten, so scheint damit die Lage vielleicht am richtigsten gekenn¬
zeichnet worden zu sein. Die Parole war ausgegeben, mochte offiziell geredet
werden, was da wollte!

Verhält sich das alles so, dann haben wir ein Beispiel von Doppel¬
züngigkeit, Heuchelei, Lüge und Verrat an der Vertrauensseligkeit der Ham¬
burger Arbeiter erlebt, wie wir es uns nicht trauriger denken können, einen
Vorgang, der zum Gericht werden müßte an den Schuldigen, wenn im deutschen
Volke noch ein Funke von Gefühl für Wahrheit und Gerechtigkeit lebt, und
wenn die deutschen Arbeiter nicht die heillosesten Narren der Welt sind.


Der Aufstand in Hamburg

unbefangne und unabhängige Leute, die sich an Ort und Stelle ein Urteil zu
bilden versuchten, den ganzen Streik für eine „sozialdemokratische Mache" und
zwar eine teilweise sehr geschickte, raffinirte Mache erklärten? Der Verlauf
der Sache hat dieses Urteil in hohem Maße bestätigt und damit der genannten
Partei einen Vorwurf angeheftet, so ungeheuerlich schwer, so infam, daß man
in der That nur mit dem äußersten Widerstreben daran glauben kann.

Die sozialdemokratischen Parteiführer haben wiederholt öffentlich kund ge¬
geben, daß sie von dem Aufstand abgeraten und nach seinem Ausbruch zur An¬
nahme des bekannten Senatsvorschlags, d. h. zur Wiederaufnahme der Arbeit
unter den alten Bedingungen, also zur Unterwerfung, ermahnt Hütten. Kann
man das glauben? Soll man auch das für Lug und Trug halten? Der Be¬
weis dafür, daß sie die Wahrheit sagen, ist nirgends gebracht. Mit Recht wird
im Gegenteil auf die hinreichend erprobte Macht der Führer über die Arbeiter¬
massen hingewiesen, dann auf die Leichtigkeit des doppelten Spiels durch die
wohlorganisirte mündliche Beeinflussung der Arbeiter mittels einer Schar blind
ergebner, agitatorisch mustergiltig geschulter Genossen neben jenen öffentlichen,
gleichsam offiziellen Kundgebungen. Vor allem aber muß stutzig machen das
Verhalten der sozialdemokratischen Presse, die mit wahrer Virtuosität — immer
neben den fast komisch davon abstechenden offiziellen Warnungen — alles aufbot,
die Ausstüudigeu und viele andre an das gute Recht, ja auch an die Aus¬
sichten auf Erfolg und reichliche Unterstützung glauben zu macheu, mindestens
aber an die heilige Pflicht, für die Sache des Ausstauds sogar zu hungern.
Man lese die führenden sozialdemokratischen Blätter der letzten Wochen unbe-
fangen durch, kann man da im Ernst wohl glauben, daß die sozialdemokratische
Partei nicht schuld an diesem Aufstand, nicht verantwortlich für seine Folgen
sei? Und endlich nehme man noch einmal die geradezu klassischen Reden vor,
die der sozialdemokratische Agitator Legler in Hamburg vor den Arbeitern ge¬
halten haben soll, um sie angeblich zur Annahme des Senatsvorschlags zu
bewegen. Wie die Presse sie mitgeteilt hat, und wie wir sie als bekannt
voraussetzen, waren sie mustergiltig eingerichtet, das Gegenteil zu bewirken.
Wenn in diesen „beruhigenden" Versammlungen die Arbeiter, wie erzählt wird,
den Rednern zugerufen haben, die Reden seien unnötig, sie wüßten, daß sie
auszuhalten hätten, so scheint damit die Lage vielleicht am richtigsten gekenn¬
zeichnet worden zu sein. Die Parole war ausgegeben, mochte offiziell geredet
werden, was da wollte!

Verhält sich das alles so, dann haben wir ein Beispiel von Doppel¬
züngigkeit, Heuchelei, Lüge und Verrat an der Vertrauensseligkeit der Ham¬
burger Arbeiter erlebt, wie wir es uns nicht trauriger denken können, einen
Vorgang, der zum Gericht werden müßte an den Schuldigen, wenn im deutschen
Volke noch ein Funke von Gefühl für Wahrheit und Gerechtigkeit lebt, und
wenn die deutschen Arbeiter nicht die heillosesten Narren der Welt sind.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/53>, abgerufen am 15.06.2024.