Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der verfall des historischen Romans

A. H. Salvandy. Es wäre nicht nötig gewesen, dies Stück Romantik aus
dem Weltwinkel von Bvarn und Navarra, ans dem man ehedem mit Vorliebe
die Operntcxte wählte, für deutsche Leser aufzufrischen. Wenn wir nur ahnen
und vielleicht lernen sollen, "welche ungeahnten Wonnen großangelegte Seelen
in dem Kampfe gegen widrige Schicksalswendungen und bei der Entdeckung
über den Umfang ihrer Kräfte und die Macht ihres Willens empfinden," so
giebt es geschichtliche Stoffe und Schicksale genug, die uns näher liegen und
uns lebendiger ergreifen, als die Grandezza, der Hidalgostolz und das auf¬
gebauschte Gefühl der Schwestern von Mauloon und ihrer spanisch-baskisch-
srauzösischeu Kavaliere.

Daß es freilich der heimatliche Boden und die Zeit allein nicht thun,
zeigt der historische Roman aus der Reformationszeit: Um Glauben und
Glück von Anton Ohorn (Chemnitz, 1896, L. Richters Verlag). Der Ver¬
fasser macht einen ehrlichen und wohlgemeinten Versuch, die chronikalischen
Berichte über die späte Reformation in der Stadt Chemnitz und in dem herzog¬
lichen Sachsen überhaupt mit einer Erfindung zu verbinden, die uns auf dem
lokalen Boden seiner Erzählung und in den Sitten und Empfindungen der
Lebenskreise heimisch machen soll, in denen die Geschichte vor sich geht. Die
Handlung selbst hat einen ziemlich einfachen Verlauf, was kein Vorwurf
wäre, wenn der rechte warme Odem einer Zeit voll heißer Kämpfe, schwerer
Zweifel, gewaltigen Glaubens und kühner Thatkraft hindurchwehte, wenn die
Charaktere von dem großen Zuge der Zeit erfaßt und getrieben wären. Wohl
ist es wahr, daß auch solche Zeit die nüchternen Naturen nur mäßig ergreift
und bewegt, und daß das Alltagsleben seineu Gang weiter geht; aber durch
die Wiedergabe des schon unzähligemal Geschilderten, die Erneuerung von
Figuren, die fast Typen geworden sind, wie die der italienischem Masken¬
komödie, wird kein historischer Roman von wirklich dichterischem Gehalt hervor¬
gebracht. Es sind hübsche Ansätze in Ohorns Erzählung, so der Charakter
des Leinewebers Niklas Schmidt, den es unter die Prädikcmten treibt, die Er¬
zählung von der Aufführung des geistlichen Spiels "Der Sünder in Nöten,"
der letzte Kampf um das Fortbestehen oder die Aufhebung des Barfüßcrklosters
in Chemnitz und manches andre, aber daneben läuft, bis auf die üblichen
Landsknechte, den überlieferten Mordbrenner, den Fahrenden und andre Füll-
figuren, viel zu viel Konventionelles und Unbelebtes mit unter, die Rückwirkung
der Reformation auf Leben und Wesen aller Einzelnen erreicht nicht entfernt
die Unmittelbarkeit und Überzeugungskraft von Freytags "Markus König,"
der dem Verfasser wohl vorgeschwebt hat.

Mit ganz andern Ansprüchen als die bisher genannten Bücher tritt das
jüngste Werk Wilhelm Jensens: Der Hohenstaufen Ausgang. Geschichte
und Dichtung (Dresden und Leipzig, Carl Reißner, 1896) auf. Ja wir müssen
fast um Verzeihung bitten, daß diese ernste und ernstgemeinte Dichtung, soweit


Der verfall des historischen Romans

A. H. Salvandy. Es wäre nicht nötig gewesen, dies Stück Romantik aus
dem Weltwinkel von Bvarn und Navarra, ans dem man ehedem mit Vorliebe
die Operntcxte wählte, für deutsche Leser aufzufrischen. Wenn wir nur ahnen
und vielleicht lernen sollen, „welche ungeahnten Wonnen großangelegte Seelen
in dem Kampfe gegen widrige Schicksalswendungen und bei der Entdeckung
über den Umfang ihrer Kräfte und die Macht ihres Willens empfinden," so
giebt es geschichtliche Stoffe und Schicksale genug, die uns näher liegen und
uns lebendiger ergreifen, als die Grandezza, der Hidalgostolz und das auf¬
gebauschte Gefühl der Schwestern von Mauloon und ihrer spanisch-baskisch-
srauzösischeu Kavaliere.

