Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Neue Novellen

lagsbuchhaudluug, 1896>. Aber Erfindung und Charakteristik aller drei: "Der
Freiherr," "Regulus" und "Der Heiland der Tiere" leidet unter der Über¬
reizung des Gefühls, das der Dichter seineu Gestalten giebt. Die bedeutendste,
in ihrer ersten Anlage und dem Motiv, durch das der bäuerliche Held zum
Heiland der Tiere wird, wirklich schöne und ergreifende Novelle wird im Fort¬
gang immer greller, phantastischer, unmöglicher oder vielmehr -- da am Ende
alles möglich ist -- immer ungesunder, immer weniger überzeugend. Der
Drang zum Neuen ist in dem Verfasser, man könnte sagen, der Natur zum
Trotz lebendig; im Gegensatz zu vielen, die das Brett bohren, wo es am
dünnsten ist, hat Prinz Carolath eine entschiedn" Vorliebe, an den knorrigsten
Stellen sein Heil zu versuchen. So machen seine Novellen vor der Hand
nur einen geteilten Eindruck.

Die schon in zweiter Auflage vorliegenden Novellen Villa Mohl und
mehr von Gustav und Ina vou Buch Wald (Leipzig, Rob. Friese, 1896)
verraten lebendigen Anteil an den Stoffen und eine frische Fabulirlust des
Ehe- oder Geschwisterpaars, das diese Geschichten ("Villa Mohl," "Der
Klausner von Steppenfels," "Die Kaiserurkunde von Lachsbeck") verfaßt hat.
Es sind eigentlich keine Novellen, sondern aufs äußerste zusammengedrängte
kleine Romane, die in solcher Gestalt nun freilich weder seelisch begründet, noch
äußerlich motivirt, sondern nur in den Spitzen ihrer Charakteristik und
Stimmung erfaßt sind. Dasselbe gilt von den Novellen von W. Jmmisch:
Hochflut der Liebe (Chemnitz, Josef Fetter, 1896). Die Novellen "Stür¬
mische Herzen" und "Irrlicht" sind Romane; die erste, die eine Stofffülle
birgt, die in so knapper Form nicht innerlich belebt werden kann, erscheint
noch dazu mit nüchtern-lehrhafter Prosa durchsetzt. Von den zwei Novellen:
An Weibes Herzen von Gustav Kutscher (Berlin, Deutsche Schriftsteller¬
genossenschaft) ist die erste, "Heilige Liebe," die beste, sie enthält in dem Ver¬
zicht des schwindsüchtiger Mädchens auf Liebe und Leben ein schönes Motiv.

Einen breiten Raum in der neuesten Novellistik nimmt die ethnographische
Novelle ein, die ihre Wirkungen weniger in der Stärke der poetischen Erfin¬
dung und Gestaltung, als in der Schilderung fremdartiger Natur und
besondrer Sitten sucht. Natürlich kann beides Hand in Hand gehen; unter
Umständen können gerade den Voraussetzungen und Überlieferungen fremder
Kulturzustände poetisch bedeutende, menschlich ergreifende Konflikte, originelle
Gestalten entwachsen. Das hat Leopold Kompert, der Verfasser der Geschichten
"Aus dem Ghetto," der Dichter der Prachtnovelle "Christian und Lea" fehr
wohl gewußt. Gegen einen Nachfolger wie S. Kvhn und dessen Alte und
neue Erzählungen aus dem böhmischen Ghetto (Zürich, Cäsar
Schmidt, 1896) würde er sich aber wahrscheinlich entschieden verwahrt haben.
Die Erzählungen "Ein anderes," "Konfessionslos," "Zurückerstattet," "Ein
glücklicher Wurf," "Die beiden Steine" sind von einer fanatischen und hoch-


