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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr.

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Kornpreise und Industrie

Wicklung, als zu erstrebendes Muster vorhalten. Nach "fachmännischer An¬
schauung" haben "die Getreidezölle die Entwicklung der deutschen Landwirtschaft
aufgehalten, den bereits 1879 zeitgemäßen Übergang vom Körnerbau zu andern
Betriebsweisen um ein Jahrzehnt verzögert" (Lotz, i. I. Z892). Zeitgemäß
also wäre es, wenn unsre Landwirtschaft aufhörte, Korn zu bauen, und uns
statt dessen mit Gemüse, Fleisch, Tabak, kurz mit Dingen versorgte, die für
wohlhabende Leute zwar eine Sache des Bedürfnisses sind, niemals aber die
Ernährung des Volkes sichern können, ja auch niemals in ihrem Nährwert
gleich billig wie das Brvtkorn hergestellt werden können. Und wenn man sich
vorstellt, daß diese Billigkeit durch die Konkurrenz erzwungen werden könnte,
dann wäre unsre Landwirtschaft erst recht ruinirt. Wer würde denn allen
Kohl essen, allen Branntwein trinken, allen Tabak rauchen, die der deutsche
Ackerbau liefern müßte, wenn er sich nach diesem agraren Ideal umgewandelt
hätte? Es ist wieder ein echtes Produkt unsrer alten Stubengelahrtheit, diese
Verwandlung des Kornbaues in industriellen Ackerbau und Gartenbau zu
predigen, die vielleicht die unheilvolle Folge der Not, nie aber ein erwünschtes
Ziel der Volkswirtschaft sein kann.

Ich verkenne gewiß nicht, daß es unmöglich ist, die Tonne Weizen bei
uns künstlich auf 250 Mark zu halten, während sich der Preis auf dem Welt¬
markt dauernd Jahre und Jahrzehnte lang unter 200 Mark festsetzt. Aber
man kann sich bemühen, daß sich der Ackerbau durch Schutz laugsam an die
niedern Preise gewöhne, und man kann dabei abwarten, ob sich denn wirklich
die niedern Preise auch als dauernd erweisen werden. Es ist möglich, daß
wir in einer vorübergehenden Periode des Kornüberflusscs sind. In Indien
beginnt das Volk Weizen statt Reis zu essen; Amerika bevölkert sich immer
mehr; die Weizenflächen mit extensiver Steppenwirtschaft, die hauptsächlich die
Mörder der intensiven und teuern Wirtschaft Europas sind, werden den Raubbau
nicht in alle Ewigkeit ertragen. Wenn die Ebenen Rußlands, Ungarns,
Amerikas nicht mehr ohne Dung Weizen werden wachsen lassen, wird seine
Erzeugung dort so teuer werden, daß unsre Äcker Wohl die Konkurrenz wieder
werden aufnehmen können. Die Volksvermehrung in jenen Ländern vermindert
allmählich die Ausfuhr der Körner. Kurz, es können auch einmal wieder dauernd
höhere Preise auf den Weltmarkt gelangen, und wir haben auch von diesem
Gesichtspunkt aus ein Interesse, die zahlreiche Klasse unsrer Kvrnbauer nicht
einer vielleicht nur kurzen Konjunktur niedriger Preise zu opfern.

Vor allem aber sollte man sich bei uns darüber klar werden, wohin wir
gehen. Wenn wir uns nun einmal weiter zum Judustrievolk auswachsen
sollen, so sollten wir es mit der weit voraussehenden Politik Englands thun,
das sich seit Jahrhunderten überall in der Welt seine festen Burgen zum
Schutz seiner Ausfuhr erbaut hat, die es durch eine gewaltige Flotte unter¬
stützt. Wir thun heute, als ob wir ein Belgien wären, das klein genug ist,


Kornpreise und Industrie

Wicklung, als zu erstrebendes Muster vorhalten. Nach „fachmännischer An¬
schauung" haben „die Getreidezölle die Entwicklung der deutschen Landwirtschaft
aufgehalten, den bereits 1879 zeitgemäßen Übergang vom Körnerbau zu andern
Betriebsweisen um ein Jahrzehnt verzögert" (Lotz, i. I. Z892). Zeitgemäß
also wäre es, wenn unsre Landwirtschaft aufhörte, Korn zu bauen, und uns
statt dessen mit Gemüse, Fleisch, Tabak, kurz mit Dingen versorgte, die für
wohlhabende Leute zwar eine Sache des Bedürfnisses sind, niemals aber die
Ernährung des Volkes sichern können, ja auch niemals in ihrem Nährwert
gleich billig wie das Brvtkorn hergestellt werden können. Und wenn man sich
vorstellt, daß diese Billigkeit durch die Konkurrenz erzwungen werden könnte,
dann wäre unsre Landwirtschaft erst recht ruinirt. Wer würde denn allen
Kohl essen, allen Branntwein trinken, allen Tabak rauchen, die der deutsche
Ackerbau liefern müßte, wenn er sich nach diesem agraren Ideal umgewandelt
hätte? Es ist wieder ein echtes Produkt unsrer alten Stubengelahrtheit, diese
Verwandlung des Kornbaues in industriellen Ackerbau und Gartenbau zu
predigen, die vielleicht die unheilvolle Folge der Not, nie aber ein erwünschtes
Ziel der Volkswirtschaft sein kann.