Daß es freilich der heimatliche Boden und die Zeit allein nicht thun,
zeigt der historische Roman aus der Reformationszeit: Um Glauben und
Glück von Anton Ohorn (Chemnitz, 1896, L. Richters Verlag). Der Ver¬
fasser macht einen ehrlichen und wohlgemeinten Versuch, die chronikalischen
Berichte über die späte Reformation in der Stadt Chemnitz und in dem herzog¬
lichen Sachsen überhaupt mit einer Erfindung zu verbinden, die uns auf dem
lokalen Boden seiner Erzählung und in den Sitten und Empfindungen der
Lebenskreise heimisch machen soll, in denen die Geschichte vor sich geht. Die
Handlung selbst hat einen ziemlich einfachen Verlauf, was kein Vorwurf
wäre, wenn der rechte warme Odem einer Zeit voll heißer Kämpfe, schwerer
Zweifel, gewaltigen Glaubens und kühner Thatkraft hindurchwehte, wenn die
Charaktere von dem großen Zuge der Zeit erfaßt und getrieben wären. Wohl
ist es wahr, daß auch solche Zeit die nüchternen Naturen nur mäßig ergreift
und bewegt, und daß das Alltagsleben seineu Gang weiter geht; aber durch
die Wiedergabe des schon unzähligemal Geschilderten, die Erneuerung von
Figuren, die fast Typen geworden sind, wie die der italienischem Masken¬
komödie, wird kein historischer Roman von wirklich dichterischem Gehalt hervor¬
gebracht. Es sind hübsche Ansätze in Ohorns Erzählung, so der Charakter
des Leinewebers Niklas Schmidt, den es unter die Prädikcmten treibt, die Er¬
zählung von der Aufführung des geistlichen Spiels „Der Sünder in Nöten,"
der letzte Kampf um das Fortbestehen oder die Aufhebung des Barfüßcrklosters
in Chemnitz und manches andre, aber daneben läuft, bis auf die üblichen
Landsknechte, den überlieferten Mordbrenner, den Fahrenden und andre Füll-
figuren, viel zu viel Konventionelles und Unbelebtes mit unter, die Rückwirkung
der Reformation auf Leben und Wesen aller Einzelnen erreicht nicht entfernt
die Unmittelbarkeit und Überzeugungskraft von Freytags „Markus König,"
der dem Verfasser wohl vorgeschwebt hat.