Neue Novellen

lagsbuchhaudluug, 1896>. Aber Erfindung und Charakteristik aller drei: „Der
Freiherr," „Regulus" und „Der Heiland der Tiere" leidet unter der Über¬
reizung des Gefühls, das der Dichter seineu Gestalten giebt. Die bedeutendste,
in ihrer ersten Anlage und dem Motiv, durch das der bäuerliche Held zum
Heiland der Tiere wird, wirklich schöne und ergreifende Novelle wird im Fort¬
gang immer greller, phantastischer, unmöglicher oder vielmehr — da am Ende
alles möglich ist — immer ungesunder, immer weniger überzeugend. Der
Drang zum Neuen ist in dem Verfasser, man könnte sagen, der Natur zum
Trotz lebendig; im Gegensatz zu vielen, die das Brett bohren, wo es am
dünnsten ist, hat Prinz Carolath eine entschiedn« Vorliebe, an den knorrigsten
Stellen sein Heil zu versuchen. So machen seine Novellen vor der Hand
nur einen geteilten Eindruck.

Die schon in zweiter Auflage vorliegenden Novellen Villa Mohl und
mehr von Gustav und Ina vou Buch Wald (Leipzig, Rob. Friese, 1896)
verraten lebendigen Anteil an den Stoffen und eine frische Fabulirlust des
Ehe- oder Geschwisterpaars, das diese Geschichten („Villa Mohl," „Der
Klausner von Steppenfels," „Die Kaiserurkunde von Lachsbeck") verfaßt hat.
Es sind eigentlich keine Novellen, sondern aufs äußerste zusammengedrängte
kleine Romane, die in solcher Gestalt nun freilich weder seelisch begründet, noch
äußerlich motivirt, sondern nur in den Spitzen ihrer Charakteristik und
Stimmung erfaßt sind. Dasselbe gilt von den Novellen von W. Jmmisch:
Hochflut der Liebe (Chemnitz, Josef Fetter, 1896). Die Novellen „Stür¬
mische Herzen" und „Irrlicht" sind Romane; die erste, die eine Stofffülle
birgt, die in so knapper Form nicht innerlich belebt werden kann, erscheint
noch dazu mit nüchtern-lehrhafter Prosa durchsetzt. Von den zwei Novellen:
An Weibes Herzen von Gustav Kutscher (Berlin, Deutsche Schriftsteller¬
genossenschaft) ist die erste, „Heilige Liebe," die beste, sie enthält in dem Ver¬
zicht des schwindsüchtiger Mädchens auf Liebe und Leben ein schönes Motiv.

