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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Aufstand in Hamburg

die Möglichkeit gewaltsamen Eingreifens der Staatsgewalt im Wirtschafts¬
leben ist, aber schlagend, so meinen wir, hat der Hamburger Aufstand wenigstens
nach einer Richtung gelehrt, daß es der Staat bei uns an etwas fehlen läßt,
was er sicher leisten kann und leisten soll. Noch heute ist, wie wir schon
sagten, nicht einmal der Thatbestand festgestellt, erst heute soll man, wie die
Presse berichtet, dabei sein, von Staats wegen die Arbeitsbedingungen vor
Ausbruch des Streiks, die Beschwerdepunkte und was damit zusammenhängt,
zu "erheben." Als im Reichstage der Aufstand zur Sprache kam, da konnte die
Regierung nur mit unbewiesenen einzelnen Behauptungen einer Seite aufwarten,
die deu Kampf anfachten, nicht dämpften. Ob man am Regierungstisch das
Bedauerliche dieser Lage empfunden hat, wiffen wir nicht. Wir haben es em¬
pfunden, und wir müßten es für einen unbegreiflichen Fehler halten, wenn
nicht endlich dieser Aufstand die verbündeten Regierungen dazu veranlaßte, das
dringend notwendige Arbeitsamt für Deutschland ins Leben zu rufen, dessen
Aufgabe auch die unverzügliche Feststellung des Thatbestands in allen wichtigern
Ausstandsfälleu sein würde. Die französischen Einrichtungen geben dafür
ungefähr einen Anhalt. Gerade der in Hamburg wahrscheinlich gewordnen
"sozialdemokratischen Mache" gegenüber ist das das zunächst vorzuschlagende
Mittel.

Man hat in neuester Zeit vielfach von einem "neuesten" Kurs geredet.
Zum guten Teil beruht dieses Gerede auf einer mißverständlichen oder will¬
kürlichen Deutung des "neuen" Kurses. Der "neue" Kurs hat niemals ge¬
wollt, was die deutschen Marxisten sozialdemvkratischer und nationalsozialer
Schattirung als Sozialreform wollen, und der "neueste" Kurs besteht nicht
in der Rückkehr zum Mcmchestertum in der Sozialpolitik, mögen die um Vebel
und Nciumann wie die um den Freiherr" von Stumm auch uoch so sehr,
bewußt und unbewußt, darin wetteifern, dem deutschen Kaiser das Vertrauen
der "armen Leute," der arbeitenden Masse zu rauben. Wir werden den
"neuesten" Kurs, wenn schon ein solcher genannt werden soll, segnen, wenn
er an Stelle der Unklarheit, Verwirrung und Zersplitterung auf dem Gebiete
der sozialen Reformen Klarheit, Sicherheit und weitansblickende, zusammenfassende
Planmäßigkeit schafft.




Der Aufstand in Hamburg

die Möglichkeit gewaltsamen Eingreifens der Staatsgewalt im Wirtschafts¬
leben ist, aber schlagend, so meinen wir, hat der Hamburger Aufstand wenigstens
nach einer Richtung gelehrt, daß es der Staat bei uns an etwas fehlen läßt,
was er sicher leisten kann und leisten soll. Noch heute ist, wie wir schon
sagten, nicht einmal der Thatbestand festgestellt, erst heute soll man, wie die
Presse berichtet, dabei sein, von Staats wegen die Arbeitsbedingungen vor
Ausbruch des Streiks, die Beschwerdepunkte und was damit zusammenhängt,
zu „erheben." Als im Reichstage der Aufstand zur Sprache kam, da konnte die
Regierung nur mit unbewiesenen einzelnen Behauptungen einer Seite aufwarten,
die deu Kampf anfachten, nicht dämpften. Ob man am Regierungstisch das
Bedauerliche dieser Lage empfunden hat, wiffen wir nicht. Wir haben es em¬
pfunden, und wir müßten es für einen unbegreiflichen Fehler halten, wenn
nicht endlich dieser Aufstand die verbündeten Regierungen dazu veranlaßte, das
dringend notwendige Arbeitsamt für Deutschland ins Leben zu rufen, dessen
Aufgabe auch die unverzügliche Feststellung des Thatbestands in allen wichtigern
Ausstandsfälleu sein würde. Die französischen Einrichtungen geben dafür
ungefähr einen Anhalt. Gerade der in Hamburg wahrscheinlich gewordnen
„sozialdemokratischen Mache" gegenüber ist das das zunächst vorzuschlagende
Mittel.