Mit ganz andern Ansprüchen als die bisher genannten Bücher tritt das
jüngste Werk Wilhelm Jensens: Der Hohenstaufen Ausgang. Geschichte
und Dichtung (Dresden und Leipzig, Carl Reißner, 1896) auf. Ja wir müssen
fast um Verzeihung bitten, daß diese ernste und ernstgemeinte Dichtung, soweit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0096" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/224342"/>
          <fw type="header" place="top"> Der verfall des historischen Romans</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_275" prev="#ID_274"> A. H. Salvandy. Es wäre nicht nötig gewesen, dies Stück Romantik aus<lb/>
dem Weltwinkel von Bvarn und Navarra, ans dem man ehedem mit Vorliebe<lb/>
die Operntcxte wählte, für deutsche Leser aufzufrischen. Wenn wir nur ahnen<lb/>
und vielleicht lernen sollen, &#x201E;welche ungeahnten Wonnen großangelegte Seelen<lb/>
in dem Kampfe gegen widrige Schicksalswendungen und bei der Entdeckung<lb/>
über den Umfang ihrer Kräfte und die Macht ihres Willens empfinden," so<lb/>
giebt es geschichtliche Stoffe und Schicksale genug, die uns näher liegen und<lb/>
uns lebendiger ergreifen, als die Grandezza, der Hidalgostolz und das auf¬<lb/>
gebauschte Gefühl der Schwestern von Mauloon und ihrer spanisch-baskisch-<lb/>
srauzösischeu Kavaliere.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_276"> Daß es freilich der heimatliche Boden und die Zeit allein nicht thun,<lb/>
zeigt der historische Roman aus der Reformationszeit: Um Glauben und<lb/>
Glück von Anton Ohorn (Chemnitz, 1896, L. Richters Verlag). Der Ver¬<lb/>
fasser macht einen ehrlichen und wohlgemeinten Versuch, die chronikalischen<lb/>
Berichte über die späte Reformation in der Stadt Chemnitz und in dem herzog¬<lb/>
lichen Sachsen überhaupt mit einer Erfindung zu verbinden, die uns auf dem<lb/>
lokalen Boden seiner Erzählung und in den Sitten und Empfindungen der<lb/>
Lebenskreise heimisch machen soll, in denen die Geschichte vor sich geht. Die<lb/>
Handlung selbst hat einen ziemlich einfachen Verlauf, was kein Vorwurf<lb/>
wäre, wenn der rechte warme Odem einer Zeit voll heißer Kämpfe, schwerer<lb/>
Zweifel, gewaltigen Glaubens und kühner Thatkraft hindurchwehte, wenn die<lb/>
Charaktere von dem großen Zuge der Zeit erfaßt und getrieben wären. Wohl<lb/>
ist es wahr, daß auch solche Zeit die nüchternen Naturen nur mäßig ergreift<lb/>
und bewegt, und daß das Alltagsleben seineu Gang weiter geht; aber durch<lb/>
die Wiedergabe des schon unzähligemal Geschilderten, die Erneuerung von<lb/>
Figuren, die fast Typen geworden sind, wie die der italienischem Masken¬<lb/>
komödie, wird kein historischer Roman von wirklich dichterischem Gehalt hervor¬<lb/>
gebracht. Es sind hübsche Ansätze in Ohorns Erzählung, so der Charakter<lb/>
des Leinewebers Niklas Schmidt, den es unter die Prädikcmten treibt, die Er¬<lb/>
zählung von der Aufführung des geistlichen Spiels &#x201E;Der Sünder in Nöten,"<lb/>
der letzte Kampf um das Fortbestehen oder die Aufhebung des Barfüßcrklosters<lb/>
in Chemnitz und manches andre, aber daneben läuft, bis auf die üblichen<lb/>
Landsknechte, den überlieferten Mordbrenner, den Fahrenden und andre Füll-<lb/>
figuren, viel zu viel Konventionelles und Unbelebtes mit unter, die Rückwirkung<lb/>
der Reformation auf Leben und Wesen aller Einzelnen erreicht nicht entfernt<lb/>
die Unmittelbarkeit und Überzeugungskraft von Freytags &#x201E;Markus König,"<lb/>
der dem Verfasser wohl vorgeschwebt hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_277" next="#ID_278"> Mit ganz andern Ansprüchen als die bisher genannten Bücher tritt das<lb/>
jüngste Werk Wilhelm Jensens: Der Hohenstaufen Ausgang. Geschichte<lb/>
und Dichtung (Dresden und Leipzig, Carl Reißner, 1896) auf. Ja wir müssen<lb/>
fast um Verzeihung bitten, daß diese ernste und ernstgemeinte Dichtung, soweit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0096] Der verfall des historischen Romans A. H. Salvandy. Es wäre nicht nötig gewesen, dies Stück Romantik aus dem Weltwinkel von Bvarn und Navarra, ans dem man ehedem mit Vorliebe die Operntcxte wählte, für deutsche Leser aufzufrischen. Wenn wir nur ahnen und vielleicht lernen sollen, „welche ungeahnten Wonnen großangelegte Seelen in dem Kampfe gegen widrige Schicksalswendungen und bei der Entdeckung über den Umfang ihrer Kräfte und die Macht ihres Willens empfinden," so giebt es geschichtliche Stoffe und Schicksale genug, die uns näher liegen und uns lebendiger ergreifen, als die Grandezza, der Hidalgostolz und das auf¬ gebauschte Gefühl der Schwestern von Mauloon und ihrer spanisch-baskisch- srauzösischeu Kavaliere. Daß es freilich der heimatliche Boden und die Zeit allein nicht thun, zeigt der historische Roman aus der Reformationszeit: Um Glauben und Glück von Anton Ohorn (Chemnitz, 1896, L. Richters Verlag). Der Ver¬ fasser macht einen ehrlichen und wohlgemeinten Versuch, die chronikalischen Berichte über die späte Reformation in der Stadt Chemnitz und in dem herzog¬ lichen Sachsen überhaupt mit einer Erfindung zu verbinden, die uns auf dem lokalen Boden seiner Erzählung und in den Sitten und Empfindungen der Lebenskreise heimisch machen soll, in denen die Geschichte vor sich geht. Die Handlung selbst hat einen ziemlich einfachen Verlauf, was kein Vorwurf wäre, wenn der rechte warme Odem einer Zeit voll heißer Kämpfe, schwerer Zweifel, gewaltigen Glaubens und kühner Thatkraft hindurchwehte, wenn die Charaktere von dem großen Zuge der Zeit erfaßt und getrieben wären. Wohl ist es wahr, daß auch solche Zeit die nüchternen Naturen nur mäßig ergreift und bewegt, und daß das Alltagsleben seineu Gang weiter geht; aber durch die Wiedergabe des schon unzähligemal Geschilderten, die Erneuerung von Figuren, die fast Typen geworden sind, wie die der italienischem Masken¬ komödie, wird kein historischer Roman von wirklich dichterischem Gehalt hervor¬ gebracht. Es sind hübsche Ansätze in Ohorns Erzählung, so der Charakter des Leinewebers Niklas Schmidt, den es unter die Prädikcmten treibt, die Er¬ zählung von der Aufführung des geistlichen Spiels „Der Sünder in Nöten," der letzte Kampf um das Fortbestehen oder die Aufhebung des Barfüßcrklosters in Chemnitz und manches andre, aber daneben läuft, bis auf die üblichen Landsknechte, den überlieferten Mordbrenner, den Fahrenden und andre Füll- figuren, viel zu viel Konventionelles und Unbelebtes mit unter, die Rückwirkung der Reformation auf Leben und Wesen aller Einzelnen erreicht nicht entfernt die Unmittelbarkeit und Überzeugungskraft von Freytags „Markus König," der dem Verfasser wohl vorgeschwebt hat. Mit ganz andern Ansprüchen als die bisher genannten Bücher tritt das jüngste Werk Wilhelm Jensens: Der Hohenstaufen Ausgang. Geschichte und Dichtung (Dresden und Leipzig, Carl Reißner, 1896) auf. Ja wir müssen fast um Verzeihung bitten, daß diese ernste und ernstgemeinte Dichtung, soweit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/96
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/96>, abgerufen am 15.06.2024.