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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr.

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Midaskinder

nobler Herr! Nein, das ist ein guter, treuer Mensch -- von der alten Sorte!
Lädt den alten Belloff ein! Und die junge, liebe Braut -- auch von der alten
Sorte! So giebts heutzutage gar keine Menschen mehr!

Es bleibt dabei -- er ist eingeladen. Aus der Hauptstadt, von Haßlach, von
Remchingen, von Endenbnrg, von da und dorther rollen Wagen heran nach dem
Städtlein, wohin der Wiegandshäuserhof eingepfarrt ist. Ernst wohnt mit andern
Gästen im Rappen und begründet dauernd eine gute Meinung bei Herrn Ohnimus.
Fabricius, der alte Freund des Herrn Emmanuel Narzissus, beherbergt im ge¬
räumigen Hause die Braut und alle die Ihren, am Unterthore aber, bei dein alten
Gottesschauer und seiner hurtiger Schwester wohnen die Eltern Viktors mit dem
Sohne und dem "Herrn Vetter," denn so heißt Allgauer bei den Alten fortan
und auch bei den Jungen, nur das Brautpaar ist ihm in der Anrede näher ge¬
treten, aber sie lieben ihn alle und teilen alle seine Überzeugung, daß er zu ihnen
gehöre und sie zu ihm, und er wird am 3. September den lange heimgegangncn
Großvater Dvrothcens, Ludwig Narzissus Zangkel, an der Seite der grauen Herrin
des Herrenhauses vertreten, und er wird eine Gabe zum Feste bringen, die dem
jungen Paare vielleicht über alle Gaben gehen wird, das Bild des Ahnherrn.

Der 2. September warf Kastanienblätter in Menge auf die Straßen und
Raine, gelbe Lindenblätter wirbelten von hohen Ästen herab und suchten neckisch
den breitrandigen Hut der Braut, da sie mit Viktor langsam die Lindenallee nach
Ratlos und dem Wehrzvllhanse wandelten; holde Worte gingen zwischen ihnen und
Gedanken von zarter, stiller Liebe und das Leben besiegender Lauterkeit woben
schweigend hinüber und herüber. Viktor glaubt schon das ganze Leben vor sich
zu sehen, wie es wird, und Dorothee Hort ihm frohgemut zu.

Aber eins sah er, der Kluge, nicht voraus, eine Überraschung, die Dorothee
für ihn hatte. Herr Belloff leitete sie im rechten Augenblicke ein. Am 3. Sep¬
tember abends, als die Festfreude durch den Saal wogte, erzählte er die Geschichte
seiner drei Verwunderungen und übersah in seinem Eifer, wie groß der Kreis war,
der ihm zuhörte, denn es war niemand da, der seine Art falsch verstanden hätte.

Glaubst du wohl, sagte Viktor zu seiner jungen Frau, daß ich den alten
Belloff auch unter die Midaskinder bringe? -- Nein, ich glaube es nicht, sagte
sie mit einem leuchtenden Lächeln. -- Und warum nicht? -- Du, mein Viktor,
erlebst die Midaskinder, da kommt man nicht zum Schreiben, und andre schreiben
sie. Bei diesen Worten nahm sie neben einem Blumenstöcke, wo sie das Geheimnis
verborgen hatte, ein zierliches Bändchen mit glänzender Goldpressung und schlug
den Titel auf. Viktor las mit einer Verwunderung, die noch über die drei Ver¬
wunderungen des Herrn Belloff hinausging: Midaskinder. Vierzig Umrißzeichnungen
von Philipp säuerlich. Stuttgart, Verlag der I. G. Cottaischen Buchhandlung.




Midaskinder

nobler Herr! Nein, das ist ein guter, treuer Mensch — von der alten Sorte!
Lädt den alten Belloff ein! Und die junge, liebe Braut — auch von der alten
Sorte! So giebts heutzutage gar keine Menschen mehr!

Es bleibt dabei — er ist eingeladen. Aus der Hauptstadt, von Haßlach, von
Remchingen, von Endenbnrg, von da und dorther rollen Wagen heran nach dem
Städtlein, wohin der Wiegandshäuserhof eingepfarrt ist. Ernst wohnt mit andern
Gästen im Rappen und begründet dauernd eine gute Meinung bei Herrn Ohnimus.
Fabricius, der alte Freund des Herrn Emmanuel Narzissus, beherbergt im ge¬
räumigen Hause die Braut und alle die Ihren, am Unterthore aber, bei dein alten
Gottesschauer und seiner hurtiger Schwester wohnen die Eltern Viktors mit dem
Sohne und dem „Herrn Vetter," denn so heißt Allgauer bei den Alten fortan
und auch bei den Jungen, nur das Brautpaar ist ihm in der Anrede näher ge¬
treten, aber sie lieben ihn alle und teilen alle seine Überzeugung, daß er zu ihnen
gehöre und sie zu ihm, und er wird am 3. September den lange heimgegangncn
Großvater Dvrothcens, Ludwig Narzissus Zangkel, an der Seite der grauen Herrin
des Herrenhauses vertreten, und er wird eine Gabe zum Feste bringen, die dem
jungen Paare vielleicht über alle Gaben gehen wird, das Bild des Ahnherrn.

