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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Moderne Novellen

einem Volksschriftsteller und einer barmherzigen Schwester als Figuren, es ist
anständig, aber sonst am wenigsten gelungen; der Verfasser ist hier offenbar
aus seiner Rolle gefallen. Vor dem Baude steht die Widmung: "Meinen
verschiednen Stimmungen dankbar zugeeignet." Ist das mehr als litterarische
Pose, so wird schwerlich jemand deu Inhaber der Stimmungen beneiden.

Als "sozialen Roman" bezeichnet sich geradezu Im Abgrund von
Constantin Liebich, aus Feuilletonartikeln umgearbeitet (Berlin, Vater¬
ländische Verlagsanstalt). Ein junger Geschäftsmann kommt ins Unglück,
wird Sozialdemokrat, findet aber zuletzt deu Weg zurück. Das Buch ist vor¬
zugsweise für Volksbibliotheken bestimmt und ernst und gut gemeint. Für
unsern Geschmack ist es zu wenig Kunstwerk, d. h. auch das Häßliche, mit
dem sich ja der Verfasser hauptsächlich abgeben muß, ist zu wenig geläutert,
verarbeitet, zu sehr als Rohstoff hingeworfen und vielleicht doch auch für die
Leser, an die er gedacht hat, nicht in seinem Sinne geeignet. Wir haben in
einer großen Zeitung, die wir persönlich schätzen, eine begeisterte Lobpreisung
des Buches gelesen, die uns von wenig Einsicht zu zeugen schien. Solche
"Besserungsbüchcr," wie wir sie einmal nennen wollen, werden nach unsern
Erfahrungen den Widerwilligen durch die stark aufgetragne Tendenz verstimmen,
den Gleichgiltigen aber und den Halbgeneigten nicht genügend anziehen. Sie
müssen mit viel größerer Kunst geschrieben sein. Ein Volksbuch zu schreiben
ist doch nicht etwa leichter, als ein Buch für feine Leute! -- Für diese ist
ein zierlich ausgestattetes Bündchen mit Abbildungen bestimmt: Der Welt¬
untergang, eine Phantasie aus dem Jahre 1900 von Vincenz Chiavacci
(Stuttgart, Bonz u. Comp.). Eine Humoreske darf man es wohl nennen,
worin verschiedne bedrohliche Merkmale des Naturlebens in eiuer Weise, die
die Spannung steigern soll, ganz zuletzt als Träume eines zur Genesung er¬
wachenden Fieberkranken gezeichnet werden. Die befreiende Lösung schließt
mit einer Vermahnung zum Optimismus. Das Buch ist fein geschrieben, aber
wir fürchten, mancher Leser wird es etwas enttäuscht aus der Hand legen,
weil es "ohne Obst" ist, wie einmal ein Engländer in einem ähnlichen Falle
sagte, als er vergebens nach dem richtigen deutschen Ausdruck suchte.

Wie der Roman von Constantin Liebich geschrieben zu sein scheint für Leute
aus dem Volke, die eigentlich nicht zu lesen Pflegen, so ist ein andrer für feinere
Leser geeignet, die über das Gelesene und seine Möglichkeit nicht weiter nach¬
zudenken Pflegen, wenn es sie nur äußerlich unterhält und innerlich ein wenig
grnseln macht, er hat etwa soviel geschichtliche Wahrheit wie die grausamen
Balladen, die wir als Kinder ans den Jahrmärkten in stiller Wonne singen
hörten, und die Zeichnung und die Farben der Heiligenbilder in Buntdruck,
die wir Wohl uoch in einzelnen Ladenfenstern einer katholischen Stadt sehen,
die aber durchaus nur für die Bewohner der entlegnen Dörfer bestimmt sind.
Wir hätten nicht gedacht, daß es das noch gäbe in der Litteratur, in feiner


Grenzboten III 1W7 g<j
Moderne Novellen

einem Volksschriftsteller und einer barmherzigen Schwester als Figuren, es ist
anständig, aber sonst am wenigsten gelungen; der Verfasser ist hier offenbar
aus seiner Rolle gefallen. Vor dem Baude steht die Widmung: „Meinen
verschiednen Stimmungen dankbar zugeeignet." Ist das mehr als litterarische
Pose, so wird schwerlich jemand deu Inhaber der Stimmungen beneiden.

Als „sozialen Roman" bezeichnet sich geradezu Im Abgrund von
Constantin Liebich, aus Feuilletonartikeln umgearbeitet (Berlin, Vater¬
ländische Verlagsanstalt). Ein junger Geschäftsmann kommt ins Unglück,
wird Sozialdemokrat, findet aber zuletzt deu Weg zurück. Das Buch ist vor¬
zugsweise für Volksbibliotheken bestimmt und ernst und gut gemeint. Für
unsern Geschmack ist es zu wenig Kunstwerk, d. h. auch das Häßliche, mit
dem sich ja der Verfasser hauptsächlich abgeben muß, ist zu wenig geläutert,
verarbeitet, zu sehr als Rohstoff hingeworfen und vielleicht doch auch für die
Leser, an die er gedacht hat, nicht in seinem Sinne geeignet. Wir haben in
einer großen Zeitung, die wir persönlich schätzen, eine begeisterte Lobpreisung
des Buches gelesen, die uns von wenig Einsicht zu zeugen schien. Solche
„Besserungsbüchcr," wie wir sie einmal nennen wollen, werden nach unsern
Erfahrungen den Widerwilligen durch die stark aufgetragne Tendenz verstimmen,
den Gleichgiltigen aber und den Halbgeneigten nicht genügend anziehen. Sie
müssen mit viel größerer Kunst geschrieben sein. Ein Volksbuch zu schreiben
ist doch nicht etwa leichter, als ein Buch für feine Leute! — Für diese ist
ein zierlich ausgestattetes Bündchen mit Abbildungen bestimmt: Der Welt¬
untergang, eine Phantasie aus dem Jahre 1900 von Vincenz Chiavacci
(Stuttgart, Bonz u. Comp.). Eine Humoreske darf man es wohl nennen,
worin verschiedne bedrohliche Merkmale des Naturlebens in eiuer Weise, die
die Spannung steigern soll, ganz zuletzt als Träume eines zur Genesung er¬
wachenden Fieberkranken gezeichnet werden. Die befreiende Lösung schließt
mit einer Vermahnung zum Optimismus. Das Buch ist fein geschrieben, aber
wir fürchten, mancher Leser wird es etwas enttäuscht aus der Hand legen,
weil es „ohne Obst" ist, wie einmal ein Engländer in einem ähnlichen Falle
sagte, als er vergebens nach dem richtigen deutschen Ausdruck suchte.