Ich verkenne gewiß nicht, daß es unmöglich ist, die Tonne Weizen bei
uns künstlich auf 250 Mark zu halten, während sich der Preis auf dem Welt¬
markt dauernd Jahre und Jahrzehnte lang unter 200 Mark festsetzt. Aber
man kann sich bemühen, daß sich der Ackerbau durch Schutz laugsam an die
niedern Preise gewöhne, und man kann dabei abwarten, ob sich denn wirklich
die niedern Preise auch als dauernd erweisen werden. Es ist möglich, daß
wir in einer vorübergehenden Periode des Kornüberflusscs sind. In Indien
beginnt das Volk Weizen statt Reis zu essen; Amerika bevölkert sich immer
mehr; die Weizenflächen mit extensiver Steppenwirtschaft, die hauptsächlich die
Mörder der intensiven und teuern Wirtschaft Europas sind, werden den Raubbau
nicht in alle Ewigkeit ertragen. Wenn die Ebenen Rußlands, Ungarns,
Amerikas nicht mehr ohne Dung Weizen werden wachsen lassen, wird seine
Erzeugung dort so teuer werden, daß unsre Äcker Wohl die Konkurrenz wieder
werden aufnehmen können. Die Volksvermehrung in jenen Ländern vermindert
allmählich die Ausfuhr der Körner. Kurz, es können auch einmal wieder dauernd
höhere Preise auf den Weltmarkt gelangen, und wir haben auch von diesem
Gesichtspunkt aus ein Interesse, die zahlreiche Klasse unsrer Kvrnbauer nicht
einer vielleicht nur kurzen Konjunktur niedriger Preise zu opfern.

Vor allem aber sollte man sich bei uns darüber klar werden, wohin wir
gehen. Wenn wir uns nun einmal weiter zum Judustrievolk auswachsen
sollen, so sollten wir es mit der weit voraussehenden Politik Englands thun,
das sich seit Jahrhunderten überall in der Welt seine festen Burgen zum
Schutz seiner Ausfuhr erbaut hat, die es durch eine gewaltige Flotte unter¬
stützt. Wir thun heute, als ob wir ein Belgien wären, das klein genug ist,


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[0018] Kornpreise und Industrie Wicklung, als zu erstrebendes Muster vorhalten. Nach „fachmännischer An¬ schauung" haben „die Getreidezölle die Entwicklung der deutschen Landwirtschaft aufgehalten, den bereits 1879 zeitgemäßen Übergang vom Körnerbau zu andern Betriebsweisen um ein Jahrzehnt verzögert" (Lotz, i. I. Z892). Zeitgemäß also wäre es, wenn unsre Landwirtschaft aufhörte, Korn zu bauen, und uns statt dessen mit Gemüse, Fleisch, Tabak, kurz mit Dingen versorgte, die für wohlhabende Leute zwar eine Sache des Bedürfnisses sind, niemals aber die Ernährung des Volkes sichern können, ja auch niemals in ihrem Nährwert gleich billig wie das Brvtkorn hergestellt werden können. Und wenn man sich vorstellt, daß diese Billigkeit durch die Konkurrenz erzwungen werden könnte, dann wäre unsre Landwirtschaft erst recht ruinirt. Wer würde denn allen Kohl essen, allen Branntwein trinken, allen Tabak rauchen, die der deutsche Ackerbau liefern müßte, wenn er sich nach diesem agraren Ideal umgewandelt hätte? Es ist wieder ein echtes Produkt unsrer alten Stubengelahrtheit, diese Verwandlung des Kornbaues in industriellen Ackerbau und Gartenbau zu predigen, die vielleicht die unheilvolle Folge der Not, nie aber ein erwünschtes Ziel der Volkswirtschaft sein kann. Ich verkenne gewiß nicht, daß es unmöglich ist, die Tonne Weizen bei uns künstlich auf 250 Mark zu halten, während sich der Preis auf dem Welt¬ markt dauernd Jahre und Jahrzehnte lang unter 200 Mark festsetzt. Aber man kann sich bemühen, daß sich der Ackerbau durch Schutz laugsam an die niedern Preise gewöhne, und man kann dabei abwarten, ob sich denn wirklich die niedern Preise auch als dauernd erweisen werden. Es ist möglich, daß wir in einer vorübergehenden Periode des Kornüberflusscs sind. In Indien beginnt das Volk Weizen statt Reis zu essen; Amerika bevölkert sich immer mehr; die Weizenflächen mit extensiver Steppenwirtschaft, die hauptsächlich die Mörder der intensiven und teuern Wirtschaft Europas sind, werden den Raubbau nicht in alle Ewigkeit ertragen. Wenn die Ebenen Rußlands, Ungarns, Amerikas nicht mehr ohne Dung Weizen werden wachsen lassen, wird seine Erzeugung dort so teuer werden, daß unsre Äcker Wohl die Konkurrenz wieder werden aufnehmen können. Die Volksvermehrung in jenen Ländern vermindert allmählich die Ausfuhr der Körner. Kurz, es können auch einmal wieder dauernd höhere Preise auf den Weltmarkt gelangen, und wir haben auch von diesem Gesichtspunkt aus ein Interesse, die zahlreiche Klasse unsrer Kvrnbauer nicht einer vielleicht nur kurzen Konjunktur niedriger Preise zu opfern. Vor allem aber sollte man sich bei uns darüber klar werden, wohin wir gehen. Wenn wir uns nun einmal weiter zum Judustrievolk auswachsen sollen, so sollten wir es mit der weit voraussehenden Politik Englands thun, das sich seit Jahrhunderten überall in der Welt seine festen Burgen zum Schutz seiner Ausfuhr erbaut hat, die es durch eine gewaltige Flotte unter¬ stützt. Wir thun heute, als ob wir ein Belgien wären, das klein genug ist,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_226231/18>, abgerufen am 19.05.2024.