Der 2. September warf Kastanienblätter in Menge auf die Straßen und
Raine, gelbe Lindenblätter wirbelten von hohen Ästen herab und suchten neckisch
den breitrandigen Hut der Braut, da sie mit Viktor langsam die Lindenallee nach
Ratlos und dem Wehrzvllhanse wandelten; holde Worte gingen zwischen ihnen und
Gedanken von zarter, stiller Liebe und das Leben besiegender Lauterkeit woben
schweigend hinüber und herüber. Viktor glaubt schon das ganze Leben vor sich
zu sehen, wie es wird, und Dorothee Hort ihm frohgemut zu.

Aber eins sah er, der Kluge, nicht voraus, eine Überraschung, die Dorothee
für ihn hatte. Herr Belloff leitete sie im rechten Augenblicke ein. Am 3. Sep¬
tember abends, als die Festfreude durch den Saal wogte, erzählte er die Geschichte
seiner drei Verwunderungen und übersah in seinem Eifer, wie groß der Kreis war,
der ihm zuhörte, denn es war niemand da, der seine Art falsch verstanden hätte.

Glaubst du wohl, sagte Viktor zu seiner jungen Frau, daß ich den alten
Belloff auch unter die Midaskinder bringe? — Nein, ich glaube es nicht, sagte
sie mit einem leuchtenden Lächeln. — Und warum nicht? — Du, mein Viktor,
erlebst die Midaskinder, da kommt man nicht zum Schreiben, und andre schreiben
sie. Bei diesen Worten nahm sie neben einem Blumenstöcke, wo sie das Geheimnis
verborgen hatte, ein zierliches Bändchen mit glänzender Goldpressung und schlug
den Titel auf. Viktor las mit einer Verwunderung, die noch über die drei Ver¬
wunderungen des Herrn Belloff hinausging: Midaskinder. Vierzig Umrißzeichnungen
von Philipp säuerlich. Stuttgart, Verlag der I. G. Cottaischen Buchhandlung.




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[0350] Midaskinder nobler Herr! Nein, das ist ein guter, treuer Mensch — von der alten Sorte! Lädt den alten Belloff ein! Und die junge, liebe Braut — auch von der alten Sorte! So giebts heutzutage gar keine Menschen mehr! Es bleibt dabei — er ist eingeladen. Aus der Hauptstadt, von Haßlach, von Remchingen, von Endenbnrg, von da und dorther rollen Wagen heran nach dem Städtlein, wohin der Wiegandshäuserhof eingepfarrt ist. Ernst wohnt mit andern Gästen im Rappen und begründet dauernd eine gute Meinung bei Herrn Ohnimus. Fabricius, der alte Freund des Herrn Emmanuel Narzissus, beherbergt im ge¬ räumigen Hause die Braut und alle die Ihren, am Unterthore aber, bei dein alten Gottesschauer und seiner hurtiger Schwester wohnen die Eltern Viktors mit dem Sohne und dem „Herrn Vetter," denn so heißt Allgauer bei den Alten fortan und auch bei den Jungen, nur das Brautpaar ist ihm in der Anrede näher ge¬ treten, aber sie lieben ihn alle und teilen alle seine Überzeugung, daß er zu ihnen gehöre und sie zu ihm, und er wird am 3. September den lange heimgegangncn Großvater Dvrothcens, Ludwig Narzissus Zangkel, an der Seite der grauen Herrin des Herrenhauses vertreten, und er wird eine Gabe zum Feste bringen, die dem jungen Paare vielleicht über alle Gaben gehen wird, das Bild des Ahnherrn. Der 2. September warf Kastanienblätter in Menge auf die Straßen und Raine, gelbe Lindenblätter wirbelten von hohen Ästen herab und suchten neckisch den breitrandigen Hut der Braut, da sie mit Viktor langsam die Lindenallee nach Ratlos und dem Wehrzvllhanse wandelten; holde Worte gingen zwischen ihnen und Gedanken von zarter, stiller Liebe und das Leben besiegender Lauterkeit woben schweigend hinüber und herüber. Viktor glaubt schon das ganze Leben vor sich zu sehen, wie es wird, und Dorothee Hort ihm frohgemut zu. Aber eins sah er, der Kluge, nicht voraus, eine Überraschung, die Dorothee für ihn hatte. Herr Belloff leitete sie im rechten Augenblicke ein. Am 3. Sep¬ tember abends, als die Festfreude durch den Saal wogte, erzählte er die Geschichte seiner drei Verwunderungen und übersah in seinem Eifer, wie groß der Kreis war, der ihm zuhörte, denn es war niemand da, der seine Art falsch verstanden hätte. Glaubst du wohl, sagte Viktor zu seiner jungen Frau, daß ich den alten Belloff auch unter die Midaskinder bringe? — Nein, ich glaube es nicht, sagte sie mit einem leuchtenden Lächeln. — Und warum nicht? — Du, mein Viktor, erlebst die Midaskinder, da kommt man nicht zum Schreiben, und andre schreiben sie. Bei diesen Worten nahm sie neben einem Blumenstöcke, wo sie das Geheimnis verborgen hatte, ein zierliches Bändchen mit glänzender Goldpressung und schlug den Titel auf. Viktor las mit einer Verwunderung, die noch über die drei Ver¬ wunderungen des Herrn Belloff hinausging: Midaskinder. Vierzig Umrißzeichnungen von Philipp säuerlich. Stuttgart, Verlag der I. G. Cottaischen Buchhandlung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224927/350>, abgerufen am 27.05.2024.