Einen breiten Raum in der neuesten Novellistik nimmt die ethnographische
Novelle ein, die ihre Wirkungen weniger in der Stärke der poetischen Erfin¬
dung und Gestaltung, als in der Schilderung fremdartiger Natur und
besondrer Sitten sucht. Natürlich kann beides Hand in Hand gehen; unter
Umständen können gerade den Voraussetzungen und Überlieferungen fremder
Kulturzustände poetisch bedeutende, menschlich ergreifende Konflikte, originelle
Gestalten entwachsen. Das hat Leopold Kompert, der Verfasser der Geschichten
„Aus dem Ghetto," der Dichter der Prachtnovelle „Christian und Lea" fehr
wohl gewußt. Gegen einen Nachfolger wie S. Kvhn und dessen Alte und
neue Erzählungen aus dem böhmischen Ghetto (Zürich, Cäsar
Schmidt, 1896) würde er sich aber wahrscheinlich entschieden verwahrt haben.
Die Erzählungen „Ein anderes," „Konfessionslos," „Zurückerstattet," „Ein
glücklicher Wurf," „Die beiden Steine" sind von einer fanatischen und hoch-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0568" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224814"/>
          <fw type="header" place="top"> Neue Novellen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1714" prev="#ID_1713"> lagsbuchhaudluug, 1896&gt;. Aber Erfindung und Charakteristik aller drei: &#x201E;Der<lb/>
Freiherr," &#x201E;Regulus" und &#x201E;Der Heiland der Tiere" leidet unter der Über¬<lb/>
reizung des Gefühls, das der Dichter seineu Gestalten giebt. Die bedeutendste,<lb/>
in ihrer ersten Anlage und dem Motiv, durch das der bäuerliche Held zum<lb/>
Heiland der Tiere wird, wirklich schöne und ergreifende Novelle wird im Fort¬<lb/>
gang immer greller, phantastischer, unmöglicher oder vielmehr &#x2014; da am Ende<lb/>
alles möglich ist &#x2014; immer ungesunder, immer weniger überzeugend. Der<lb/>
Drang zum Neuen ist in dem Verfasser, man könnte sagen, der Natur zum<lb/>
Trotz lebendig; im Gegensatz zu vielen, die das Brett bohren, wo es am<lb/>
dünnsten ist, hat Prinz Carolath eine entschiedn« Vorliebe, an den knorrigsten<lb/>
Stellen sein Heil zu versuchen. So machen seine Novellen vor der Hand<lb/>
nur einen geteilten Eindruck.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1715"> Die schon in zweiter Auflage vorliegenden Novellen Villa Mohl und<lb/>
mehr von Gustav und Ina vou Buch Wald (Leipzig, Rob. Friese, 1896)<lb/>
verraten lebendigen Anteil an den Stoffen und eine frische Fabulirlust des<lb/>
Ehe- oder Geschwisterpaars, das diese Geschichten (&#x201E;Villa Mohl," &#x201E;Der<lb/>
Klausner von Steppenfels," &#x201E;Die Kaiserurkunde von Lachsbeck") verfaßt hat.<lb/>
Es sind eigentlich keine Novellen, sondern aufs äußerste zusammengedrängte<lb/>
kleine Romane, die in solcher Gestalt nun freilich weder seelisch begründet, noch<lb/>
äußerlich motivirt, sondern nur in den Spitzen ihrer Charakteristik und<lb/>
Stimmung erfaßt sind. Dasselbe gilt von den Novellen von W. Jmmisch:<lb/>
Hochflut der Liebe (Chemnitz, Josef Fetter, 1896). Die Novellen &#x201E;Stür¬<lb/>
mische Herzen" und &#x201E;Irrlicht" sind Romane; die erste, die eine Stofffülle<lb/>
birgt, die in so knapper Form nicht innerlich belebt werden kann, erscheint<lb/>
noch dazu mit nüchtern-lehrhafter Prosa durchsetzt. Von den zwei Novellen:<lb/>
An Weibes Herzen von Gustav Kutscher (Berlin, Deutsche Schriftsteller¬<lb/>
genossenschaft) ist die erste, &#x201E;Heilige Liebe," die beste, sie enthält in dem Ver¬<lb/>
zicht des schwindsüchtiger Mädchens auf Liebe und Leben ein schönes Motiv.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1716"> Einen breiten Raum in der neuesten Novellistik nimmt die ethnographische<lb/>
Novelle ein, die ihre Wirkungen weniger in der Stärke der poetischen Erfin¬<lb/>
dung und Gestaltung, als in der Schilderung fremdartiger Natur und<lb/>
besondrer Sitten sucht. Natürlich kann beides Hand in Hand gehen; unter<lb/>