Man hat in neuester Zeit vielfach von einem „neuesten" Kurs geredet.
Zum guten Teil beruht dieses Gerede auf einer mißverständlichen oder will¬
kürlichen Deutung des „neuen" Kurses. Der „neue" Kurs hat niemals ge¬
wollt, was die deutschen Marxisten sozialdemvkratischer und nationalsozialer
Schattirung als Sozialreform wollen, und der „neueste" Kurs besteht nicht
in der Rückkehr zum Mcmchestertum in der Sozialpolitik, mögen die um Vebel
und Nciumann wie die um den Freiherr» von Stumm auch uoch so sehr,
bewußt und unbewußt, darin wetteifern, dem deutschen Kaiser das Vertrauen
der „armen Leute," der arbeitenden Masse zu rauben. Wir werden den
„neuesten" Kurs, wenn schon ein solcher genannt werden soll, segnen, wenn
er an Stelle der Unklarheit, Verwirrung und Zersplitterung auf dem Gebiete
der sozialen Reformen Klarheit, Sicherheit und weitansblickende, zusammenfassende
Planmäßigkeit schafft.




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[0055] Der Aufstand in Hamburg die Möglichkeit gewaltsamen Eingreifens der Staatsgewalt im Wirtschafts¬ leben ist, aber schlagend, so meinen wir, hat der Hamburger Aufstand wenigstens nach einer Richtung gelehrt, daß es der Staat bei uns an etwas fehlen läßt, was er sicher leisten kann und leisten soll. Noch heute ist, wie wir schon sagten, nicht einmal der Thatbestand festgestellt, erst heute soll man, wie die Presse berichtet, dabei sein, von Staats wegen die Arbeitsbedingungen vor Ausbruch des Streiks, die Beschwerdepunkte und was damit zusammenhängt, zu „erheben." Als im Reichstage der Aufstand zur Sprache kam, da konnte die Regierung nur mit unbewiesenen einzelnen Behauptungen einer Seite aufwarten, die deu Kampf anfachten, nicht dämpften. Ob man am Regierungstisch das Bedauerliche dieser Lage empfunden hat, wiffen wir nicht. Wir haben es em¬ pfunden, und wir müßten es für einen unbegreiflichen Fehler halten, wenn nicht endlich dieser Aufstand die verbündeten Regierungen dazu veranlaßte, das dringend notwendige Arbeitsamt für Deutschland ins Leben zu rufen, dessen Aufgabe auch die unverzügliche Feststellung des Thatbestands in allen wichtigern Ausstandsfälleu sein würde. Die französischen Einrichtungen geben dafür ungefähr einen Anhalt. Gerade der in Hamburg wahrscheinlich gewordnen „sozialdemokratischen Mache" gegenüber ist das das zunächst vorzuschlagende Mittel. Man hat in neuester Zeit vielfach von einem „neuesten" Kurs geredet. Zum guten Teil beruht dieses Gerede auf einer mißverständlichen oder will¬ kürlichen Deutung des „neuen" Kurses. Der „neue" Kurs hat niemals ge¬ wollt, was die deutschen Marxisten sozialdemvkratischer und nationalsozialer Schattirung als Sozialreform wollen, und der „neueste" Kurs besteht nicht in der Rückkehr zum Mcmchestertum in der Sozialpolitik, mögen die um Vebel und Nciumann wie die um den Freiherr» von Stumm auch uoch so sehr, bewußt und unbewußt, darin wetteifern, dem deutschen Kaiser das Vertrauen der „armen Leute," der arbeitenden Masse zu rauben. Wir werden den „neuesten" Kurs, wenn schon ein solcher genannt werden soll, segnen, wenn er an Stelle der Unklarheit, Verwirrung und Zersplitterung auf dem Gebiete der sozialen Reformen Klarheit, Sicherheit und weitansblickende, zusammenfassende Planmäßigkeit schafft.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/55>, abgerufen am 21.05.2024.