Wie der Roman von Constantin Liebich geschrieben zu sein scheint für Leute
aus dem Volke, die eigentlich nicht zu lesen Pflegen, so ist ein andrer für feinere
Leser geeignet, die über das Gelesene und seine Möglichkeit nicht weiter nach¬
zudenken Pflegen, wenn es sie nur äußerlich unterhält und innerlich ein wenig
grnseln macht, er hat etwa soviel geschichtliche Wahrheit wie die grausamen
Balladen, die wir als Kinder ans den Jahrmärkten in stiller Wonne singen
hörten, und die Zeichnung und die Farben der Heiligenbilder in Buntdruck,
die wir Wohl uoch in einzelnen Ladenfenstern einer katholischen Stadt sehen,
die aber durchaus nur für die Bewohner der entlegnen Dörfer bestimmt sind.
Wir hätten nicht gedacht, daß es das noch gäbe in der Litteratur, in feiner


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[0473] Moderne Novellen einem Volksschriftsteller und einer barmherzigen Schwester als Figuren, es ist anständig, aber sonst am wenigsten gelungen; der Verfasser ist hier offenbar aus seiner Rolle gefallen. Vor dem Baude steht die Widmung: „Meinen verschiednen Stimmungen dankbar zugeeignet." Ist das mehr als litterarische Pose, so wird schwerlich jemand deu Inhaber der Stimmungen beneiden. Als „sozialen Roman" bezeichnet sich geradezu Im Abgrund von Constantin Liebich, aus Feuilletonartikeln umgearbeitet (Berlin, Vater¬ ländische Verlagsanstalt). Ein junger Geschäftsmann kommt ins Unglück, wird Sozialdemokrat, findet aber zuletzt deu Weg zurück. Das Buch ist vor¬ zugsweise für Volksbibliotheken bestimmt und ernst und gut gemeint. Für unsern Geschmack ist es zu wenig Kunstwerk, d. h. auch das Häßliche, mit dem sich ja der Verfasser hauptsächlich abgeben muß, ist zu wenig geläutert, verarbeitet, zu sehr als Rohstoff hingeworfen und vielleicht doch auch für die Leser, an die er gedacht hat, nicht in seinem Sinne geeignet. Wir haben in einer großen Zeitung, die wir persönlich schätzen, eine begeisterte Lobpreisung des Buches gelesen, die uns von wenig Einsicht zu zeugen schien. Solche „Besserungsbüchcr," wie wir sie einmal nennen wollen, werden nach unsern Erfahrungen den Widerwilligen durch die stark aufgetragne Tendenz verstimmen, den Gleichgiltigen aber und den Halbgeneigten nicht genügend anziehen. Sie müssen mit viel größerer Kunst geschrieben sein. Ein Volksbuch zu schreiben ist doch nicht etwa leichter, als ein Buch für feine Leute! — Für diese ist ein zierlich ausgestattetes Bündchen mit Abbildungen bestimmt: Der Welt¬ untergang, eine Phantasie aus dem Jahre 1900 von Vincenz Chiavacci (Stuttgart, Bonz u. Comp.). Eine Humoreske darf man es wohl nennen, worin verschiedne bedrohliche Merkmale des Naturlebens in eiuer Weise, die die Spannung steigern soll, ganz zuletzt als Träume eines zur Genesung er¬ wachenden Fieberkranken gezeichnet werden. Die befreiende Lösung schließt mit einer Vermahnung zum Optimismus. Das Buch ist fein geschrieben, aber wir fürchten, mancher Leser wird es etwas enttäuscht aus der Hand legen, weil es „ohne Obst" ist, wie einmal ein Engländer in einem ähnlichen Falle sagte, als er vergebens nach dem richtigen deutschen Ausdruck suchte. Wie der Roman von Constantin Liebich geschrieben zu sein scheint für Leute aus dem Volke, die eigentlich nicht zu lesen Pflegen, so ist ein andrer für feinere Leser geeignet, die über das Gelesene und seine Möglichkeit nicht weiter nach¬ zudenken Pflegen, wenn es sie nur äußerlich unterhält und innerlich ein wenig grnseln macht, er hat etwa soviel geschichtliche Wahrheit wie die grausamen Balladen, die wir als Kinder ans den Jahrmärkten in stiller Wonne singen hörten, und die Zeichnung und die Farben der Heiligenbilder in Buntdruck, die wir Wohl uoch in einzelnen Ladenfenstern einer katholischen Stadt sehen, die aber durchaus nur für die Bewohner der entlegnen Dörfer bestimmt sind. Wir hätten nicht gedacht, daß es das noch gäbe in der Litteratur, in feiner Grenzboten III 1W7 g<j

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/473>, abgerufen am 22.05.2024.