Umständen können gerade den Voraussetzungen und Überlieferungen fremder<lb/>
Kulturzustände poetisch bedeutende, menschlich ergreifende Konflikte, originelle<lb/>
Gestalten entwachsen. Das hat Leopold Kompert, der Verfasser der Geschichten<lb/>
&#x201E;Aus dem Ghetto," der Dichter der Prachtnovelle &#x201E;Christian und Lea" fehr<lb/>
wohl gewußt. Gegen einen Nachfolger wie S. Kvhn und dessen Alte und<lb/>
neue Erzählungen aus dem böhmischen Ghetto (Zürich, Cäsar<lb/>
Schmidt, 1896) würde er sich aber wahrscheinlich entschieden verwahrt haben.<lb/>
Die Erzählungen &#x201E;Ein anderes," &#x201E;Konfessionslos," &#x201E;Zurückerstattet," &#x201E;Ein<lb/>
glücklicher Wurf," &#x201E;Die beiden Steine" sind von einer fanatischen und hoch-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0568] Neue Novellen lagsbuchhaudluug, 1896>. Aber Erfindung und Charakteristik aller drei: „Der Freiherr," „Regulus" und „Der Heiland der Tiere" leidet unter der Über¬ reizung des Gefühls, das der Dichter seineu Gestalten giebt. Die bedeutendste, in ihrer ersten Anlage und dem Motiv, durch das der bäuerliche Held zum Heiland der Tiere wird, wirklich schöne und ergreifende Novelle wird im Fort¬ gang immer greller, phantastischer, unmöglicher oder vielmehr — da am Ende alles möglich ist — immer ungesunder, immer weniger überzeugend. Der Drang zum Neuen ist in dem Verfasser, man könnte sagen, der Natur zum Trotz lebendig; im Gegensatz zu vielen, die das Brett bohren, wo es am dünnsten ist, hat Prinz Carolath eine entschiedn« Vorliebe, an den knorrigsten Stellen sein Heil zu versuchen. So machen seine Novellen vor der Hand nur einen geteilten Eindruck. Die schon in zweiter Auflage vorliegenden Novellen Villa Mohl und mehr von Gustav und Ina vou Buch Wald (Leipzig, Rob. Friese, 1896) verraten lebendigen Anteil an den Stoffen und eine frische Fabulirlust des Ehe- oder Geschwisterpaars, das diese Geschichten („Villa Mohl," „Der Klausner von Steppenfels," „Die Kaiserurkunde von Lachsbeck") verfaßt hat. Es sind eigentlich keine Novellen, sondern aufs äußerste zusammengedrängte kleine Romane, die in solcher Gestalt nun freilich weder seelisch begründet, noch äußerlich motivirt, sondern nur in den Spitzen ihrer Charakteristik und Stimmung erfaßt sind. Dasselbe gilt von den Novellen von W. Jmmisch: Hochflut der Liebe (Chemnitz, Josef Fetter, 1896). Die Novellen „Stür¬ mische Herzen" und „Irrlicht" sind Romane; die erste, die eine Stofffülle birgt, die in so knapper Form nicht innerlich belebt werden kann, erscheint noch dazu mit nüchtern-lehrhafter Prosa durchsetzt. Von den zwei Novellen: An Weibes Herzen von Gustav Kutscher (Berlin, Deutsche Schriftsteller¬ genossenschaft) ist die erste, „Heilige Liebe," die beste, sie enthält in dem Ver¬ zicht des schwindsüchtiger Mädchens auf Liebe und Leben ein schönes Motiv. Einen breiten Raum in der neuesten Novellistik nimmt die ethnographische Novelle ein, die ihre Wirkungen weniger in der Stärke der poetischen Erfin¬ dung und Gestaltung, als in der Schilderung fremdartiger Natur und besondrer Sitten sucht. Natürlich kann beides Hand in Hand gehen; unter Umständen können gerade den Voraussetzungen und Überlieferungen fremder Kulturzustände poetisch bedeutende, menschlich ergreifende Konflikte, originelle Gestalten entwachsen. Das hat Leopold Kompert, der Verfasser der Geschichten „Aus dem Ghetto," der Dichter der Prachtnovelle „Christian und Lea" fehr wohl gewußt. Gegen einen Nachfolger wie S. Kvhn und dessen Alte und neue Erzählungen aus dem böhmischen Ghetto (Zürich, Cäsar Schmidt, 1896) würde er sich aber wahrscheinlich entschieden verwahrt haben. Die Erzählungen „Ein anderes," „Konfessionslos," „Zurückerstattet," „Ein glücklicher Wurf," „Die beiden Steine" sind von einer fanatischen und hoch-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/568
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/568>, abgerufen am 21.05.2024.